Beschluss vom Verwaltungsgericht Freiburg - 4 K 4471/16

Tenor

Der Antragsgegner wird vorläufig, bis längstens zum Ende des Ausbildungsjahres 2016/17, verpflichtet, dem Mündel der Antragstellerin Hilfe zur Erziehung gemäß § 27 Abs. 3 Satz 2, § 13 Abs. 2 SGB VIII in Form einer sozialpädagogisch begleiteten Ausbildungsmaßnahme im C Jugendwerk zu gewähren.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

Der Antrag der Antragstellerin ist zulässig und hat in der Sache Erfolg.
Die Kammer legt den Antrag der Antragstellerin sachdienlich dahin aus, dass das Antragsbegehren längstens auf den Zeitraum beschränkt ist, auf den sich auch ein Hauptsacheverfahren zulässig nur beziehen könnte, nämlich den Zeitraum bis zum Ende des Ausbildungsjahres 2016/2017; diese Beschränkung folgt daraus, dass die Bewilligung von Kinder- und Jugendhilfe - wie generell von Sozialleistungen - eine Hilfegewährung darstellt, deren Voraussetzungen auf Grundlage der jeweils bestehenden, ggf. geänderten Verhältnisse vom Träger der Jugendhilfe zeitabschnittsweise - und das bedeutet für schul- bzw. ausbildungsbezogene Maßnahmen regelmäßig für jedes Schul- bzw. Ausbildungsjahr - neu zu prüfen sind (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 08.06.1995 - 5 C 30/93 -, juris; Bayer. VGH, Beschluss vom 21.02.2013 - 12 CE 12.2136 -, juris).
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete streitige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO. Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
Die Antragstellerin hat sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft machen können. Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache überwiegen deutlich. Dem Mündel der Antragstellerin ist es außerdem nicht zuzumuten, bis zu einer eventuellen Hauptsacheentscheidung auf eine sozialpädagogisch begleitete Ausbildung zu verzichten; die ihm drohende erhebliche Verschlechterung seines Gesundheitszustands rechtfertigt auch eine teilweise Vorwegnahme der Hauptsache. Im Einzelnen:
1. Nach Aktenlage liegt zunächst ein Anordnungsanspruch mit der angesichts der Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit vor und ist damit glaubhaft gemacht. Denn das Mündel der Antragstellerin hat aller Voraussicht nach einen jugendhilferechtlichen Anspruch auf eine sozialpädagogisch begleitete Ausbildungsmaßnahme gemäß § 27 Abs. 3, § 13 Abs. 2 SGB VIII.
1.1 Der Antragsgegner ist der Auffassung, er sei für den von der Antragstellerin gestellten Antrag auf Gewährung jugendhilferechtlicher Leistungen betreffend eine (geschützte) Ausbildung des Mündels der Antragstellerin im Sinne von § 27 Abs. 3, § 13 Abs. 2 SGB VIII bereits nicht (mehr) sachlich zuständig, da auf Grundlage von § 14 SGB IX die Zuständigkeit auf die Bundesagentur für Arbeit übergegangen sei. Dem folgt die Kammer nicht.
1.1.1 Zwar ist es zutreffend, dass in dem Fall, in dem eine Weiterleitung gemäß § 14 SGB IX erfolgt ist, der zweitangegangene Reha-Träger bei Vorliegen eines entsprechenden Rehabilitationsbedarfs die erforderlichen Rehabilitationsleistungen nach § 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX selbst dann erbringen muss, wenn er hierfür materiell nicht zuständig wäre. Die in § 14 Abs. 2 SGB VIII geregelte Zuständigkeitszuweisung ist bindend; sie erstreckt sich im Außenverhältnis zum Versicherten auf alle Rechtsgrundlagen, die in dieser Bedarfssituation für Rehabilitationsträger vorgesehen sind, und führt dazu, dass dieser Reha-Träger endgültig leistungsverpflichtet ist (vgl. nur BSG, Urteil vom 20.04.2010 - B 1/3 KR 6/09 -, juris; OVG NRW, Beschluss vom 17.02.2011 - 12 A 2170/10 -, juris; Hauck/Noftz, SGB IX, Stand 12/12, § 14 Rn. 14, m.w.N.; JurisPK-SGB VIII, Stand 16.06.2014, § 10 Rn. 96). Hätte folglich der Antragsgegner den Antrag wirksam gemäß § 14 SGB IX an die Bundesagentur für Arbeit weitergeleitet, wäre nunmehr allein diese, nicht aber der Antragsgegner zur Entscheidung über diesen Antrag berechtigt und verpflichtet.
