Beschluss vom Verwaltungsgericht Aachen - 4 L 1081/19
Tenor
1.Dem Antragsgegner wird im Wege einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO untersagt, den Antragsteller abzuschieben, bis er den Antrag des Antragstellers vom 31. Juli 2019 vollständig beschieden hat.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens tragen der Antragsteller zu 2/3 und der Antragsgegner zu 1/3.
2.Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 1.250,- € festgesetzt.
1
Gründe:
2I. Der Antrag,
3vorläufig festzustellen, dass der Antragsteller wegen eines von seinem deutschen Kind abgeleiteten Freizügigkeitsrechts nicht ausreisepflichtig ist,
4hilfsweise,
5den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO vorläufig zu verpflichten, dem Antragsteller eine Aufenthaltskarte analog § 5 Abs. 1 FreizügG/EU oder eine Antragsbescheinigung analog § 5 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU auszustellen,
6weiter hilfsweise,
7den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO zu verpflichten, den Antragsteller vorläufig nicht abzuschieben,
8hat nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
91. Der auf eine vorläufige Feststellung gemäß § 123 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) gerichtete Hauptantrag ist jedenfalls unbegründet.
10Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn der Antragsteller glaubhaft macht, dass ihm ein Anspruch auf die begehrte Handlung zusteht (Anordnungsanspruch) und dass die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Anordnungsgrund), vgl. § 123 Abs. 1 und 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 der Zivilprozessordnung (ZPO).
11Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Die begehrte Feststellung ist nicht zu treffen, da der Antragsteller nicht freizügigkeitsberechtigt ist.
12Ein solches Freizügigkeitsrecht ergibt sich nicht aus dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU).
13Nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU haben freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe des FreizügG/EU. Nach Abs. 2 sind die dort aufgeführten Personengruppen unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt. Die Ziffern 1 bis 5 setzen jeweils den Status als Unionsbürger, Ziffer 7 setzt ein Daueraufenthaltsrecht voraus. Nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU sind Familienangehörige unter den Voraussetzungen der §§ 3 und 4 FreizügG/EU selbst freizügigkeitsberechtigt. Nach § 3 Abs. 2 FreizügG/EU sind dies zum einen der Ehegatte, der Lebenspartner und die Verwandten in gerader absteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 und 7 FreizügG/EU genannten Personen oder ihrer Ehegatten oder Lebenspartner, die noch nicht 21 Jahre alt sind, sowie die Verwandten in gerader aufsteigender und in gerader absteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 und 7 genannten Personen oder ihrer Ehegatten oder Lebenspartner, denen diese Personen oder ihre Ehegatten oder Lebenspartner Unterhalt gewähren. Durch § 3 Abs. 2 FreizügG/EU wird der Begriff des "Familienangehörigen" für das gesamte FreizügG/EU einheitlich bestimmt,
14vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 25. Oktober 2017 - 1 C 34.16 - juris, Rn. 12, dem zufolge die Definition den Anwendungsbereich des FreizügG/EU bestimmt; Tewocht, in: Kluth/Heusch (Hrsg.), BeckOK Ausländerrecht (Stand: November 2019), § 3 FreizügG/EU Rn. 11.
15Ehepartner kann nur sein, wer durch das formelle Band der Ehe verbunden ist,
16vgl. BVerwG, Urteil vom 28. März 2019 - 1 C 9.18 - juris, Rn. 12 ff.: Im Falle einer Scheidung entfällt das Aufenthaltsrecht.
17Unter Berücksichtigung dieser Kriterien ist nicht festzustellen, dass der Antragsteller zum Kreis der Freizügigkeitsberechtigten gehört. Als serbischer oder kosovarischer Staatsangehöriger ist er selbst kein Unionsbürger. Er ist auch weder Familienangehöriger seiner deutschen Lebensgefährtin noch des im Mai 2019 geborenen gemeinsamen Kindes. Er ist nicht Familienangehöriger seiner Lebensgefährtin, da er mit dieser weder verheiratet, noch in gerader aufsteigender oder absteigender Linie verwandt ist. Und auch von dem erst im Jahr 2019 geborenen gemeinsamen Kind kann er unabhängig davon, ob das Kind als Person i. S. d. § 2 Abs. 2 FreizügG/EU angesehen werden kann, kein Freizügigkeitsrecht ableiten, da es ihm keinen Unterhalt gewährt.
