Beschluss vom Verwaltungsgericht Düsseldorf - 29 L 1620/22.A
Tenor
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage 29 K 5362/22.A gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3. des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 18. Juli 2022 wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
Gründe
2Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt C. aus E. ist abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung aus den nachfolgenden Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, vgl. § 166 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) in Verbindung mit § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO).
3Der am 27. Juli 2022 sinngemäß gestellte Antrag,
4die aufschiebende Wirkung der Klage 29 K 5362/22.A gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3. des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 18. Juli 2022 anzuordnen,
5hat keinen Erfolg. Er ist zulässig, aber unbegründet.
6Der Antrag ist als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 des Asylgesetzes (AsylG) zulässig. Die Klage des Antragstellers gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3. des Bescheids vom 18. Juli 2022 hat kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung (vgl. § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG). Die Antragsfrist von einer Woche ist angesichts des Postausgangs bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 20. Juli 2022 mit der Antragstellung am 27. Juli 2022 gewahrt.
7Der Antrag ist aber unbegründet. Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag im Rahmen einer eigenen Ermessensentscheidung die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, wenn das Interesse des Antragstellers an der beantragten Aussetzung der Vollziehung das bezüglich der Abschiebungsanordnung durch § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG gesetzlich angeordnete öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzbarkeit des Verwaltungsakts überwiegt. Für die vorzunehmende Interessenabwägung sind in erster Linie die Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren maßgeblich. Das Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung überwiegt regelmäßig, sofern der angegriffene Bescheid offensichtlich rechtswidrig ist. Ist der Bescheid hingegen offensichtlich rechtmäßig, überwiegt grundsätzlich das Interesse der Allgemeinheit an seiner Vollziehung. Wenn die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen sind, hat eine weitere Interessenabwägung im Sinne einer Folgenbetrachtung stattzufinden.
8Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe fällt die vorzunehmende Interessenabwägung zu Lasten des Antragstellers aus. Die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3. des angefochtenen Bescheids vom 18. Juli 2022 begegnet bei der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Greifbare Anhaltspunkte, aufgrund derer das Suspensivinteresse des Antragstellers das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegen könnte, sind auch im Übrigen nicht ersichtlich.
9Rechtsgrundlage für die Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann.
10Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO), für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
11Die Zuständigkeit richtet sich vorliegend nach den Regelungen über das Wiederaufnahmeverfahren gemäß Art. 23 ff. Dublin III-VO. Im Wiederaufnahmeverfahren ist der zuständige Staat – anders als im Aufnahmeverfahren – nicht nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO zu bestimmen, sondern es ist ausreichend, dass der betreffende andere Mitgliedstaat den Erfordernissen nach Art. 20 Abs. 5 oder Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d Dublin III-VO genügt.
12Vgl. EuGH, Urteil vom 2. April 2019 – C-582/17 und C-583/17 –, juris, Rn. 58 ff.
13Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d Dublin III-VO finden Anwendung, wenn in dem Mitgliedstaat, in dem zuvor ein Antrag gestellt wurde, das Verfahren zur Bestimmung des für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats bereits in einer die Zuständigkeit dieses Staates begründenden Weise abgeschlossen ist, jedoch unabhängig davon, ob dieser Staat mit der Prüfung des Antrags nach der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Verfahrensrichtlinie) bereits begonnen hat.
14Vgl. EuGH, Urteil vom 2. April 2019 – C-582/17 und C-583/17 –, juris, Rn. 51 bis 53.
15Da in einem solchen Fall die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags bereits feststeht, erübrigt sich eine erneute Anwendung der Regeln über das Verfahren zur Bestimmung dieser Zuständigkeit, darunter in erster Linie der in Kapitel III der Dublin III-VO niedergelegten Kriterien.
16Vgl. EuGH, Urteil vom 2. April 2019 – C-582/17 und C-583/17 –, juris, Rn. 67.
17Diese Maßstäbe anwendend ist vorliegend Litauen gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO für das Asylverfahren des Antragstellers zuständig. Nach dieser Norm ist der zuständige Mitgliedstaat verpflichtet, einen Antragsteller, der während der Prüfung seines Antrags in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ohne Aufenthaltstitel aufhält, wiederaufzunehmen.