1.1.2 Auch kann der Antragsgegner als Jugendhilfeträger grundsätzlich Rehabilitationsträger im Sinne des Sozialgesetzbuchs IX sein; in § 6 Abs. 1 Nr. 6 sind Träger öffentlicher Jugendhilfe als Träger der Leistungen zur Teilhabe (Rehabilitationsträger) ausdrücklich aufgeführt.
Insoweit ist allerdings zu differenzieren. Rehabilitationsträger ist der Jugendhilfeträger gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 6 SGB IX nämlich nur insoweit, als er Leistungen nach § 5 Nr. 1, 2 und 4 SGB IX erbringt, somit Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, zur Teilhabe am Arbeitsleben oder zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft.
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Die Funktion eines Rehabilitationsträger nimmt das Jugendamt vor diesem Hintergrund von vornherein nur dann wahr, wenn Maßnahmen für seelisch behinderte Jugendliche auf Grundlage von § 35a SGB VIII in Rede stehen. Ergreift das Jugendamt dagegen Maßnahmen im Rahmen der Hilfe zur Erziehung, wie sie in §§ 27 ff. SGB VIII geregelt sind, handelt der Jugendhilfeträger nicht als Rehabilitationsträger (vgl. Wiegand, SGB IX Teil 1, Stand 10/11, § 6 Rn. 27) und kommt folglich eine Weiterleitung gemäß § 14 SGB IX nicht in Betracht (OVG NRW, Urteil vom 01.04.2011 - 12 A 153/10 -, juris; JurisPK-SGB VIII, Stand 16.06.2014, § 10 Rn. 96). So ist es hier, denn nach Aktenlage ist es überwiegend wahrscheinlich - und damit glaubhaft gemacht -, dass es die im Streit stehende Leistung - eine sozialpädagogisch begleitete Ausbildungsmaßnahme - im konkreten Fall als eine (Annex-) Leistung der Erziehungshilfe und nicht als Leistung der Eingliederungshilfe anzusehen ist.
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1.1.2.1 Die Antragstellerin selbst hat gegenüber dem Antragsgegner unter dem 05.09.2016 als Vormund einen Antrag auf Kostenübernahme für eine begleitete Ausbildung für ihr Mündel an der K-Schule des C Jugendwerks gestellt. Spätestens im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzantrags wurde deutlich, dass die Antragstellerin ihren Antrag auf § 27 Abs. 3, § 13 Abs. 2 SGB VIII stützt. Bei Maßnahmen auf Grundlage von § 27 SGB VIII handelt es sich aber um Maßnahmen im Rahmen der Hilfe zur Erziehung, somit ein Aufgabenfeld, in welchem der Antragsgegner nicht Rehabilitationsträger ist.
