Beschluss vom Verwaltungsgericht Aachen - 6 L 156/22.A
Tenor
Den Antragsstellern wird für das Verfahren erster Instanz Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und zur vorläufig unentgeltlichen Wahrnehmung der Rechte Rechtsanwalt L aus Z zu den Bedingungen eines im Bezirk des Verwaltungsgerichts Aachen niedergelassenen Rechtsanwalts beigeordnet.
Die aufschiebende Wirkung der Klage 6 K 505/22.A gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer drei des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18. Februar 2022 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, in dem Gerichtskosten nicht erhoben werden.
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G r ü n d e:
2Der sinngemäß gestellte Antrag,
3die aufschiebende Wirkung der Klage gleichen Rubrums 6 K 505/22.A gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18. Februar 2022 anzuordnen,
4über den nach § 76 Abs. 4 Satz 1 des Asylgesetzes (AsylG) der Einzelrichter entscheidet, ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) in Verbindung mit §§ 34a Abs. 2, 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG statthaft und zulässig. Insbesondere wurde die Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG gewahrt.
5Der Antrag ist auch begründet. Nach Maßgabe der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung hat die Anfechtungsklage der Antragsteller unter Zugrundelegung der nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen derzeitigen Sach- und Rechtslage Erfolg (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), weswegen ihr Aussetzungsinteresse das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt.
6Rechtsgrundlage der streitgegenständlichen Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Hiernach ordnet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) die Abschiebung in einen anderen Staat, der nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO) zuständig ist (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG), an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
7Die hierauf gestützte Abschiebungsanordnung erweist sich als materiell rechtswidrig. Denn unabhängig davon, ob Polen für die Behandlung der Asylanträge der Antragsteller nach Maßgabe der Dublin III-VO (noch) zuständig ist, steht bei summarischer Prüfung jedenfalls nicht mehr im Sinne des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG fest, dass die Überstellung nach Polen durchgeführt werden kann.
8Voraussetzung hierfür ist, dass eine Überstellung in den jeweiligen Zielstaat nicht nur rechtlich zulässig, sondern zeitnah auch tatsächlich möglich ist.
9Vgl. nur Pietzsch, in: Kluth/Heusch (Hrsg.), BeckOK Ausländerrecht, 32. Edition, Stand 1.1.2022, § 34a AsylG, Rn. 9; Müller, in: Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 34a AsylG, Rn. 11; Hailbronner, in: Hailbronner (Hrsg.), Ausländerrecht, 5. Update 2021, § 34a AsylG, Rn. 38; a.A. wohl Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein, Beschluss vom 21. November 2016 – 2 LA 111/16 –, juris, Rn. 6.
10Diese Feststellung kann zum jetzigen Zeitpunkt bei summarischer Prüfung nicht mehr getroffen werden. Dabei kann dahinstehen, ob mit Blick auf vorübergehende und ggf. noch nicht sicher absehbare Überstellungshindernisse insofern die prognostisch große Wahrscheinlichkeit einer Überstellungsmöglichkeit innerhalb der Überstellungfristen des Art. 29 Dublin III-VO (d.h. regelmäßig binnen sechs Monaten) als ausreichend zu erachten ist.
11Vgl. in diesem Sinne bspw. Verwaltungsgericht (VG) Ansbach, Beschluss vom 18. März 2020 – AN 17 S 20.50116 –, juris, Rn. 23 (für pandemiebedingte Einreisebeschränkungen) unter Bezugnahme auf Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 29 AsylG, Rn. 53.
12Denn jedenfalls die grundsätzliche (Wieder)Aufnahmebereitschaft des Zielstaats muss im entscheidungserheblichen Zeitpunkt nach höchst- und obergerichtlicher Rechtsprechung positiv geklärt sein. Dies ergibt sich sowohl aus dem klaren Wortlaut der Norm ("feststeht"), als auch aus dem Sinn und Zweck des Dublin-Systems und der mit ihm verwirklichten verfahrensrechtlichen Dimension der materiellen Rechte, die die Richtlinie 2011/95/EU (sog. Anerkennungsrichtlinie) Schutzsuchenden einräumt.
13Vgl. nur Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 27. April 2016 – 1 C 24.15 –, juris, Rn. 20 (zu § 27a AsylG a.F.); Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28. April 2015 – 14 B 502/15.A –, juris, Rn. 7 ff. (zu § 34a AsylG); im Anschluss hieran Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 7. April 2016 – 20 B 14.30214 –, juris, Rn. 17 und Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 18. Februar 2016 – 1 A 11081/14 –, BeckRS 2016, 43342, Rn. 37; zu einer ähnlichen Situation (pandemiebedingte Aussetzung aller Dublin-Überstellungen durch einen Mitgliedstaat) auch VG Aachen, Urteil vom 6. März 2020 – 9 K 3086/18.A –, juris, Rn. 91. Vgl. aus der Literatur nur Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 29 AsylG, Rn. 53; Hailbronner, in: Hailbronner (Hrsg.), Ausländerrecht, 5. Update 2021, § 34a AsylG, Rn. 38; Pietzsch, in: Kluth/Heusch (Hrsg.), BeckOK Ausländerrecht, 32. Edition, Stand 1.1.2022, § 34a AsylG, Rn. 12.