18So liegt der Fall hier. Ausweislich der vom Bundesamt aus dem Eurodac-Verzeichnis eingeholten Auskunft (Beiakte, Heft 1, Bl. 10) liegt für den Antragsteller ein Eurodac-Treffer der Kategorie „1“ vor. Ein solcher weist die Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz durch die betreffende Person aus, vgl. Art. 24 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über die Einrichtung von Eurodac für den Abgleich von Fingerabdruckdaten zum Zwecke der effektiven Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist und über der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung dienende Anträge der Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten und Europols auf den Abgleich mit Eurodac-Daten sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1077/2011 zur Errichtung einer Europäischen Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (VO 603/2013). Dass der Antragsteller in Litauen einen Asylantrag gestellt hat, folgt auch aus den vom Antragsteller selbst vorgelegten Unterlagen. Zwar wurde der Asylantrag des Antragstellers in Litauen zunächst unter Berufung auf Art. 14012 Abs. 2 des litauischen Gesetzes zur Rechtsstellung von Ausländern (LitAuslG),
19Republic of Lithauania, Law on the legal status of Foreigners, abrufbar unter: https://e-seimas.lrs.lt/portal/legalAct/lt/TAD/ac2cfa50b06f11ecaf79c2120caf5094?jfwid=-1ac9ufoxt9,
20wegen seiner illegalen Einreise nicht vom litauischen Department für Migration entgegengenommen. Aus dem Beschluss des Amtsgerichts Marijampole vom 15. Februar 2022, geht jedoch hervor, dass der Antragsteller am 8. Februar 2022 einen Antrag auf Asyl in der Republik Litauen stellen konnte, über den noch nicht entschieden worden sei. Mit Schreiben vom 25. Juli 2022 haben die litauischen Behörden schließlich ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags des Antragstellers anerkannt, da dieser in Litauen einen Asylantrag gestellt habe. Der Eurodac-Treffer, die Abgabe seiner Fingerabdrücke, die Länge seines Aufenthalts in Litauen, seine Unterbringung in einem Aufnahmelager, die vom Antragsteller vorgelegten litauischen Dokumente sowie der Umstand, dass er dort nach seinen eigenen Angaben von litauischen Behörden angehört worden ist, lassen das Gericht zu der Überzeugung gelangen, dass der Antragsteller in Litauen einen Asylantrag gestellt hat, der von den litauischen Behörden entgegengenommen und über den noch nicht entschieden worden ist.
21Ferner hat der Antragsteller während der Prüfung seines Antrags in einem anderen Mitgliedstaat, nämlich in der Bundesrepublik Deutschland, einen Asylantrag gestellt, so dass die Voraussetzungen von Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO insgesamt vorliegen.
22Die Zuständigkeit Litauens folgt zudem aus Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO. Nach dieser Vorschrift ist davon auszugehen, dass dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wird, wenn innerhalb der hier maßgeblichen Frist von zwei Wochen keine Antwort erteilt wird. Diese Voraussetzungen liegen vor. Litauen hat auf das Wiederaufnahmegesuch des Bundesamts vom 21. Juni 2022 erst am 25. Juli 2022 geantwortet und in seinem Schreiben die eigene Zuständigkeit gemäß Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO anerkannt.
23Ein Zuständigkeitsübergang gemäß Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO, wonach derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags zuständig ist, in dem der neue Antrag gestellt wurde, wenn das Wiederaufnahmegesuch nicht innerhalb von zwei Monaten nach der Eurodac-Treffermeldung erfolgt ist, scheidet aus, weil zwischen der Treffermeldung am 21. Mai 2022 und dem Wiederaufnahmegesuch am 21. Juni 2022, das bei den litauischen Behörden ausweislich einer automatisch generierten E-Mail noch am selben Tag eingegangen ist, nur ein Monat lag.
24Ebenso wenig kommt ein Übergang der Zuständigkeit auf die Antragsgegnerin gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO wegen Ablaufs der sechsmonatigen Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO in Betracht. Die Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch Litauen liegt weniger als sechs Monate zurück und die Überstellungsfrist wurde durch den fristgerecht gestellten Eilantrag unterbrochen.
