Urteil vom Verwaltungsgericht Aachen - 6 K 2086/20.A
Tenor
Der Einstellungsbeschluss der Kammer vom 21. Februar 2022 wird aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens, in dem Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt der Kläger.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
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T a t b e s t a n d :
2Der am 00.00.0000 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und nach eigenen Angaben der Volksgruppe der Kurden zugehörig. Er verließ die Türkei nach eigenen Angaben am 19. Juni 2019 per LKW und reiste am 24. Juni 2019 per LKW in die Bundesrepublik ein. Am 6. August 2019 stellte er einen förmlichen Asylantrag in Deutschland.
3In der Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 20. August 2019 gab der Kläger im Wesentlichen an, die Türkei verlassen zu haben, weil er befürchtet habe, als vermeintlicher Unterstützer der PKK vom türkischen Staat verfolgt zu werden.
4Mit Bescheid vom 31. Juli 2020, dem Kläger zugestellt am 11. August 2020, lehnte das Bundesamt die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), auf Asylanerkennung (Ziffer 2) sowie auf Zuerkennung subsidiären Schutzes (Ziffer 3) ab. Zudem stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4). Der Kläger wurde zur Ausreise innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. - für den Fall der Klageerhebung - nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens aufgefordert; für den Fall der Nichteinhaltung der gesetzten Ausreisefrist wurde ihm die Abschiebung in die Türkei oder in einen anderen aufnahmebereiten oder -verpflichteten Staat angedroht (Ziffer 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6). Zur Begründung wies das Bundesamt im Wesentlichen darauf hin, die Voraussetzungen für die Zuerkennung internationalen Schutzes und die Anerkennung als Asylberechtigter lägen nicht vor. Der Kläger sei kein Flüchtling im Sinne der Definition des § 3 AsylG. Er habe seine begründete Furcht vor Verfolgung nicht glaubhaft gemacht. Sein Vortrag sei arm an Details, vage, pauschal und oberflächlich gewesen sowie frei von erlebten Gefühlen. Außerdem sei sein Vortrag widersprüchlich gewesen. Es sei insbesondere nicht nachvollziehbar, weshalb gegen den Kläger keine strafrechtlichen Maßnahmen erfolgt seien, wenn die türkischen Behörden tatsächlich davon ausgegangen wären, dass er die PKK unterstützt hätte.
5Am 19. August 2020 hat der Kläger die vorliegende Klage erhoben.
6Das Gericht hat den Kläger mit seiner Eingangsverfügung vom 21. August 2020 aufgefordert, das ausgefüllte Formblatt zur Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zwecks Erlangung der Prozesskostenhilfe nebst Belegen zur Glaubhaftmachung der darin enthaltenen Angaben umgehend einzureichen. Mit Schreiben vom 8. September 2020 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers das Gericht gebeten, die Frist zur Vorlage der klägerischen PKH-Erklärung bis zum 15. Oktober 2020 zu verlängern, weil es dem Kläger bislang nicht gelungen sei, seine PKH-relevanten Unterlagen einzureichen. Mit gerichtlicher Verfügung vom 8. September 2020, versand am 14. September 2020, hat das Gericht dem Prozessbevollmächtigten des Klägers mitgeteilt, dass die beantragte Fristverlängerung gewährt wird. Anschließend haben der Kläger und sein Prozessbevollmächtigter mehr als ein Jahr lang weder die angekündigten PKH-Unterlagen noch andere Schriftsätze eingereicht. Mit Betreibensaufforderung vom 12. Januar 2022, dem Prozessbevollmächtigten des Klägers zugegangen am 13. Januar 2022, hat das Gericht den Kläger aufgefordert, binnen eines Monats nach Zugang dieser Verfügung eine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zum Prozesskostenhilfeantrag nebst Belegen vorzulegen. Zugleich hat das Gericht insbesondere darauf hingewiesen, dass das vorliegende Verfahren gemäß § 81 Satz 1 AsylG als zurückgenommen gilt, wenn es von dem Kläger länger als einen Monat ab Zugang dieser Aufforderung nicht mehr betrieben wird. Nachdem kein Schriftsatz der Klägerseite einging, hat das Gericht das Verfahren durch Beschluss vom 21. Februar 2022 gemäß der § 81 Satz 1 AsylG i.V.m. § 92 Abs. 3 VwGO eingestellt. Mit Schreiben vom 1. März 2022 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers u.a. beantragt, den Beschluss vom 21. Februar 2022 aufzuheben und das Verfahren fortzuführen. Mit Schreiben vom 4. März 2022 hat das Gericht die Klägerseite darauf hingewiesen, dass das Verfahren fortgesetzt und die Frage der Beendigung des Verfahrens aufgrund einer noch zu terminierenden mündlichen Verhandlung durch Urteil entschieden wird.
