Beschluss vom Verwaltungsgericht Aachen - 1 L 820/20
Tenor
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin bis zum 30. Juni 2021 Hilfe zur Beratung und Unterstützung bei der Ausübung des Umgangsrechts in Gestalt der Gewährung einer Umgangsbegleitung für die nach Maßgabe der familiengerichtlichen Regelung durchzuführenden Kontakte der Antragstellerin zu ihrer Tochter - 14-tägig mittwochs von 14 bis 17 Uhr - zu gewähren.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, in dem Gerichtskosten nicht erhoben werden.
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G r ü n d e :
2Der dem Entscheidungssatz sinngemäß entsprechende, statthafte und auch im übrigen zulässige Antrag hat Erfolg.
3Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes treffen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Erforderlich ist die Glaubhaftmachung sowohl eines Anordnungsanspruches als auch eines Anordnungsgrundes. Davon kann hier jedenfalls bis zur Jahresmitte 2021 ausgegangen werden.
4Zwar soll grundsätzlich wegen des vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung die endgültige Entscheidung der Hauptsache nicht vorweggenommen werden; eine solche Vorwegnahme tritt mit der begehrten Regelung - zeitlich befristet - allerdings ein. Wegen des Gebots des Art. 19 Abs. 4 GG, effektiven Rechtschutz zu gewähren, kommt aber eine Ausnahme von diesem Grundsatz in Betracht, wenn ohne die begehrte Anordnung schwere und unzumutbare, später nicht wieder gutzumachende Nachteile entstünden, zu deren Beseitigung eine nachfolgende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre.
5Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27. Januar 2014 - 12 B 1422/13 -, m.w.N.; BVerfG, Beschluss vom 25. Oktober 1988 - 2 BvR 745/88 ‑, BVerfGE 79, 69; juris, m.w.N.; zitiert nach OVG NRW, Beschluss vom 27. Juni 2014 ‑ 12 B 579/14 ‑, NJW 2014, 3593; juris Rn. 4.
6Dabei stellt die Vorwegnahme der Hauptsache auch gesteigerte Anforderungen an das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs, indem ein hoher Grad der Wahrscheinlichkeit dafür sprechen muss, dass der mit der Hauptsache verfolgte Anspruch begründet ist.
7Vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 - 10 C 9.12 -, NVwZ 2013, 1344, juris; Beschlüsse vom 13. August 1999 - 2 VR 1.99 -, BVerwGE 109, 258; juris, und vom 14. Dezember 1989 - 2 ER 301.89 -, Buchholz 310 § 123 VwGO Nr. 15; juris; OVG NRW, Beschluss vom 27. Januar 2014 - 12 B 1422/13 -, m.w.N.; gleichfalls zitiert nach OVG NRW, Beschluss vom 27. Juni 2014 ‑ 12 B 579/14 ‑, NJW 2014, 3593; juris Rn. 6.
8Eine solche hohe Wahrscheinlichkeit für das Bestehen des von der Antragstellerin verfolgten Anspruchs auf eine Umgangsbegleitung in dem tenorierten Umfang ist hier glaubhaft gemacht.
9Einen für die Gewährung von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe grundsätzlich erforderlichen Antrag hat die Antragstellerin spätestens mit anwaltlichem Schriftsatz vom 13. Juli 2020 gestellt, als sie sich gegen die von der Antragsgegnerin beabsichtigte Reduzierung der begleiteten Umgangskontakte mit ihrer Tochter wandte.
10Anspruchsgrundlage ist § 18 Abs. 3 Satz 4 SGB VIII mit seiner zweiten Variante (Umgangskontakte) in Verbindung mit § 18 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII (Unterstützung bei der Ausübung des Umgangsrechts). Aus der Leistungsverpflichtung auf Unterstützung bei der Ausübung des Umgangsrechtes kann der begünstigte Elternteil ein subjektives Recht in Form einer "Sollvorschrift" ableiten.
11Vgl. Fischer, in: Schellhorn/Fischer/Mann/Kern, SGB VIII, 5. Auflage 2017, § 18, Rn. 36, m.w.N.
12Beratung und Unterstützung bei der Ausübung des Umgangsrechts gemäß § 18 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII kann nur auf der Grundlage und im Rahmen der familienrechtlich festgelegten Umgangsregelungen stattfinden.
13Vgl. OVG NRW, Beschluss vom Beschluss vom 17. Januar 2019 - 12 A 396/18 -, juris, Rn. 8.
14Dabei kann in einem verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren die Verpflichtung des Jugendamtes zur Begleitung eines Umgangskontaktes begehrt werden.
15Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. Dezember 2016 - 12 B 1262/16 -, juris, Rn. 9.
16Welche konkreten Beratungs- und/oder Unterstützungsleistungen, die Realakte und keine Verwaltungsakte sind,
17vgl. etwa Telscher, in: jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl. 2018, § 18 Rn. 22; Grube, in: Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand: 08/2017, § 18 Rn. 10,
18in Betracht kommen, hängt von den Gegebenheiten des jeweiligen Einzelfalls ab. Im jeweiligen Einzelfall handelt es sich bei der Leistung der Jugendhilfe nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 SGB VIII (Angebote zur Förderung der Erziehung in der Familie nach den §§ 16 bis 21) dann um ein konkretisiertes Förderangebot, zu dessen Gewährung der Träger der öffentlichen Jugendhilfe im Regelfall verpflichtet ist und bei dem ihm nur im Ausnahmefall ein eng umgrenzter Ermessensspielraum zur Verweigerung verbleibt. Daraus folgt, dass die Frage, ob es sich im jeweiligen Einzelfall um einen für eine Umgangsbegleitung geeigneten Fall handelt, nicht maßgeblich durch die eigene fachlichen Einschätzung des Jugendamtes bestimmt wird, sondern das Merkmal "Eignung" eines Falles für eine Hilfestellung durch das Jugendamt ein unbestimmter Rechtsbegriff ist, der der vollen gerichtlichen Nachprüfung unterliegt.
19Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27. Juni 2014 ‑ 12 B 579/14 ‑, juris, Rn. 12.
20Nach Maßgabe dieser Grundsätze steht der Antragstellerin ein Anspruch auf Gewährung einer Umgangsbegleitung - wie in der Vergangenheit auch - zu. Das Familiengericht hat in seinem Beschluss vom 29. September 2020 das Recht der Kindsmutter auf begleiteten Umgang mit ihrer Tochter für die Zeit von 14 bis 17 Uhr mittwochs alle 14 Tage bestätigt und auf den vor dem OLG geschlossenen Vergleich verwiesen. Zudem hat die an den jeweiligen familiengerichtlichen Verfahren beteiligte Antragsgegnerin in der Vergangenheit fortlaufend die Notwendigkeit betont, dass der Umgang der Antragstellerin mit ihrer Tochter nur in Begleitung zu erfolgen habe.
21Dass die in Rede stehende Hilfestellung durch das Jugendamt zur Förderung der beabsichtigten Umgangskontakte geeignet ist, steht daher außer Zweifel. Soweit die Antragsgegnerin keine Entwicklung bei der Kindsmutter sieht und demzufolge eine Reduzierung der Kontakte auf eine Stunde im Monat für angemessen hält, verkennt sie demgegenüber den rechtlichen Ansatz. Ermöglicht werden soll allein das grundsätzliche Umgangsrecht der Antragstellerin mit ihrer Tochter nach § 1684 Abs. 1 BGB, auch wenn das Kind den Umgang mit der eigenen Mutter als langweilig empfindet. Insoweit kann auf die Ausführungen des Familiengerichts verwiesen werden: dass es der Kindsmutter nicht gelinge, den Umgang mit dem Kind positiv zu gestalten, sei für das Kind zwar bedauerlich, erreiche jedoch nicht die Schwelle der Kindeswohlgefährdung.
22Die Antragstellerin hat auch den erforderlichen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Familiengerichtlich wurde ihr nur ein begleiteter Umgang zugestanden, ohne eine geeignete, pädagogisch geschulte Begleitung kann sie keinen Kontakt zu ihrer Tochter haben. Ohne Umgangskontakte würde aber unwiederbringlich in ihr durch Art. 6 GG grundrechtlich geschützte Elternrecht eingegriffen.
23Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27. Juni 2014 ‑ 12 B 579/14 ‑, juris, Rn. 37; VG Aachen, Beschluss vom 7. September 2016 - 1 L 351/16 -, juris, Rn. 18.
24Angesichts der den Akten zu entnehmenden Erkenntnisse über die wirtschaftliche Lage der Antragstellerin ist auch nicht ersichtlich, dass diese - wie vom Familiengericht angedeutet - in der Lage wäre, eine Begleitung eigenständig zu organisieren und zu finanzieren.
25Zur Vermeidung einer die Hauptsache vollständig vorwegnehmenden Entscheidung wird die Verpflichtung zur Gewährung der streitgegenständlichen Hilfe auf die Zeit bis Mitte 2021 begrenzt.
26Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.
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Referenzen
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- BGB § 1684 Umgang des Kindes mit den Eltern 1x
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- VwGO § 123 2x
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