25Vgl. hierzu: BVerwG, Urteil vom 26. Mai 2016 – 1 C 15.15 –, juris, Rn. 11; BVerwG, Beschluss vom 22. August 2016 – 1 B 95.16 u.a. –, juris, Rn. 8.
26Die Antragsgegnerin ist auch nicht nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO gehindert, den Antragsteller nach Litauen zu überstellen, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gäbe, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylantragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufwiesen, die für den Antragsteller eine ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GR-Charta) bzw. Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) mit sich brächte. Die Voraussetzungen, unter denen dies nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofs,
27EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 –, juris, Rn. 87; EuGH, Urteil und vom 21. Dezember 2011 – C-411/10, –, juris, Rn. 83 ff., 99; EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 –, NVwZ 2011, S. 413,
28der Fall wäre, liegen nicht vor.
29Zwar bezieht sich Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO nur auf die Situation, in der sich die tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta aus systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Personen, die internationalen Schutz beantragen, in dem Mitgliedstaat ergibt, der nach dieser Verordnung als für die Prüfung des Antrags zuständig bestimmt ist. Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sowie aus dem allgemeinen und absoluten Charakter des Verbots in Art. 4 GR-Charta geht jedoch hervor, dass die Überstellung eines Antragstellers in diesen Mitgliedstaat in all jenen Situationen ausgeschlossen ist, in denen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Antragsteller bei seiner Überstellung oder infolge seiner Überstellung eine solche Gefahr laufen wird.
30Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 –, juris, Rn. 87.
31Dabei ist für die Anwendung von Art. 4 GR-Charta gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss, das heißt im Falle der Gewährung internationalen Schutzes, dazu kommt, dass die betreffende Person aufgrund ihrer Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin III-VO einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren.
32Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 –, juris, Rn. 88, 76.
33Insoweit ist das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung befasste Gericht in dem Fall, dass es über Angaben verfügt, die die betreffende Person zum Nachweis des Vorliegens eines solchen Risikos vorgelegt hat, verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen.
34Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 –, juris, Rn. 90 unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 5. April 2016 – C-404/15 und C-659/15 PPU –, juris, Rn. 89.
35Schwachstellen fallen nur dann unter Art. 4 GR-Charta, der Art. 3 EMRK entspricht und nach Art. 52 Abs. 3 GR-Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite hat, wie sie ihm in der EMRK verliehen wird, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt.
36Vgl. EGMR, 21. Januar 2011 – Nr. 30696/09 –, juris, Rn. 253 f.
37Denn im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und insbesondere der Dublin III-VO, die auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruht und durch eine Rationalisierung der Anträge auf internationalen Schutz deren Bearbeitung im Interesse sowohl der Antragsteller als auch der teilnehmenden Staaten beschleunigen soll, gilt die Vermutung, dass die Behandlung dieser Antragsteller in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der GR-Charta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht.
38Vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 und C-493/10 –, juris, Rn. 78 bis 80.
39Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist daher selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann.
40Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 –, juris, Rn. 89 ff.; unter Bezugnahme auf EGMR, 21. Januar 2011 – Nr. 30696/09 –, juris, Rn. 252 bis 263.
41Ausgehend von diesen Maßstäben ist nach aktueller Erkenntnislage nicht ersichtlich, dass in Litauen systemische Schwachstellen im Asylsystem oder in den Aufnahmebedingungen vorliegen, die für den Antragsteller eine ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK mit sich brächte. Im Einzelnen:
42In Litauen existiert ein rechtsstaatliches Asylverfahren mit gerichtlicher Beschwerdemöglichkeit (vgl. Art. 136 ff. LitAuslG). Dies wurde bis Mitte des Jahrs 2021 auch nicht infrage gestellt.