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Es ist allerdings fraglich, ob sich bereits unter Verweis auf die Antragstellung (als Vormund) die Frage, ob der Antragsgegner vorliegend als Reha-Träger tätig wurde, verneinen lässt. Zwar stellen Hilfen zur Erziehung im Sinne von §§ 27 ff. SGB VIII und Eingliederungshilfen gemäß § 35a SGB VIII nach der Gesetzessystematik unterschiedliche Hilfeleistungen dar, die sich sowohl von ihren formalen Voraussetzungen als auch hinsichtlich der möglichen Hilfsmaßnahmen unterscheiden; so unterscheidet sich insbesondere der Anspruchsinhaber, der (nur) bei Hilfen zur Erziehung der Erziehungsberechtigte, bei Eingliederungsmaßnahmen dagegen das betroffene Kind bzw. der Jugendliche ist (darauf verweisend und die Möglichkeit einer Umdeutung einer Maßnahme daher verneinend VG Bayreuth, Urteil vom 22.09.2014 - B 3 K 13.106 -, juris). Dabei hängt das Handeln des Jugendhilfeträgers wohl auch insoweit nicht von der konkreten Formulierung des Antrags ab, dieser hat vielmehr, wenn er Kenntnis von einem Hilfebedarf erhält, diesen Bedarf unter allen in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen zu prüfen; dies gilt umso mehr, als die Gewährung jugendhilferechtlicher Leistungen zwar das - u.U. auch konkludent erteilte - Einverständnis des Personensorgeberechtigten, nicht aber einen förmlichen Antrag voraussetzt (Schellhorn/Fischer/Mann/Kern, SGB VIII, 5. Aufl., § 27 Rn. 21, m.w.N.).
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1.1.2.2 Auf Grundlage der Erörterungsverhandlung ist die Kammer jedoch zu der Auffassung gelangt, dass die beantragte Maßnahme im konkreten Fall unabhängig vom Wortlaut der Antragstellung voraussichtlich als Hilfe zur Erziehung anzusehen ist.
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1.1.2.2.1 Zwar wurden beim Mündel der Antragstellerin durch die Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter, X, mit Arztbrief vom 05.10.2016, der die Anforderungen des § 35a Abs. 1a Sätze 1, 2 SGB VIII erfüllt, eine soziale Phobie (ICD-10: F 40.1) sowie eine mittelgradige depressive Episode (ICD-10: F 32.1) diagnostiziert. Eine seelische Störung lässt sich beim Mündel der Antragstellerin daher bejahen; dies ist zwischen den Beteiligten auch nicht im Streit. Unerheblich dürfte insoweit sein, dass sich aus den vorliegenden Aktenvorgängen nicht ergibt, dass der Antragsgegner eine ausdrückliche Entscheidung durch Fachkräfte des Jugendamtes - ggf. unter Beteiligung anderer Stellen - über eine daraus resultierende Teilhabebeeinträchtigung des Mündels der Antragstellerin im Sinne von § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII getroffen hätte. Denn er hat eine derartige Entscheidung zumindest konkludent getroffen, indem er den Antrag der Bundesagentur für Arbeit vorgelegt hat.
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1.1.2.2.2 Die Kammer ist allerdings nicht der Auffassung, dass § 35a SGB VIII gegenüber §§ 27 ff. SGB VIII grundsätzlich spezieller ist mit der Folge, dass dann, wenn bei einem Kind oder Jugendlichen eine seelische Behinderung festgestellt wurde, alle jugendhilferechtlichen Leistungen allein auf Grundlage von § 35a SGB VIII zu gewähren wären. Vielmehr stehen nach Auffassung der Kammer Maßnahmen im Rahmen der Hilfe zur Erziehung auf Grundlage von §§ 27 ff. SGB VIII und Maßnahmen der Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII grundsätzlich gleichrangig nebeneinander, überschneiden sich teilweise und ergänzen sich im Übrigen. Ein Hilfebedarf kann folglich die gleichzeitige Gewährung von Hilfe zur Erziehung und Eingliederungshilfe erforderlich machen (Kunkel, SGB VIII, 5. Aufl., § 35a Rn. 69; JurisPK-SGB VIII, Stand 02.12.2016, § 35a Rn. 67; Gerlach/Hinrichs, ZFSH/SGB 2007, 451, 461).
