Urteil vom Verwaltungsgericht Düsseldorf - 15 K 6075/20.A
Tenor
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 22. September 2020 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet
1
Tatbestand:
2Der Kläger ist am 00.00.1978 in L. S. geboren und kirgisischer Staatsangehöriger.
3Er stellte am 1. September 2020 beim Bundesamt einen Asylerstantrag.
4Unter Hinweis auf einen Treffer im VIS-Informationssystem, wonach dem Kläger unter der Nummer LTU000000000 ein vom 16. Februar 2020 bis zum 31. März 2020 gültiges Visum für die Schengen-Staaten ausgestellt worden war, ersuchte das Bundesamt Litauen am 9. September 2020 um die Aufnahme des Klägers. Dem Gesuch stimmte die litauische Dublin-Einheit mit Schreiben vom 17. September 2020 zu.
5Zwecks Anhörung erhielt der Kläger vom Bundesamt am 11. September 2020 – unter anderem – den „Fragebogen zur Bestimmung des für die Prüfung des Antrages zuständigen Mitgliedstaates (Erstbefragung)“, den „Fragebogen zur Prüfung von Abschiebungshindernissen im Dublin-Verfahren (Ergänzende Befragung)“ und das „Merkblatt Dublinverfahren Russisch“ D1271 jeweils in deutscher und russischer Sprache. Die Fragebögen schickte der Kläger ausgefüllt an das Bundesamt zurück.
6Mit Bescheid vom 22. September 2020, dem Kläger am 5. Oktober 2020 gegen eine Empfangsbestätigung ausgehändigt, lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziff. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Ziff. 2), ordnete die Abschiebung des Klägers nach Litauen an (Ziff. 3) und ordnete das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes an und befristete es auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziff. 4). Zur Begründung verwies es darauf, dass für die Bearbeitung des Asylantrags des Klägers Litauen zuständig sei und seiner Überstellung dorthin rechtlich nichts entgegenstehe.
7Am 28. September 2020 wurde der Kläger in N. nach § 25 AsylG zu seinen Asylgründen angehört. Für die Einzelheiten der Anhörung wird auf die betreffende Niederschrift auf Bl. 133 ff. der Verwaltungsvorgänge verwiesen.
8Der Kläger hat am 12. Oktober 2020 Klage erhoben. Zur Begründung macht er geltend, die Bedingungen für Asylsuchende in Litauen seien menschenunwürdig. Sie würden in Sammellagern eingesperrt, vom Wachpersonal misshandelt und nicht hinreichend versorgt.
9Der Kläger beantragt sinngemäß,
10den Bescheid des Bundesamtes vom 22. September 2020 aufzuheben,
11Die Beklagte beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Sie ist der Auffassung, der angegriffene Bundesamtsbescheid sei aus den dort genannten Gründen rechtmäßig.
14Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 20. November 2020 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet. Die Beklagte hat dem erkennenden Gericht gegenüber eine entsprechende Verzichtserklärung allgemein abgegeben.
15Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten ebenso Bezug genommen wie auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes.
16Entscheidungsgründe:
17Über das Klagebegehren kann im erklärten Einverständnis der Beteiligten ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden werden (vgl. § 101 Abs. 2 VwGO).
18Die Klage hat Erfolg.
19Die vorliegend statthafte,
20vgl. BVerwG, Urteile vom 26. Mai 2016 – 1 C 15.15 –, juris, Rdnr. 10, vom 14. Dezember 2016 – 1 C 4.16 –, juris, Rdnr. 14 ff., vom 1. Juni 2017 – 1 C 9.17 –, juris, Rdnr. 14 f. und vom 25. Juli 2017 – 1 C 13/17 – juris, Rdnr. 17,
21Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere innerhalb der Frist der §§ 74 Abs. 1 Hs. 2, 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellt.