18Der Antragsteller kann ein Freizügigkeitsrecht auch nicht im Wege der unmittelbaren Anwendung der Richtlinie Nr. 2004/38/EG vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, (Freizügigkeitsrichtlinie - FreizügRL) herleiten.
19Unabhängig von den Voraussetzungen für eine unmittelbare Anwendung von Richtlinien,
20vgl. statt vieler: Europäischer Gerichtshof (EuGH), Urteil vom 5. Oktober 2004 – C-397/01 bis C-403/01 – juris, Rn. 102 ff.,
21gewährt ihm Art. 3 FreizügRL ein solches Recht nicht.
22Danach gilt die FreizügRL für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Art. 2 Nr. 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen. Gemäß Art. 2 Nr. 1 FreizügRL ist „Unionsbürger“ jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt. Art. 3 Abs. 1 FreizügRL regelt allein die Voraussetzungen, unter denen ein Unionsbürger in andere Mitgliedstaaten als in den seiner eigenen Staatsangehörigkeit einreisen und sich dort aufhalten darf. Auf ihn kann grundsätzlich kein abgeleitetes Recht der Drittstaatsangehörigen, die Familienangehörige eines Unionsbürgers sind, auf Aufenthalt in dem Mitgliedstaat gestützt werden, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt,
23vgl. EuGH, Urteile vom 12. Juli 2018 – C-89/17 – Rozanne Banger, juris, Rn. 23 und vom 14. November 2017 – C-165/16 – Lounes, juris, Rn. 33 ff. jeweils m. w. N.
24Ein entsprechendes Recht ist allenfalls dann anzuerkennen, wenn der Unionsbürger sein Freizügigkeitsrecht ausgeübt und in einem anderen Mitgliedstaat ein Familienleben mit einem Drittstaatsangehörigen entwickelt und gefestigt hat, das er im Staat seiner Staatsangehörigkeit fortführen will,
25vgl. EuGH, Urteil vom 14. November 2017 – C-165/16 – Lounes, juris, Rn. 45 ff., 61; siehe auch Urteile vom 27. Juni 2018 – C-230/17 – Altiner u.a., juris, Rn. 26, vom 5. Juni 2018 – C-673/16 – Coman und Hamilton, juris, Rn. 23 ff.
26Der Antragsteller, der selbst nicht Unionsbürger ist, kann auch nach dieser unionsrechtlichen Definition nicht als Familienangehöriger seiner Lebensgefährtin angesehen werden, da er mit dieser nicht verheiratet ist. Sein Sohn, der die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, wurde im Bundesgebiet geboren und es ist nichts dafür ersichtlich, dass er bislang von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat.
27Auch aus Art. 20 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) kann der Antragsteller kein Freizügigkeitsrecht ableiten.
28Dabei verkennt die Kammer nicht, dass nach Aktenlage überwiegendes dafür spricht, dass ihm aufgrund dieser Rechtsgrundlage bis auf Weiteres ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet zusteht. Dieses Aufenthaltsrecht rechtfertigt jedoch nicht die vom Antragsteller begehrte Feststellung, diese Rechtsfolge folge aus einem ihm zustehenden Freizügigkeitsrecht. Die Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft verleihen Drittstaatsangehörigen keine eigenständigen Rechte, sondern diese werden aus den Rechten des Unionsbürgers abgeleitet. Ihr Zweck und ihre Rechtsfertigung beruhen auf der Feststellung, dass ihre Nichtanerkennung den Unionsbürger insbesondere in seiner Freizügigkeit beeinträchtigen könnte,
29vgl. EuGH, Urteil vom 13. September 2016 – C-165/14 – Rendón Marín, juris, Rn. 73.
30Ein eigenes Freizügigkeitsrecht, dessen Ausübung durch die FreizügRL und das FreizügG/EU erleichtert werden soll (vgl. Art. 21 Abs. 2 AEUV), steht dem Antragsteller insoweit nicht zu.