43Vgl. United States Department of State, Lithuania 2020 Human Rights Report, S. 8 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderbericht der Staatendokumentation – Litauen, Gesamtaktualisierung am 2. November 2018, S. 6; VG Düsseldorf, Beschluss vom 22. Dezember 2021 – 12 L 2301/21.A –, juris, Rn. 39; VG Ansbach, Beschluss vom 5. August 2021 – AN 18 S 21.50139 –, juris, S. 7 des Beschlussumdrucks; VG Düsseldorf, Beschluss vom 27. Februar 2019 – 12 L 438/19.A –, S. 3 f. des Beschlussabdrucks, n.v.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 24. April 2019 – 12 L 915/19.A –, S. 4 ff. des Beschlussabdrucks, n.v.; für Berechtigte internationalen Schutzes VG Ansbach, Urteil vom 21. Februar 2020 – 12 K 2479/17.A –, juris, Rn. 21 ff.; VG Ansbach, Urteil vom 22. Januar 2021 – AN 18 K 18.50284 –, juris, Rn. 44 ff.
44Bei seiner Würdigung verkennt das Gericht nicht, dass der litauische Gesetzgeber wegen des Massenzustroms von Flüchtlingen über die belarussisch-litauische Grenze im Juli 2021 bzw. August 2021 ein Gesetzespaket zur Änderung des Asylverfahrens verabschiedet hat, das die Rechte von Asylsuchenden erheblich beschneidet. So sieht Art. 14012 Abs. 1, Abs. 2 LitAuslG im Falle der Ausrufung einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern vor, dass der Asylantrag eines illegal in Litauen eingereisten Ausländers unzulässig ist und deswegen von den litauischen Behörden gar nicht erst entgegengenommen wird. Ausnahmen sieht das Gesetz nur für vulnerable Personen oder bei individuellen Besonderheiten vor. Gemäß Art. 14017 kann ein Ausländer bei Geltung der Notlage in Haft genommen werden, wenn er die litauische Grenze illegal überquert hat. Vor diesem Hintergrund wurden in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung vereinzelt systemische Schwachstellen in Bezug auf das Asylverfahren in Litauen angenommen.
45Vgl. VG Hannover, Beschluss vom 23. Februar 2022 – 12 B 6475/21 –, juris, Rn. 9 f.; diese Frage offen lassend VG Düsseldorf, Beschluss vom 22. Dezember 2021 – 12 L 2301/21.A –, juris, Rn. 18.
46Vorliegend ist indessen bereits zweifelhaft, ob die litauischen Notstandsgesetze überhaupt auf den Antragsteller Anwendung finden, weil dieser ausweislich des Beschlusses des Amtsgerichts Marijampole vom 15. Februar 2022 unter dem 8. Februar 2022 einen Antrag auf Asyl in der Republik Litauen stellen konnte, er mithin nicht mehr als illegal eingereister Ausländer gelten dürfte. Hinzu kommt, dass die litauischen Behörden mit Schreiben vom 25. Juli 2022 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags des Antragstellers anerkannt haben.
47Letztlich kann diese Frage jedoch offen bleiben, weil mittlerweile der Europäische Gerichtshof in einem Eilvorabentscheidungsersuchen des Obersten Verwaltungsgerichts von Litauen die Unvereinbarkeit der Notstandsregelungen des litauischen Ausländergesetzes mit europäischem Recht festgestellt hat.
48EuGH, Urteil vom 30. Juni 2022 – C-72/22 –, juris, Rn. 46 ff.
49Zwar hat der litauische Gesetzgeber die europarechtswidrigen Regelungen des litauischen Ausländergesetzes bislang nicht aufgehoben und den Ausnahmezustand am 28. Juni 2022 bis zum 15. September 2022 verlängert.
50Nachrichtenportal der Schweiz, Litauen verlängert Ausnahmezustand wegen Ukraine-Kriegs, 28. Juni 2022, abrufbar unter: https://www.nau.ch/news/europa/litauen-verlangert-ausnahmezustand-wegen-ukraine-kriegs-66211304.
51Es ist wegen des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens jedoch davon auszugehen, dass diese Regelungen von den Behörden nicht weiter angewandt werden bzw., falls dies doch geschehen sollte, ein Ausländer jedenfalls erfolgreich um gerichtlichen Rechtsschutz nachsuchen kann. Dass das Rechtssystem in Litauen insoweit einwandfrei funktioniert, zeigt allein die Vorlage der Notstandsregelungen durch das Oberste Verwaltungsgericht von Litauen an den EuGH mit dem Antrag, im Eilverfahren hierüber zu entscheiden. Es ist dem Kläger auch zumutbar, die nach dem litauischen Rechtssystem vorgesehen Rechtsbehelfe zu ergreifen, um seine Ansprüche durchzusetzen.