22Ferner ist sie begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
23Entgegen der dem Bescheid zu Grunde liegenden Rechtsauffassung lässt sich die Zulässigkeit des Asylantrags des Klägers nach der Sach‑ und Rechtslage im hier maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) nicht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG mit der Begründung verneinen, dass Litauen für die Prüfung seines Schutzgesuchs zuständig sei.
24Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, (Dublin III‑VO) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
25Dass Litauen danach den von dem Kläger am 1. September 2020 im Bundesgebiet gestellten Asylantrag zu prüfen hat, hat das Bundesamt nicht rechtsfehlerfrei festgestellt.
26Die Unzulässigkeitsentscheidung ist mangels Durchführung eines persönlichen Gesprächs mit dem Kläger, das Art. 5 Dublin III-VO verpflichtend vorschreibt, formell rechtswidrig.
27Vgl. hierzu Urteile der erkennenden Kammer vom 17. September 2020 – 15 K 3663/20.A –, und vom 8. Oktober 2020 – 15 K 4208/20.A –, jeweils n. v., und Beschlüsse der erkennenden Kammer vom 13. August 2020 – 15 L 1533/20.A –, und vom 27. August 2020 – 15 L 1383/20.A –, jeweils n. v.
28Nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO führt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat, um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zu erleichtern, ein persönliches Gespräch mit dem Antragsteller.
29Diesen Anforderungen genügt die dem Kläger seitens des Bundesamtes eingeräumte Gelegenheit, durch Ausfüllen der ihm übermittelten Fragebögen schriftlich zu seinem Asylgesuch Stellung zu nehmen, nicht. Denn die ausschließlich schriftliche Beantwortung von Fragen unterfällt bereits nicht der Bedeutung des Wortes „Gespräch“ als „mündlicher Gedankenaustausch in Rede und Gegenrede über ein bestimmtes Thema“.
30So die Definition auf der Website des Duden, abrufbar unter: https://www.duden.de/rechtschreibung/Gespraech (zuletzt abgerufen am 20. November 2020). Auch die englische und die französische Sprachfassung der Dublin III-VO fordern mit den Begriffen „interview“ und „entretien“ eine mündliche Konversation.
31Dass das persönliche Gespräch nach Art. 5 Dublin III-VO eine mündliche Unterhaltung erfordert, ergibt sich insbesondere auch aus der Vorschrift des Art. 5 Abs. 4 Satz 2 Dublin III-VO, wonach die Mitgliedstaaten erforderlichenfalls einen Dolmetscher hinzuziehen, der eine angemessene Verständigung zwischen dem Antragsteller und der das persönliche Gespräch führenden Person gewährleisten kann. Diese Gelegenheit besteht in dem vorliegend durchgeführten schriftlichen Verfahren ersichtlich nicht.
32Soweit das Bundesamt den Kläger zusätzlich am 28. September 2020 zu seinen Asylgründen angehört hat, genügt dies ebenfalls nicht den Anforderungen des Art. 5 Dublin III-VO. Denn ausweislich der Niederschrift wurden in dem betreffenden Gespräch keine Fragen gestellt oder Angaben gemacht, die für die Bestimmung des nach der Dublin III-VO zuständigen Mitgliedstaates dienlich sind.
33Auch war ein Verzicht auf das persönliche Gespräch vorliegend nicht zulässig.
34Gemäß Art. 5 Abs. 2 Dublin III-VO darf auf das persönliche Gespräch verzichtet werden, wenn der Antragsteller flüchtig ist (Buchst. a) oder der Antragsteller, nachdem er die in Art. 4 genannten Informationen erhalten hat, bereits die sachdienlichen Angaben gemacht hat, so dass der zuständige Mitgliedstaat auf andere Weise bestimmt werden kann (Buchst. b Satz 1).
35Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.