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Dabei können beide Bedarfe, der erzieherische und der behinderungsbedingte Bedarf, unabhängig voneinander bestehen; regelmäßig wird es aber eine Beziehung zwischen ihnen geben, indem entweder die seelische Behinderung auf einem Erziehungsdefizit beruht oder aber durch das Entstehen einer seelischen Behinderung erhöhte Anforderungen an die Erziehungsleistung zu stellen sind, so dass insoweit ein Hilfebedarf entsteht oder sich in seiner Qualität verändert (vgl. dazu Kunkel, SGB VIII, 5. Aufl., § 35a Rn. 69; Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand 05/15, § 35a Rn. 35). Denkbar ist, dass entweder eine erzieherische Hilfe eine Eingliederungshilfe ergänzt oder dass umgekehrt schwerpunktmäßig Eingliederungshilfe geleistet wird, die von erzieherischen Maßnahmen begleitet wird (Gerlach/Hinrichs, ZFSH/SGB 2007, 451, 461).
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Dass auch der Gesetzgeber davon ausgeht, dass es Fallkonstellationen geben kann, in denen gleichzeitig Hilfe zur Erziehung und Eingliederungshilfe zu gewähren sind, ergibt sich aus § 35a Abs. 4 SGB VIII (dazu JurisPK-SGB VIII, Stand 02.12.2016, § 35a Rn. 72 f.; Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand 05/15, § 35a Rn. 55 ff.); diese Regelung setzt voraus, dass ein Hilfebedarf Leistungen der Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII und zugleich Hilfen zur Erziehung gem. §§ 27 ff. SGB VIII umfassen kann, und verlangt in diesem Fall eine möglichst ganzheitliche Betreuung des Kindes, ohne allerdings eine Hilfeform pauschal der anderen unterzuordnen.
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Nach Auffassung der Kammer ist damit eine Betrachtung des Einzelfalls geboten; dies gilt insbesondere für den Fall, dass bei bereits bestehendem Hilfebedarf aufgrund einer Änderung der Bedarfslage weitere Maßnahmen erforderlich werden, die ihrerseits sowohl als Hilfe zur Erziehung als auch als Eingliederungsmaßnahme qualifiziert werden können. Ist etwa bei Kindern und Jugendlichen ein Erziehungsdefizit auszugleichen und wird daher Hilfe zur Erziehung gewährt, so wird ein sich im Verlauf der Hilfe geänderter Bedarf, auch wenn (mit-)ursächlich hierfür eine seelische Behinderung ist, regelmäßig jedenfalls dann vorrangig mit dem Instrumentarium der bereits installierten Hilfe zur Erziehung befriedigt werden, wenn er sich gegenüber dem bisherigen Hilfebedarf als Annex darstellt und von den Hilfearten nach §§ 27 bis 35 SGB VIII abgedeckt wird, wohingegen (zusätzlich) Eingliederungshilfe zu leisten ist, wenn sich der Bedarf nicht allein mit erzieherischen Mitteln decken lässt (vgl. dazu VG Frankfurt, Beschluss vom 10.03.2015 - 6 L 7923/14 -, juris; Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand 05/15, § 35a Rn. 55; JurisPK-SGB VIII, Stand 02.12.2016, § 35a Rn. 67).