312. Auch der erste Hilfsantrag bleibt ohne Erfolg, da auch er jedenfalls unbegründet ist. Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Er hat weder einen Anspruch auf die Ausstellung einer Aufenthaltskarte gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU noch einer Antragsbescheinigung gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU.
32Gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU wird freizügigkeitsberechtigten Familienangehörigen, die nicht Unionsbürger sind, von Amts wegen innerhalb von sechs Monaten, nachdem sie die erforderlichen Angaben gemacht haben, eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern ausgestellt, die fünf Jahre gültig sein soll. Nach Satz 2 erhält der Familienangehörige unverzüglich eine Bescheinigung darüber, dass die erforderlichen Angaben gemacht worden sind.
33Diese Voraussetzungen erfüllt der Antragsteller – der auch lediglich eine analoge Anwendung dieser Vorschriften annimmt – nicht, da er nicht Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist. Insoweit kann auf die obigen Ausführungen verwiesen werden. Auch eine analoge Anwendung kommt nicht in Betracht. Zwar spricht nach Aktenlage überwiegendes dafür, dass der Antragsteller von seinem Sohn ein Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV ableiten kann. Zum Nachweis dieses Rechts dient jedoch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Bescheinigung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts eigener Art, wie sie in § 4 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) für das Bestehen eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts vorgesehen ist,
34vgl. Urteil vom 12. Juli 2018 – 1 C 16.17 – juris, Rn. 36; so auch Verwaltungsgericht (VG) Berlin, Urteil vom 14. Januar 2020 – VG 21 K 189.19 – juris, Rn. 15.
353. Der weitere zulässige Hilfsantrag gemäß § 123 Abs. 1 VwGO ist begründet.
36Ein Anordnungsgrund liegt vor. Der Antragsgegner hat bislang nicht zu erkennen gegeben, dass er von einer Abschiebung des Antragstellers jedenfalls bis zu einer Entscheidung über dessen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bzw. Ausstellung eines Dokuments, durch das ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht bescheinigt wird, absehen wird. Die Angabe, aufenthaltsbeendende Maßnahmen seien bislang nicht beabsichtigt, genügt insoweit nicht. Sie lässt den Antragsteller im Unklaren darüber, ob und ggf. wann der Antragsgegner seine Abschiebung zukünftig betreiben wird.
37Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Zwar ist offen, ob er einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat. Nach einer der Kammer allein möglichen summarischen Prüfung spricht jedoch überwiegendes dafür, dass jedenfalls Art. 20 AEUV einer zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung einstweilen entgegensteht.
38Die Kammer kann nicht abschließend beurteilen, ob der Antragsteller gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat. Nach dieser Vorschrift ist dem ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge die Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn der Deutsche seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. Diese Voraussetzungen dürften erfüllt sein. Der am 00.00.2019 in N. geborene Sohn des Antragstellers ist deutscher Staatsangehöriger. Ausweislich der zu den Akten gereichten Urkunden des Standesamts N. vom 7. August 2019 und des Antragsgegners vom 27. August 2019 hat der Antragsteller die Vaterschaft anerkannt und eine Sorgeerklärung gemäß § 1626a BGB abgegeben. Zudem lebt er mit seinem Sohn in der Wohnung seiner Lebensgefährtin unter der im Rubrum genannten Anschrift zusammen.
39Der Antragsgegner wird jedoch zu klären haben, ob auch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG erfüllt sind. Dies ist nach Aktenlage offen, da der Antragsteller insbesondere nicht über einen gültigen Nationalpass verfügt und nicht mit dem gemäß § 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG erforderlichen nationalen Visum eingereist ist. Die Frage, ob ihm zur Erfüllung der Pass- und Visumpflicht abverlangt werden kann, in sein Heimatland zurückzukehren und dort vor einer erneuten Einreise das Nötige zu veranlassen, dürfte entscheidend davon abhängen, wie viel Zeit diese Schritte in Anspruch nehmen werden, wie lange er mithin von seinem Sohn getrennt sein wird. Grundsätzlich kann bereits eine verhältnismäßig kurze Trennung eines Ausländers von seinem Kleinkind, mit dem er in familiärer Lebensgemeinschaft lebt, unzumutbar sein. Dem liegt zugrunde, dass gerade kleine Kinder den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung nicht begreifen können und eine solche rasch als endgültigen Verlust erfahren,
40vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Juni 2013 – 2 BvR 586/13 – juris, Rn. 14; OVG Münster, Beschluss vom 5. Dezember 2011 – 18 B 910/11 – juris, Rn. 29 ff.