36Der Kläger war nicht flüchtig. Eine Entbehrlichkeit des persönlichen Gesprächs nach Art. 5 Abs. 2 Buchst. b Dublin III-VO scheitert wiederum jedenfalls daran, dass der Kläger nicht die in Art. 4 Dublin III-VO genannten Informationen erhalten hat. Denn ihm ist entgegen Art. 4 Abs. 2 UAbs. 1 Satz 2, Abs. 3 Dublin III-VO nicht das gemeinsame Merkblatt der Anlage X der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Januar 2014 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedsstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedsstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (gemeinsames Merkblatt), sondern das vom Bundesamt selbst erstellte Merkblatt Dublin D 1271 ausgehändigt worden.
37Die Entbehrlichkeit des persönlichen Gesprächs folgt – ungeachtet der Frage, ob diese Vorschrift vorliegend neben Art. 5 Abs. 2 Dublin III-VO anwendbar ist – auch nicht aus Art. 14 Abs. 2 Satz 1 Buchst. b der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Verfahrensrichtlinie). Hiernach kann auf die persönliche Anhörung zum Inhalt des Antrags verzichtet werden, wenn die Asylbehörde der Auffassung ist, dass der Antragsteller aufgrund dauerhafter Umstände, die sich seinem Einfluss entziehen, nicht zu einer Anhörung in der Lage ist.
38Dass dies hier der Fall wäre, ist weder dargetan noch ersichtlich. Insbesondere kann ein Verzicht auf das persönliche Gespräch unter diesem Gesichtspunkt nicht mit der Corona-Pandemie begründet werden, da die betreffenden Umstände in der Person des Antragstellers liegen müssen. Denn Art. 14 Abs. 2 Satz 1 Buchst. b der Verfahrensrichtlinie bestimmt weiter, dass die Asylbehörde im Zweifelsfall medizinisches Fachpersonal konsultiert, um festzustellen, ob es sich bei dem Umstand, der dazu führt, dass der Antragsteller nicht zu einer Anhörung in der Lage ist, um einen vorübergehenden oder dauerhaften Zustand handelt.
39Da es sich bei dem Asylgesuch des Klägers nicht um einen Folgeantrag handelt, ist auch die Ausnahmeregelung des Art. 34 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 3 der Verfahrensrichtlinie nicht einschlägig.
40Einer Aufhebung des Bundesamtsbescheides steht auch nicht die Vorschrift des § 46 VwVfG entgegen; die Verletzung des Rechts auf die Durchführung eines persönlichen Gesprächs nach Art. 5 Dublin III-VO führt zwingend zur Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an die Asylbehörde.
41Für die Unzulässigkeitsentscheidung nach Art. 33 Abs. 2 der Verfahrensrichtlinie EuGH, Urteil vom 16. Juli 2020 – C-517/17 –, juris, Rdnr. 56 ff. Anders – vor der Entscheidung des Gerichtshofs vom 16. Juli 2020 – noch OVG NRW, Urteil vom 19. Mai 2016 – 13 A 1490/13.A –, juris, Rdnr. 36, und Beschluss vom 22. Mai 2019 – 11 A 330/19.A –, juris, Rdnr. 30, m. w. N., insbesondere unter Berufung auf EuGH, Urteile vom 15. Oktober 2015 – C-137/14 –, juris, Rdnr. 60, und vom 7. November 2013 – C-72/12 –, juris, Rdnr. 51 ff.
42Da die Dublin III-VO die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die Pflicht zur Durchführung eines persönlichen Gesprächs nicht ausdrücklich regelt, richten sich diese nach nationalem Recht, sofern die einschlägigen nationalen Bestimmungen denen entsprechen, die für den Einzelnen in vergleichbaren unter das nationale Recht fallenden Situationen gelten (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz).
43Vgl. nur EuGH, Urteile vom 10. September 2013 – C-383/13 PPU –, juris, Rdnr. 35, und vom 16. Juli 2020 – C-517/17 –, juris, Rdnr. 57.
44Vorliegend verstieße die Anwendung des § 46 VwVfG gegen den Effektivitätsgrundsatz.