52Vgl. VG Aachen, Beschluss vom 14. Dezember 2017 – 3 L 1753/17.A –, juris, Rn. 60 ff. m.w.N.
53Auch die für Dublin-Rückkehrer in Litauen herrschenden Aufnahmebedingungen lassen einen Schluss auf eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung nicht zu. In Litauen gibt es zwei Zentren zur Unterbringung von Fremden. Asylwerber werden bis zum Ende ihres Verfahrens im Fremdenregistrierungszentrum (FRC) in Pabrade untergebracht. Das umfasst auch eine eventuelle Beschwerdephase. Die Asylbehörde kann auch eine private Unterbringung genehmigen. Während eines Aufenthalts in einer Unterkunft, die von den litauischen Behörden zur Verfügung gestellt wird, hat ein Asylbewerber das Recht, alle Aufnahmeeinrichtungen zu nutzen. Er hat das Recht auf Informationen über seine Rechte und Pflichten und auf staatlich garantierte Prozesskostenhilfe, kostenlose Dienste eines Dolmetschers, kostenlose medizinische Grundversorgung und soziale Leistungen in den Zentren. Nahrung und Hygieneartikel werden von den Zentren zur Verfügung gestellt.
54Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Litauen, Gesamtaktualisierung am 2. November 2018, S. 7 f.; vgl. auch VG Greifswald, Beschluss vom 2. März 2022 – 6 B 36/22 HGW –, juris, S. 6 f. des Beschlussumdrucks; VG Augsburg, Beschluss vom 22. Februar 2022 – Au 5 S 22.50008 –, juris, S. 8 f.; VG Ansbach, Beschluss vom 5. August 2021 – AN 18 S 21.50139 –, juris, S. 7 des Beschlussumdrucks.
55Dass das litauische Versorgungs- und Unterbringungssystem aufgrund der hohen Anzahl von Geflüchteten aus der Ukraine überlastet wäre, ist nicht ersichtlich. Die litauische Regierung hat angemessen auf den Zustrom von Geflüchteten aus der Ukraine reagiert, indem sie zusätzliche Aufnahmeeinrichtungen eingerichtet sowie privaten Haushalten für die Aufnahme ukrainischer Geflüchteter finanzielle Unterstützung zugesichert hat.
56Lithuanian National Radio and Television, Lithuania to expand, open new centres to handel influx of Ukrainian refugees, 23. März 2022, abrufbar unter: https://www.lrt.lt/en/news-in-english/19/1652065/lithuania-to-expand-open-new-centres-to-handle-influx-of-ukrainian-refugees; Lithuanian National Radio and Television, Lithuanians offered compensation for hosting Ukrainian refugees, 21. März 2022, abrufbar unter: https://www.lrt.lt/en/news-in-english/19/1650348/lithuanians-offered-compensation-for-hosting-ukrainian-refugees.
57Litauen strebt zudem eine schnelle Integration der ukrainischen Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt an, um den Flüchtlingen die Möglichkeit zu geben, für ihren Unterhalt selbst zu sorgen. Über 1.200 ukrainische Flüchtlinge konnten bereits einen Arbeitsplatz finden. Litauen gewährt ukrainischen Geflüchteten entweder vorübergehenden Schutz für ein Jahr oder stellt ihnen für ein Jahr ein nationales Visum aus.
58Lithuanian National Radio and Television, Lithuanians offered compensation for hosting Ukrainian refugees, 21. März 2022, abrufbar unter: https://www.lrt.lt/en/news-in-english/19/1650348/lithuanians-offered-compensation-for-hosting-ukrainian-refugees; European Council on Refugees and Exiles, Information Sheet – Measures in response tot he arrival of displaced people fleeing the war in Ukraine, 31. Mai 2022, S. 21, abrufbar unter: https://ecre.org/wp-content/uploads/2022/03/Information-Sheet-%E2%80%93-Access-to-territory-asylum-procedures-and-reception-conditions-for-Ukrainian-nationals-in-European-countries.pdf.