7Zur Begründung seines Fortführungsantrags trägt der Kläger vor, dass die Betreibensaufforderung des Gerichts zu Unrecht ergangen sei. In der Betreibensaufforderung sei der Kläger lediglich zum weiteren Vortrag / Vorlagen von Nachweisen für seine Hilfsbedürftigkeit im PKH-Verfahren aufgefordert worden. Der Kläger sei nicht imstande gewesen, der Aufforderung des Gerichts nachzukommen, da sich herausgestellt habe, dass der Kläger aufgrund einer Beschäftigung wohl keinen Anspruch auf PKH haben dürfte. Dies betreffe jedoch in keiner Weise das Asylbegehren des Klägers. In diesem Zusammenhang habe das Gericht den Kläger zu keinem weiteren Vortrag aufgefordert und ihn nicht auf die entsprechenden Folgen des § 81 Satz 1 AsylG hingewiesen. Zur Begründung seiner Klage im Übrigen nimmt der Kläger auf seine Anhörung beim Bundesamt Bezug. Sein Vortrag sei insbesondere nicht vage und unsubstantiiert geblieben.
8Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
9den Beschluss vom 21. Februar 2022 aufzuheben und das Verfahren fortzuführen,
10die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts vom 31. Juli 2020 zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen,
11hilfsweise,
12die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des vorgenannten Bescheides zu verpflichten, ihm subsidiären Schutz nach § 4 AsylG zuzuerkennen,
13weiter hilfsweise,
14die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des vorgenannten Bescheides zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 AufenthG vorliegen.
15Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
16die Klage abzuweisen.
17Zur Begründung ihres Klageabweisungsantrags verweist sie auf den Inhalt des angefochtenen Bescheids.
18In der mündlichen Verhandlung vom 5. Juli 2022 sind der Kläger und sein Prozessbevollmächtigter nicht erschienen. Auch für die Beklagte ist niemand erschienen. Auf die Sitzungsniederschrift wird verwiesen.
19Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den von der Beklagten beigezogenen Verwaltungsvorgang Bezug genommen. Die Erkenntnisse der Kammer zum Herkunftsland Türkei wurden in das Verfahren eingeführt.
20E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
21Das Gericht konnte trotz Nichterscheinens des Klägers und der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 5. Juli 2022 entscheiden, weil diese am 3. Juni 2022 (vgl. Empfangsbekenntnisse, Bl. 60, 62 der Gerichtsakte) ordnungsgemäß mit dem Hinweis geladen worden sind, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO).
22Der Einstellungsbeschluss der Kammer vom 21. Februar 2022 war aufzuheben und das Verfahren fortzuführen (I.). Die Klage hat jedoch keinen Erfolg (II.).
23I.
24Der Einstellungsbeschluss der Kammer vom 21. Februar 2022 war aufzuheben und das Verfahren fortzuführen. Denn vorliegend ist davon auszugehen, dass eine wirksame Klagerücknahmefiktion gemäß § 81 Satz 1 AsylG nicht vorlag.
25Wendet sich der Kläger gegen die fiktive Klagerücknahme, bedarf es eines Antrags auf Fortsetzung des Verfahrens. Über die Einstellung oder Fortsetzung hat das Gericht – ähnlich wie beim Streit über die Wirksamkeit einer Klagerücknahme oder Erledigungserklärung – durch Urteil zu befinden. Entweder wird hierbei die fiktive Klagerücknahme deklaratorisch festgestellt oder im gegenteiligen Fall unter Fortsetzung des Verfahrens über die Klage in der Sache entschieden. Die Fortsetzung des Verfahrens ist geboten, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für die Einstellung nicht vorlagen. Das Gericht hat hierbei insbesondere zu prüfen, ob genügend Anlass für die Aufforderung bestand, ob diese formell fehlerfrei ergangen ist und der Kläger tatsächlich das Verfahren nicht weiterbetrieben hat.
26Vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. März 1965 - V B 37.65 -, juris Orientierungssatz, Rn. 5; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 18. März 2019 - 2 BvR 367/19 -, juris, Rn. 23; Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 81 AsylG, Rn. 21 ff.