45In diesem Zusammenhang hat der EuGH zwar bereits entschieden, dass eine Verletzung der Verteidigungsrechte nur dann zur Aufhebung der am Ende des fraglichen Verwaltungsverfahrens erlassenen Entscheidung führt, wenn das Verfahren ohne diese Regelwidrigkeit zu einem anderen Ergebnis hätte führen können.
46Vgl. etwa EuGH, Urteil vom 10. September 2013 – C-383/13 PPU –, juris, Rdnr. 38, m. w. N.
47Diese Erwägung kann jedoch – ebenso wie im Fall einer Verletzung des Rechts auf eine persönliche Anhörung nach Art. 14 f. und 34 der Verfahrensrichtlinie –,
48vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 16. Juli 2020 – C-517/17 –, juris, Rdnr. 59 ff.,
49nicht auf einen Verstoß gegen die Vorgaben des Art. 5 Dublin III-VO übertragen werden.
50Es spricht bereits Vieles dafür, dass sich dies unmittelbar aus der Entscheidung des Gerichtshofs vom 16. Juli 2020 – C-517/17 – ergibt, da die Pflicht zur persönlichen Anhörung gemäß Art. 14, 34 der Verfahrensrichtlinie grundsätzlich auch für Fälle gilt, in denen nach Maßgabe der Dublin III-VO ein Antrag nicht geprüft wird.
51Nach Art. 34 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 der Verfahrensrichtlinie geben die Mitgliedstaaten den Antragstellern Gelegenheit, sich zu der Anwendung der Gründe nach Artikel 33 in ihrem besonderen Fall zu äußern, bevor die Asylbehörde über die Zulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz entscheidet. Hierzu führen die Mitgliedstaaten im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung eine persönliche Anhörung durch (Art. 34 Abs. 1 UAbs. 2 Satz 2 der Verfahrensrichtlinie).
52Die Regelung zur Anhörungspflicht in Art. 34 Abs. 1 UAbs. 1 der Verfahrensrichtlinie verweist mithin nicht lediglich auf Unzulässigkeitsentscheidungen im Sinne des Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie, sondern auf die gesamte Vorschrift des Art. 33 der Verfahrensrichtlinie, die in Abs. 1 Hs. 1 auch Entscheidungen nach der Dublin III-VO in Bezug nimmt.
53Ferner gilt nach Art. 34 Abs. 1 UAbs. 2 der Verfahrensrichtlinie Art. 34 Abs. 1 UAbs. 1 der Richtlinie unbeschadet des Art. 4 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie und des Art. 5 der Dublin III-VO. „Unbeschadet“ bedeutet dabei „vorbehaltlich“,
54vgl. zu dieser Terminologie in anderen Bereichen des Unionsrechts EuGH, Urteile vom 14. Juli 1977 – C-8/77 –, juris, Rdnr. 11, und vom 15. Januar 2002 – C-55/00 –, juris, Rdnr. 21,
55Art. 34 Abs. 1 UAbs. 2 der Verfahrensrichtlinie regelt mithin die Konkretisierung des allgemeinen Anhörungserfordernisses für besondere Anwendungsfälle. Soweit sich aus Art. 5 Dublin III-VO keine Abweichung ergibt, sind deshalb auch im Anwendungsbereich der Dublin III-VO die Regelungen zur persönlichen Anhörung nach der Verfahrensrichtlinie anwendbar.
56Jedenfalls verbietet hier der Effektivitätsgrundsatz die Anwendung des § 46 VwVfG aber deshalb, da ohne die Durchführung eines persönlichen Gesprächs nach Art. 5 Dublin III-VO eine vom Unionsgesetzgeber als für das Asylverfahren von grundlegender Bedeutung angesehene Schutzmaßnahme außer Kraft gesetzt würde; dies wäre mit der praktischen Wirksamkeit des Art. 5 Dublin III-VO nicht vereinbar.