59Alle diese Anstrengung der litauischen Regierung zeigen, dass sie dem Schicksal der Geflüchteten nicht etwa gleichgültig gegenübersteht, sondern dass sie in der Lage ist, rasche und unbürokratische Maßnahmen ergreifen, um den Anliegen aller Asylbewerber gerecht zu werden. Demgegenüber liegen keine greifbaren Anhaltspunkte dahingehend vor, dass die Aufnahme der aus der Ukraine Geflüchteten die allgemeine und wirtschaftliche Lage in Litauen in einer Weise verschlechtert hätte, die einen „Automatismus der Verelendung“ zur Folge hätte.
60Vgl. zu gesunden und arbeitsfähigen Ausländern VG Düsseldorf, Beschluss vom 23. Juni 2022 – 22 L 1170/22.A –, juris, Rn. 69.
61Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Antragsgegnerin veranlassen könnten oder im Einzelfall verpflichten würden, ihr Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, hat der Antragsteller weder substantiiert vorgetragen noch sind sie sonst erkennbar.
62Unter diesen Umständen steht gegenwärtig auch im Sinne von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG fest, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Das Bundesamt hat nach dieser gesetzlichen Maßgabe neben zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen auch zu prüfen, ob der Abschiebung inlandsbezogene Vollzugshindernisse entgegenstehen. Für eine insoweit eigene Entscheidungskompetenz der Ausländerbehörde verbleibt daneben kein Raum.
63Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. September 2014 – 2 BvR 1795/14 –, juris, Rn. 9; OVG NRW, Beschluss vom 30. August 2011 – 18 B 1060/11 –, juris, Rn. 4; OVG Niedersachsen, Urteil vom 4. Juli 2012 – 2 LB 163/10 –, juris, Rn. 41; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 1. Februar 2012 – OVG 2 S 6.12 –, juris, Rn. 4 ff.; Bay. VGH, Beschluss vom 12. März 2014 – 10 CE 14.427 –, juris, Rn. 4; OVG Saarland, Beschluss vom 25. April 2014 – 2 B 215/14 –, juris, Rn. 7; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 31. Mai 2011 – A 11 S 1523/11 –, juris, Rn. 4 ff.; OVG Hamburg, Beschluss vom 3. Dezember 2010 – 4 Bs 223/10 –, juris, Rn. 9 ff.; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 29. November 2004 – 2 M 299/04 –, juris, Rn. 9 ff.
64Dies gilt nicht nur hinsichtlich bereits bei Erlass der Abschiebungsanordnung vorliegender, sondern auch bei nachträglich auftretenden Abschiebungshindernissen und Duldungsgründen.
65Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. September 2014 – 2 BvR 1795/14 –, juris, Rn. 10 m.w.N.
66Derartige zielstaats- oder inlandsbezogene Abschiebungshindernisse sind hier jedoch weder substantiiert vorgebracht worden noch sonst ersichtlich. Der Umstand, dass sich die Schwester des Antragstellers im Bundesgebiet aufhält, führt zu keinem anderen Ergebnis, da diese nicht Familienangehörige im Sinne des Art. 2 lit. Buchst. g Dublin III-VO und damit nicht zur Kernfamilie des Antragstellers gehört, zumal ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis ohnehin nicht vorgetragen wurde.
67Vgl. hierzu VG Lüneburg, Beschluss vom 9. März 2021 – 8 B 111/20 –, juris, S. 10 des Beschlussumdrucks.
68Sonstige Gründe für ein Überwiegen des Interesses des Antragstellers, von der Voll-ziehung der Maßnahme vorläufig verschont zu bleiben, gegenüber dem öffentlichen Vollzugsinteresse sind nicht erkennbar.
69Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
70Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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- § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- § 26a AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- 2 LB 163/10 1x (nicht zugeordnet)
- 12 L 915/19 1x (nicht zugeordnet)
- § 80 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- 18 B 1060/11 1x (nicht zugeordnet)
- Beschluss vom Oberverwaltungsgericht des Saarlandes - 2 B 215/14 1x
- § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG 1x (nicht zugeordnet)