27Nach § 81 Satz 1 AsylG gilt die Klage in einem gerichtlichen Verfahren nach dem Asylgesetz als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als einen Monat nicht betreibt. Die Vorschrift dient der Beschleunigung von Asylverfahren, an deren Fortführung der Kläger erkennbar kein Interesse mehr hat. Ein erkennbar fehlendes Interesse des Klägers an der Fortführung seiner Klage liegt vor, wenn er durch sein Verhalten berechtigte Zweifel an seinem Rechtsschutzbedürfnis begründet und diese Zweifel trotz Aufforderung nicht fristgerecht ausräumt. Berechtigte Zweifel am Fortbestehen seines Interesses an einer Sachentscheidung des Gerichts kann der Kläger durch aktives Handeln begründen, z.B. durch freiwillige Ausreise in sein Heimatland, durch Untertauchen im Bundesgebiet oder durch Abbruch des Kontakts zu seinem das Gerichtsverfahren betreibenden Bevollmächtigten. Derartige Zweifel können aber auch dann begründet sein, wenn der Kläger prozessuale Mitwirkungspflichten nicht erfüllt und damit ein Desinteresse an der weiteren Verfolgung seines Begehrens zeigt. Dem Kläger muss zur Wahrung seines verfassungsrechtlichen Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) und rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) aber Gelegenheit gegeben werden, die gegen ihn sprechende widerlegliche Vermutung auszuräumen. Dem dient die Betreibensaufforderung nach § 81 Satz 1 AsylG, die erst ergehen darf, wenn der Kläger - etwa durch Verstreichenlassen einer gerichtlichen Frist zur Klagebegründung oder zur individuell konkretisierten Ergänzung seines Vorbringens - begründete Anhaltspunkte für Zweifel an seinem Rechtsschutzinteresse gegeben hat.
28Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 31. Oktober 2019 – 9 A 2047/18.A –, juris Rn. 4 m.w.N.; Bay. VGH, Beschluss vom 16. Mai 2018 – 8 ZB 18.30470 –, juris Rn. 2.
29Ausgehend von diesen Grundsätzen erscheint es zweifelhaft, ob das Gericht im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung vom 12. Januar 2022 bereits Anlass für berechtigte Zweifel am Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses des Klägers haben durfte. Zwar ist dieser der Aufforderung des Gerichts zur Einreichung seiner PKH-Unterlagen auch nach Gewährung einer bis zum 15. Oktober 2020 geltenden Fristverlängerung nicht nachgekommen und hatte sich auch anschließend bis zum Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung vom 12. Januar 2022 über ein Jahr lang nicht mehr beim Gericht gemeldet. Andererseits hat das Gericht den Kläger nach Verstreichenlassen der Frist zur Einreichung der PKH-Unterlagen auch über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr nicht mehr zur Einreichung der fehlenden PKH-Unterlagen aufgefordert. Im vorliegenden Einzelfall geht das Gericht zugunsten des Klägers davon aus, dass noch keine Betreibensaufforderung hätte ergehen dürfen und damit eine wirksame Klagerücknahmefiktion gemäß § 81 Satz 1 AsylG nicht vorlag. In dem Fall ist ein bereits ergangener Einstellungsbeschluss aufzuheben.
30Vgl. Bamberger, in: Wysk, VwGO, 3. Aufl. 2020, § 92 Rn. 39; Clausing, in: Schoch/ Schneider, Verwaltungsrecht, VwGO, 41. EL Juli 2021, § 92 Rn. 82; Peters/Axer, in: Sodan/Ziekow, NK-VwGO, 5. Aufl. 2018, § 92 Rn. 91; Wöckel, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 92 Rn. 26.
31II.
32Die zulässige Klage ist unbegründet.
33Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 31. Juli 2020 ist im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG) rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO.
34Dem Kläger steht weder ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter oder auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG noch ein Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 4 AsylG oder auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 AufenthG zu. Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung bestehen ebenfalls nicht. Dies hat das Bundesamt in dem angefochtenen Bescheid ausführlich und zutreffend begründet. Das Gericht schließt sich daher den Gründen des angefochtenen Bescheids an und verweist zur Vermeidung von Wiederholungen auf diese (vgl. § 77 Abs. 2 AsylG). Die Klagebegründung enthielt keine neuen über die Angaben des Klägers beim Bundesamt hinausgehenden Aspekte. Da der Kläger in der mündlichen Verhandlung auch nicht erschienen ist bzw. vertreten war, besteht kein Anlass für weitergehende Ausführungen.
35III.
36Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens folgt aus § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2 und 711 ZPO.
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Referenzen
- § 77 Abs. 2 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- § 3 AsylG 2x (nicht zugeordnet)
- § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- § 81 Satz 1 AsylG 5x (nicht zugeordnet)
- § 60 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- § 81 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- § 4 AsylG 2x (nicht zugeordnet)
- § 11 Abs. 1 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 102 1x
- § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 92 1x
- 9 A 2047/18 1x (nicht zugeordnet)
- 2 BvR 367/19 1x (nicht zugeordnet)