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Vorliegend ist zu berücksichtigen: Für das Mündel der Antragstellerin wurde bereits seit vielen Jahren eine Hilfe zur Erziehung auf Grundlage von §§ 27, 33 SGB VIII in Form der Vollzeitpflege eingerichtet. Da das Mündel der Antragstellerin zunehmend an psychischen Problemen litt, trat diese an den Antragsgegner heran mit dem Anliegen, für ihr Mündel im Rahmen einer sozialpädagogisch begleiteten Ausbildungsmaßnahme eine Alltagsstruktur zu schaffen, um auf diese Weise zum einen eine Stabilisierung des Gesundheitszustands zu erreichen und zum anderen die durch den unstrukturierten Tagesablauf aufgetretenen Erziehungsprobleme zu beheben. Dem Antragsgegner ist daher insoweit Recht zu geben, dass Auslöser für den erweiterten Hilfebedarf des Mündels der Antragstellerin dessen psychische Probleme waren, so dass, wenn bislang keine jugendhilferechtlichen Leistungen gewährt worden wären, § 35a SGB VIII zweifellos die zutreffende Rechtsgrundlage für die Gewährung einer begleiteten Ausbildung gewesen wäre. Allerdings wurden bereits Hilfen nach §§ 27, 33 SGB VIII gewährt. § 27 Abs. 3 SGB VIII sieht im Rahmen der Hilfe zur Erziehung als Annex die Gewährung pädagogischer und damit verbundener therapeutischer Leistungen vor sowie bei Bedarf Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen nach § 13 Abs. 3 SGB VIII vor, da pädagogische Betreuung und Unterstützung eines Jugendlichen beim Erwerb einer beruflichen Qualifikation ein wichtiges Mittel zur Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit darstellen. Der zusätzliche Bedarf des Mündels der Antragstellerin kann mithin im Rahmen der Hilfearten nach §§ 27 bis 35 SGB VIII abgedeckt werden. Die Kammer geht vor diesem Hintergrund davon aus, dass sich die sozialpädagogisch betreute Beschäftigungsmaßnahme, wie sie mit der Ausbildung im C Jugendwerk beantragt wurde, trotz des Umstands, dass eine solche Maßnahme ohne Auftreten der psychischen Probleme des Mündels der Antragstellerin vermutlich nicht erforderlich geworden wäre, im vorliegenden Fall als Annex zur bereits gewährten Hilfe zur Erziehung darstellt und nicht als eigenständige Maßnahme auf Grundlage von § 35a SGB VIII.
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Folglich hatte der Antragsgegner nicht als Rehabilitationsträger über den Antrag der Antragstellerin auf Gewährung einer sozialpädagogischen Ausbildungsmaßnahme zu entscheiden, so dass die Weiterleitung des Antrags gemäß § 14 SGB IX ins Leere gegangen und die Zuständigkeit des Antragsgegners nach wie vor gegeben ist. Mithin kann offen bleiben, ob die Weiterleitung des Antrags auch gegen § 4 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 SGB IX verstößt und deshalb unwirksam war.
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1.2 Hat die Antragstellerin mithin glaubhaft gemacht, dass der Antragsgegner für die Gewährung der beantragten sozialpädagogischen Ausbildungsmaßnahme nach wie vor zuständig ist, so scheitert ein Anspruch auf Tätigwerden des Antragsgegners nicht an der Vorschrift des § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII. § 10 SGB VIII bestimmt, dass Verpflichtungen anderer, insbesondere der Träger anderer Sozialleistungen und der Schulen, durch dieses Buch nicht berührt werden. Der Nachrang der Jugendhilfe, der grundsätzlich auch gegenüber Maßnahmen auf Grundlage von § 112 SGB III gilt (vgl. JurisPK-SGB VIII, Stand 02.12.2016, § 10 Rn. 29), hat jedoch keine Auswirkungen auf das Leistungsverhältnis des Anspruchsberechtigten gegenüber dem Jugendhilfeträger, sondern ist von Relevanz allein für die Frage einer möglichen Kostenerstattung zwischen den konkurrierenden Trägern; § 10 SGB VIII begründet kein Leistungsverweigerungsrecht des Jugendhilfeträgers, jener bleibt vielmehr im Sinne eines „Ausfallbürgen“ zuständig (VG Trier, Urteil vom 20.05.2010 - 2 K 26/10.TR -, juris; VG Braunschweig, Urteil vom 19.03.2009 - 3 A 63/08 -, juris; VG Aachen, Beschluss vom 18.11.2004 - 2 L 577/04 -, juris; VG Stuttgart, Beschluss vom 16.02.2015 - 7 K 5740/14 -, juris; DIJuF, Rechtsgutachten vom 17.10.2014, JAmt 2014, 558). Nachdem die Bundesagentur für Arbeit den Antrag der Antragstellerin mit dem Argument abgelehnt hat, die Voraussetzungen des § 112 SGB III seien nicht gegeben, da es zunächst medizinischer Rehabilitationsmaßnahmen bedürfe (vgl. Bescheid vom 24.10.2016, Widerspruchsbescheid vom 28.11.2016), bleibt der Antragsgegner ungeachtet einer möglichen Nachrangigkeit zuständig.