41Es erscheint im Übrigen nicht ausgeschlossen, dass die Zeit des Aufenthalts im Heimatland durch die Abgabe einer Vorabzustimmung gemäß § 31 Abs. 3 AufenthV durch den Antragsteller auf das zumutbare Maß verkürzt werden kann.
42Für den Fall, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht in Betracht kommt, geht die Kammer nach Lage der Akten und vorbehaltlich weiterer Sachverhaltsaufklärung durch den Antragsgegner davon aus, dass jedenfalls Art. 20 AEUV einer Abschiebung des Antragstellers einstweilen entgegensteht,
43vgl. zur Nachrangigkeit dieses Aufenthaltsrechts gegenüber dem nationalen Recht auf Familienzusammenführung: EuGH, Urteil vom 27. Februar 2020 – C-836/18 – juris, Rn. 42; ähnlich wohl auch BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2018 – 1 C 16.17 – juris, Rn. 36.
44Gemäß Art. 20 Abs. 1 AEUV besitzt jeder Staatsangehörige eines Mitliedstaates zugleich die Unionsbürgerschaft. Der Unionsbürgerstatus ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein. Er steht nationalen Maßnahmen entgegen, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen ihr Status verleiht, verwehrt wird. Gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 1 AEUV haben die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten. Sie haben unter anderem das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Freizügigkeitsrecht), Art. 20 Abs. 2 Satz 2 lit. a), 21 AEUV. Auf dieses Recht kann sich ein Unionsbürger auch gegenüber seinem eigenen Herkunftsstaat berufen,
45vgl. EuGH, Urteile vom 8. März 2011 – C-34/09 – Ruiz Zambrano, juris, Rn. 40 ff., und vom 5. Mai 2011 – C-434/09 – McCarthy, juris, Rn. 47 f.
46Ein Unionsbürger soll sich nicht de facto gezwungen sehen, das Gebiet der Europäischen Union als Ganzes zu verlassen. Eine solche faktische Zwangswirkung kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs entstehen, wenn zwischen einem Unionsbürger und einem Drittstaatsangehörigen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, und dem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht im Gebiet der Europäischen Union verweigert wird. Ein solcher Fall kann dazu führen, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, den Drittstaatsangehörigen zu begleiten und das Unionsgebiet zu verlassen. Insoweit ist anerkannt, dass es ganz besondere Sachverhalte gibt, in denen einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, ein Aufenthaltsrecht eingeräumt werden muss,
47vgl. aus jüngerer Zeit: EuGH, Urteil vom 8. Mai 2018 – C-82/16 – juris, Rn. 51 ff. m. w. N. Dabei wird der überwiegende Teil der möglichen Fallgestaltungen bereits von der FreizügRL erfasst sein. Hat der Unionsbürger von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht, kommt Art. 21 AEUV unmittelbar zu Anwendung. Nur wenn der Unionsbürger seinen Heimatstaat nicht verlassen hat, muss auf Art. 20 AEUV zurückgegriffen werden.
48Handelt es sich bei dem Unionsbürger – wie im vorliegenden Fall – um einen Minderjährigen, muss der Feststellung eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem Kind und dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit im Interesse des Kindeswohls die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zugrunde liegen. Dazu zählen neben der Frage, wer das Sorgerecht und die rechtliche, finanzielle oder affektive Sorge für das Kind ausübt,
49vgl. EuGH, Urteil vom 10. Mai 2017 – C-133/15 – Chavez-Vilchez u.a., juris, Rn. 68 m. w. N.,
50insbesondere das Alter des Kindes, seine körperliche und emotionale Entwicklung, der Grad seiner affektiven Bindung sowohl an den Elternteil, der Unionsbürger ist, als auch an den Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit und das Risiko, das mit der Trennung von Letzterem für das innere Gleichgewicht des Kindes verbunden wäre,
51vgl. EuGH, Urteil vom 8. Mai 2018 – C-82/16 – juris, Rn. 72.