57Vgl. für die persönliche Anhörung nach Art. 34 der Verfahrensrichtlinie EuGH, Urteil vom 16. Juli 2020 – C-517/17 –, juris, Rdnr. 59, 66 ff.
58Von der grundlegenden Bedeutung, die der Unionsgesetzgeber dem persönlichen Gespräch für das Asylverfahren beimisst, zeugt der Umstand, dass er im Rahmen des Art. 5 Dublin III-VO zum einen den Mitgliedstaaten eine klare und ausdrückliche Pflicht auferlegt hat, Personen, die internationalen Schutz beantragen, die Gelegenheit zu einem persönlichen Gespräch zu geben, bevor über ihren Antrag entschieden wird, und zum anderen einen abschließenden Katalog von Ausnahmen von dieser Pflicht vorgesehen hat. Dass der Unionsgesetzgeber ferner nicht nur dem Abhalten des persönlichen Gesprächs als solchem diese Bedeutung beimisst, sondern auch den Bedingungen, unter denen dieses stattzufinden hat und deren Einhaltung eine Voraussetzung für die Gültigkeit einer über den Asylantrag erlassenen Unzulässigkeitsentscheidung ist, zeigt ferner die Tatsache, dass er sich in Art. 5 Dublin III-VO nicht auf die Pflicht zur Durchführung des Gesprächs beschränkt hat, sondern für die Mitgliedstaaten überdies konkrete und detaillierte Regeln für die Durchführung dieses persönlichen Gesprächs aufgestellt hat.
59Vgl. zum Ganzen für die persönliche Anhörung nach Art. 34 der Verfahrensrichtlinie EuGH, Urteil vom 16. Juli 2020 – C-517/17 –, juris, Rdnr. 59, 66 ff., unter Verweis auf EuGH, Urteil vom 14. Mai 2020 – C-607/18 –, WuW 2020, 475, 476, Rdnr. 57.
60So wird das persönliche Gespräch zeitnah geführt, in jedem Fall aber, bevor über die Überstellung des Antragstellers in den zuständigen Mitgliedstaat entschieden wird (Art. 5 Abs. 3 Dublin III-VO). Es wird in einer Sprache geführt, die der Antragsteller versteht oder von der vernünftigerweise angenommen werden darf, dass er sie versteht und in der er sich verständigen kann (Art. 5 Abs. 4 Satz 1 Dublin III-VO). Gemäß Art. 5 Abs. 5 Satz 1 Dublin III-VO erfolgt das persönliche Gespräch unter Bedingungen, die eine angemessene Vertraulichkeit gewährleisten. Es wird von einer dafür qualifizierten Person gemäß dem innerstaatlichen Recht durchgeführt (Art. 5 Abs. 5 Satz 2 Dublin III-VO); zudem erstellt der Mitgliedstaat, der das persönliche Gespräch führt, eine schriftliche Zusammenfassung, die zumindest die wesentlichen Angaben des Antragstellers aus dem Gespräch enthält (Art. 5 Abs. 6 Satz 1 Dublin III-VO). Ferner soll dieses Gespräch auch das richtige Verständnis der dem Antragsteller gemäß Artikel 4 bereitgestellten Informationen ermöglichen (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO).
61Zudem ist das in Art. 5 Dublin III-VO vorgesehene persönliche Gespräch von grundlegender Bedeutung, um zu gewährleisten, dass Art. 4 EU-Charta bei der Anwendung der Vorgaben der Dublin III-VO auf den Sachverhalt vollumfänglich gewahrt wird.
62Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO verbietet es einem Mitgliedstaat, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen.
63Verfügen die Behörden eines Mitgliedstaats über Angaben, die der Antragsteller vorgelegt hat, um das Vorliegen einer solchen Gefahr in dem Mitgliedstaat, der bereits internationalen Schutz zuerkannt hat, nachzuweisen, sind sie daher verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen.
64Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019, C-163/17, juris, Rdnr. 90.
65Im Übrigen ist nicht völlig auszuschließen, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, außergewöhnliche Umstände nachweisen kann, die ihr eigen sind und im Fall ihrer Überstellung in den nach der Dublin III-VO zuständigen Mitgliedstaat bedeuten würden, dass sie aufgrund ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit der Gefahr einer gegen Art. 4 EU-Charta verstoßenden Behandlung ausgesetzt wäre.
66Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019, C-163/17, juris, Rdnr. 95.
67Daraus folgt, dass die Beurteilung einer solchen Gefahr zu erfolgen hat, nachdem dem Antragsteller Gelegenheit gegeben wurde, alle Umstände, insbesondere persönlicher Art, vorzutragen, die das Vorliegen der Gefahr bestätigen können. Mit dem persönlichen Gespräch kann die Asylbehörde die spezifische Situation des Antragstellers und den Grad seiner Schutzbedürftigkeit beurteilen und sich vergewissern, dass der Antragsteller aufgefordert wurde, alle Umstände vorzubringen, mit denen nachgewiesen werden könnte, dass ihn eine Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat der Gefahr einer gegen Art. 4 EU-Charta verstoßenden Behandlung aussetzen würde.
68Vgl. für die Entscheidung über die Unzulässigkeit des Asylantrags nach Art. 33 Abs. 2 der Verfahrensrichtlinie EuGH, Urteil vom 16. Juli 2020 – C-517/17 –, juris, Rdnr. 53 f.
69Auch kann die fehlende Anhörung vorliegend weder durch die Möglichkeit des Klägers, in seinem Rechtsbehelf schriftlich die Umstände darzulegen, die die Gültigkeit der über seinen Schutzantrag erlassenen Unzulässigkeitsentscheidung in Frage stellen, noch durch die nach nationalem Recht bestehende Pflicht der Asylbehörde und des mit dem Rechtsbehelf befassten Gerichts, alle relevanten Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln, geheilt werden. Dem Antragsteller darf die Wahrnehmung des Rechts auf die Durchführung eines persönlichen Gesprächs in der durch die Dublin III-VO und die Verfahrensrichtlinie ausgestalteten Form und unter Einhaltung aller dort festgelegten Bedingungen nicht verwehrt werden.
70EuGH, Urteil vom 16. Juli 2020 – C-517/17 –, juris, Rdnr. 71.
71Liegen danach die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. Buchst. a AsylG nicht vor, fehlt es sowohl dem Erlass der Abschiebungsanordnung (§ 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG) als auch den Feststellungen zu Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG) und der Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (§ 11 AufenthG) an der erforderlichen Rechtsgrundlage.
72Die Kostenentscheidung beruht auf den § 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylG.
73Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 167 Abs. 1 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.
74Der Wert des Verfahrensgegenstandes ergibt sich aus § 30 RVG.
75Rechtsmittelbelehrung:
76Gegen dieses Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung die Zulassung der Berufung beantragt werden. Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster.
77Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
781. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
792. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
803. ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
81Der Antrag ist schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
82Der Antrag kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) eingereicht werden.
83In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.
84Im Berufungs- und Berufungszulassungsverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.
85Die Antragsschrift soll möglichst dreifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
- § 25 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- VwVfG § 46 Folgen von Verfahrens- und Formfehlern 3x
- RVG § 30 Gegenstandswert in gerichtlichen Verfahren nach dem Asylgesetz 1x
- VwGO § 67 1x
- 1 C 13/17 1x (nicht zugeordnet)
- 15 K 3663/20 1x (nicht zugeordnet)
- 15 K 4208/20 1x (nicht zugeordnet)
- 15 L 1533/20 1x (nicht zugeordnet)
- 15 L 1383/20 1x (nicht zugeordnet)
- 13 A 1490/13 1x (nicht zugeordnet)
- 11 A 330/19 1x (nicht zugeordnet)