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1.3 Die Antragstellerin hat ferner in der Sache einen Anspruch auf die auf § 27 Abs. 3, § 13 Abs. 2 SGB VIII zu stützende Ausbildungsmaßnahme glaubhaft gemacht.
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1.3.1 Davon, dass im Falle des Mündels der Antragstellerin ein Bedarf für einen strukturierten Tagesablauf besteht, wie ihn die Antragstellerin selbst nicht leisten kann, weswegen es im Herbst bereits zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustands des Mündels mit erneutem Krankenhausaufenthalt kam, geht auch der Antragsgegner aus; er hat zurecht bei der Auswahl der nach Entlassung des Mündels aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie für eine Unterbringung in Betracht kommenden Einrichtungen sein Augenmerk auf die Möglichkeiten der jeweiligen Einrichtung, dem Mündel jenseits des von ihm nicht länger gewünschten Schulalltags entsprechende Tagesstrukturen zu bieten, gelegt. Für das Erfordernis eines strukturierten Tagesablaufs wie auch einer weiteren Perspektive sprechen auch die Ausführungen der mit der Behandlung des Mündels betrauten Oberärztin Dr. Z in ihrer E-Mail an den Antragsgegner vom 01.12.2016.
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1.3.2 Ferner ist überwiegend wahrscheinlich, dass gerade eine sozialpädagogisch betreute Ausbildungsmaßnahme im Sinne von § 27 Abs. 3, § 13 Abs. 2 SGB VIII geeignet und erforderlich ist, um dem Mündel die benötigte Tagesstruktur zu verschaffen.
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Davon, dass der Antragsteller derzeit nicht in der Lage ist, unbegleitet eine Ausbildung zu absolvieren, sondern insoweit Unterstützung benötigt, geht auch der Antragsgegner aus.
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Dass das Mündel der Antragstellerin die begehrte Ausbildungsmaßnahme mit Blick auf seine psychischen Probleme derzeit nicht wahrnehmen könnte und zunächst einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme bedürfte, lässt sich nach aktuellem Sachstand nicht feststellen. Insbesondere lässt sich das Erfordernis vorheriger medizinischer Rehabilitation nicht den - wenn auch spärlichen und vorsichtigen - Äußerungen der behandelnden Ärzte der Kinder- und Jugendpsychiatrie entnehmen. Nicht nur fehlt es an einem entsprechenden Reha-Antrag der behandelnden Ärzte - wären sie von der Erforderlichkeit einer Rehabilitation überzeugt, wäre zu erwarten gewesen, dass ein derartiger Antrag in engem Zusammenhang mit der Entlassung des Mündels gestellt worden wäre -, auch ergibt sich aus der ärztlichen Stellungnahme vom 19.12.2016 die ausdrückliche Empfehlung einer begleiteten Ausbildung. Auf Grundlage dieser - wenn auch vorsichtigen und notgedrungen vorläufigen - Äußerungen der sachverständigen Ärzte ging auch der Antragsgegner in der Erörterungsverhandlung nicht davon aus, dass eine betreute Ausbildung derzeit vom Mündel der Antragstellerin von vornherein nicht zu bewältigen wäre.
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Die angestrebte Ausbildung wird auch nicht durch Maßnahmen und Programme anderer Träger und Organisationen sichergestellt, § 13 Abs. 2 SGB VIII. Denn die Bundesagentur für Arbeit hat mit Bescheid vom 24.10.2016, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 28.11.2016, den Antrag der Antragstellerin auf eine begleitete Ausbildungsmaßnahme abgelehnt mit dem Argument, es bedürfe zunächst einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme, um auf deren Grundlage zu klären, welche Maßnahmen zur umfassenden Integration des Mündels der Antragstellerin in Betracht kämen. Derzeit kann und will die Bundesagentur für Arbeit dem Mündel offenbar keine geeignete betreute Ausbildungsmaßnahme anbieten, die ihm die erforderliche Tagesstruktur und Perspektive böte.