52Auch der Umstand, dass der Drittstaatsangehörige mit dem minderjährigen Kind zusammenlebt, gehört zu den relevanten Gesichtspunkten, ohne jedoch eine notwendige Bedingung dafür darzustellen,
53vgl. EuGH, Urteil vom 6. Dezember 2012 – C-356/11 und C-357/11 – juris, Rn. 54.
54Hingegen rechtfertigt die bloße Tatsache, dass es für einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Unionsgebiet wünschenswert erscheinen könnte, dass sich Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, mit ihm zusammen im Unionsgebiet aufhalten können, für sich genommen nicht die Annahme, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, das Unionsgebiet zu verlassen, wenn kein Aufenthaltsrecht gewährt würde,
55vgl. EuGH, Urteile vom 8. Mai 2018 – C-82/16 – juris, Rn. 74 und vom 15. November 2011 – C-256/11 – Dereci u. a., juris, Rn. 68.
56Ohne Belang ist im Übrigen, ob sich das drittstaatsangehörige Elternteil Unionsbürgers, dem aufgrund der Verbundenheit zu dem Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht zuzuerkennen ist, zum Zeitpunkt der Geburt des Unionsbürgerkindes illegal im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhielt,
57vgl. EuGH, Urteil vom 8. Mai 2018 – C-82/16 – juris, Rn. 80.
58Die gilt auch, wenn der Drittstaatsangehörige mit seiner Einreise gegen ein Einreise- und Aufenthaltsverbot verstoßen hat. Zwar darf die Weigerung eines Drittstaatsangehörigen, der Rückkehrverpflichtung nachzukommen und im Rahmen eines Abschiebungsverfahrens zu kooperieren, es ihm nicht ermöglichen, sich den Rechtswirkungen eines Einreiseverbots ganz oder teilweise zu entziehen. Die zuständige nationale Behörde, bei der ein Drittstaatsangehöriger einen Antrag auf Gewährung eines Aufenthaltsrechts zum Zwecke einer Familienzusammenführung mit einem Unionsbürger stellt, der Staatsangehöriger des betreffenden Mitgliedstaats ist, muss jedoch prüfen, ob zwischen dem betreffenden Drittstaatsangehörigen und dem betreffenden Unionsbürger ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, sodass der Unionsbürger gezwungen wäre, das Unionsgebiet als Ganzes (mit dem Drittstaatsangehörigen) zu verlassen. Ist dies der Fall, muss der betreffende Mitgliedstaat die gegen den Drittstaatsangehörigen ergangene Rückkehrentscheidung und das ihm auferlegte Einreiseverbot aufheben,
59vgl. EuGH, Urteil vom 8. Mai 2018 – C-82/16 – juris, Rn. 57.
60Unter Berücksichtigung dieser Kriterien spricht nach Aktenlage und bei Zugrundelegung des Vortrags des Antragstellers, dem der Antragsgegner bislang nicht entgegengetreten ist, überwiegendes dafür, dass zwischen ihm und seinem am 00.00.2019 in N. geborenen Sohn ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das dem Sohn dem faktische Zwang aussetzen könnte, das Unionsgebiet als Ganzes zu verlassen, um ihm in den Kosovo zu folgen. Der Antragsteller hat die Vaterschaft anerkannt, die Sorgeerklärung abgegeben und lebt mit seinem Sohn und der Kindesmutter in einer Wohnung zusammen. Im Übrigen kann zur Vermeidung von Wiederholungen auf die obigen Ausführungen zur Zumutbarkeit einer vorrübergehenden Ausreise des Antragstellers verwiesen.
61Hinsichtlich des Inhalts der einstweiligen Anordnung übt die Kammer das ihr gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 938 ZPO obliegende Ermessen in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aus. Die zeitliche Beschränkung der gerichtlichen Anordnung auf die Dauer des bei dem Antragsgegner anhängigen Verwaltungsverfahrens erscheint vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen und des Aufklärungsbedarfs erforderlich aber auch ausreichend.
62Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
63II. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1 und § 52 Abs. 1 GKG.
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Referenzen
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