14An einer positiv geklärten (Wieder)Aufnahmebereitschaft fehlt es hier unstreitig. Zwar hat Polen mit Schreiben vom 28. Januar 2022 auf das Aufnahmeersuchen des Bundesamts vom 28. Dezember 2021 zunächst geantwortet, zur Aufnahme der Antragsteller nach Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO bereit zu sein, so dass die Aufnahmebereitschaft Polens im Zeitpunkt des Bescheiderlasses noch feststand. Unter dem 25. Februar 2022 teilte Polen jedoch mit Rundschreiben an alle Dublin-Einheiten der EU Folgendes mit:
15"[…] Due to the situation on the territory of Ukraine, Poland immediately suspends all INCOMING transfers. All incoming transfers are suspended until further notice. Please cancel all incoming transfers scheduled from 28.02.2022. […]".
16In der Folge kann im entscheidungserheblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) nicht mehr von einer positiv geklärten Aufnahmebereitschaft Polens ausgegangen werden. Im Gegenteil steht zurzeit positiv fest, dass Polen aufgrund des Krieges in der Ukraine bis auf weiteres generell nicht mehr zur (Wieder)Aufnahme Schutzsuchender im Rahmen des Dublin-Systems bereit ist.
17Darüber hinaus wäre jedoch selbst dann nicht mehr von einer "feststehenden" Überstellungsmöglichkeit im Sinne des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG auszugehen, wenn auch mit Blick auf die (Wieder)Aufnahmebereitschaft des Zielstaats ausreichen würde, dass eine solche innerhalb der Fristen des Art. 29 Dublin III-VO prognostisch mit großer Wahrscheinlichkeit (erneut) vorliegen wird.
18Hintergrund des polnischen Rundschreibens vom 25. Februar 2022 war die Invasion der Ukraine durch russische Truppen am 23./24. Februar 2022 und die hierdurch ausgelöste Fluchtbewegung, insbesondere in die westlichen Nachbarländer der Ukraine. Belief sich die Zahl Geflüchteter aus der Ukraine zum Zeitpunkt des Rundschreibens noch auf ca. 200.000, haben zwischenzeitlich über drei Millionen Menschen die Ukraine verlassen, wovon sich nach Angaben der polnischen Regierung knapp zwei Millionen in Polen aufhalten.
19Vgl. https://data2.unhcr.org/en/situations/ukraine (Abruf am 17. März 2022).
20Ein Ende dieser Fluchtbewegung ist nicht in Sicht. Die EU-Kommission ging vielmehr bereits am 27. Februar 2022 von bis zu sieben Millionen Menschen aus, welche in Folge des Krieges aus der Ukraine in die EU flüchten könnten.
21Vgl. https://www.tagesschau.de/ausland/europa/fluechtlinge-ukraine-105.html (Abruf am 17. März 2022).
22Auch eine militärische oder politische Beendigung des Krieges in der Ukraine – und damit einhergehend ein etwaiges Ende der beschriebenen Fluchtbewegung – ist derzeit nicht absehbar. Darüber hinaus wäre eine spürbare Entspannung der Migrationslage in Polen bei lebensnaher Betrachtung angesichts fortbestehender Unsicherheiten, zerstörter Infrastruktur sowie weiterer objektiver und subjektiver Rückkehrhürden ohnehin nicht unmittelbar nach Kriegsende zu erwarten.
23Dafür, dass sich Polen trotz dieser kriegsbedingten Migrationslage in absehbarer Zeit erneut zur (Wieder)Aufnahme Schutzsuchender im Rahmen des Dublin-Systems bereit erklären wird, ist zuletzt ebenfalls nichts ersichtlich. Insbesondere wurde im Rundschreiben vom 25. Februar 2022 insofern weder ein Datum genannt ("until further notice"), noch wurden sonstige Bedingungen für eine baldige Wiederaufnahme von Dublin-Überstellungen skizziert. Auf die Frage, ob diese einseitige Beendigung von Dublin-Überstellungen sich als unionsrechtskonform erweist, kommt es im Rahmen des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG nicht an, da es unabhängig hiervon jedenfalls faktisch an einer (Wieder)Aufnahmebereitschaft Polens für Dublin-Rückkehrer fehlt.
24Vor diesem Hintergrund vermag der Einzelrichter die prognostische Annahme des Bundesamts, dass weiterhin mit großer Wahrscheinlichkeit feststehe, dass Polen seine Verpflichtung zur Aufnahme der Antragsteller innerhalb der Überstellungsfrist erfüllen werde, bei summarischer Prüfung auch unter Zugeständnis eines weiten behördlichen Prognosespielraums und der Beachtung des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens nicht zu teilen.
25Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens ergibt sich aus § 83b AsylG.
26Der Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.
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