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1.3.3 Auch im Hinblick auf die von der Antragstellerin präferierte Einrichtung - C Jugendwerk - hat die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Zwar obliegt die Entscheidung über die Erforderlichkeit und Geeignetheit einer bestimmten Hilfemaßnahme dem Jugendamt. Diesem steht insoweit ein Beurteilungsspielraum zu, weil es sich bei der Entscheidung über die Notwendigkeit und Geeignetheit der konkreten Hilfe um das Ergebnis eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung des Kindes bzw. des Jugendlichen und mehrerer Fachkräfte handelt, welches nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, jedoch eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituationen enthält, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss.
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Zunächst hatte der Antragsgegner - freilich ohne den Antrag der Antragstellerin inhaltlich zu verbescheiden - für das Mündel die Einrichtung T favorisiert; dies allerdings aufgrund der Annahmen, dass zum einen auch und in erster Linie eine Unterbringung des Mündels der Antragstellerin erforderlich werde, weil die Pflegemutter derzeit nicht bereit sei, ihn wieder bei sich aufzunehmen, und dass zum anderen eine Unterbringung im C Jugendwerk bereits deshalb nicht in Betracht komme, weil das Ausbildungsjahr bereits begonnen habe und das Mündel der Antragstellerin dort nicht aufgenommen werden könne, ohne zugleich eine Ausbildung zu absolvieren. Wie sich im Erörterungstermin herausgestellt hat, treffen beide Annahmen indes nicht (mehr) zu. Denn zum einen kann offenbar eine Aufnahme des Mündels im C Jugendwerk und ein Einstieg in die Ausbildung ab sofort, auch unterjährig, erfolgen; hierfür spricht im Übrigen auch die E-Mail des Leiters der Ausbildung vom 30.11.2016, einem Zeitpunkt, zu dem das Ausbildungsjahr ebenfalls schon begonnen hatte, wonach das Mündel „postwendend in die Ausbildung“ aufgenommen werde, sobald die Finanzierung geklärt sei. Zum anderen ist die Pflegemutter weiterhin bereit, das Mündel der Antragstellerin bei sich aufzunehmen, wenn eine durch eine sozialpädagogisch begleitete Ausbildung geschaffene Tagesstruktur wie auch eine Perspektive gegeben sind. Vor diesem Hintergrund sind auch die im Erörterungstermin anwesenden Vertreter des Antragsgegners der Auffassung der Antragstellerin, eine betreute ambulante Ausbildung im C Jugendwerk stelle die im Falle des Mündels geeignete und erforderliche Hilfemaßnahme dar, der Sache nach nicht entgegengetreten, haben diese vielmehr dem Grunde nach bejaht und sich lediglich auf ihre fehlende Zuständigkeit bezogen.
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2. Ferner hat die Antragstellerin einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Es liegt auf der Hand, dass ihr Mündel mit Blick auf seine psychischen Probleme umgehend, und damit auch für den Zeitraum bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, einer Tagesstruktur wie auch einer (beruflichen) Perspektive bedarf, um nicht erneut - wie bereits vor wenigen Wochen - der Gefahr einer gravierenden Verschlechterung seiner psychischen Situation zu unterliegen. Wegen des Gebots, effektiven Rechtsschutz zu gewähren (vgl. Art. 19 Abs. 4 GG), ist daher von dem Grundsatz, dass ein vorläufiges Rechtsschutzverfahren nicht zu einer Vorwegnahme der Hauptsache führen darf, eine Ausnahme zu machen.
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Die Kostenentscheidung für das gemäß § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfreie Verfahren beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

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