Urteil vom Verwaltungsgericht Freiburg - A 6 K 661/16

Tenor

Der Bescheid der Beklagten vom 16.02.2016 wird aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

 
Der 1955 geborene Kläger wendet sich gegen den Widerruf der mit Bescheid vom 15.02.1994 getroffenen Feststellung, dass die Voraussetzung des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen.
Der 1989 unverfolgt ausgereiste türkische Staatsangehörige war wegen exilpolitischer Betätigung (Teilnahme an Versammlungen, Demonstrationen an auffallender, hervorgehobener Stelle) von Verfolgung bedroht. Mit Urteil vom 09.12.1993 verpflichtete das Verwaltungsgericht X die Beklagte dazu festzustellen, dass im Falle des Klägers die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Mit Bescheid vom 15.02.1994 wurden die Tatbestandsvoraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG gemäß des Verpflichtungsurteils des Verwaltungsgerichts X festgestellt.
Mit Schreiben vom 21.04.2015 hat das Ausländerbüro der Stadt X das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Bundesamt – um Überprüfung gebeten, da ein Antrag auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis vorliege. Da der Kläger seit Jahren samt Familie seinen Lebensunterhalt durch öffentliche Leistungen bestreite, könne eine Niederlassungserlaubnis gemäß § 26 Abs. 3 AufenthG nur erteilt werden bei Bestätigung durch das Bundesamt, dass kein Widerrufsverfahren eingeleitet werde.
Mit Schriftsatz vom 22.09.2015 nahm der Prozessbevollmächtigte des Klägers zu der Prüfung des Asylstatus Stellung und führte aus, dass er mit Blick auf die am 01.08.2015 in Kraft getretene Änderung des § 26 Abs. 3 AufenthG davon ausgehe, dass die Prüfanfrage gegenstandslos geworden sei. Er rege daher an, das Widerrufsverfahren einzustellen.
Das Bundesamt antwortete mit Schreiben vom 09.12.2015, dass zwar seit dem 01.08.2015 eine Nichtwiderrufsmitteilung des Bundesamtes nicht mehr Voraussetzung für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis sei, es jedoch einer Ausländerbehörde unbenommen bleibe, etwa beim Vorliegen besonderer Umstände, das Bundesamt um Überprüfung des Schutzstatus vor Erteilung einer Niederlassungserlaubnis zu ersuchen.
Mit Bescheid vom 16.02.2016 widerrief das Bundesamt die im Bescheid vom 15.02.1994 getroffene Feststellung, dass die Voraussetzung des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Gleichzeitig erkannte es die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus nicht zu und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz. 1 des AufenthG nicht vorliegen. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, sei gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG zu widerrufen, weil sich die erforderliche Prognose drohender politischer Verfolgung nicht mehr treffen lasse. Seit der Verpflichtungsentscheidung des Verwaltungsgerichts X aus dem Jahre 1994 hätten sich die Menschenrechtssituation und die Sachlage erheblich und nachhaltig verändert. Eine menschenrechtswidrige Behandlung stehe im Fall eine Rückkehr des Ausländers in die Türkei nicht mehr zu befürchten. Des Weiteren ist in dem angefochtenen Bescheid in Bezug auf die Menschenrechtslage in der Türkei davon die Rede, dass die den Reformprozess vorantreibende und die Menschenrechtssituation erheblich verbessernde AKP-Regierung erst Ende 2002 gewählt worden sei. Hinsichtlich menschenrechtswidriger Behandlung eines Rückkehrers sei aus den letzten Jahren kein einziger Fall bekannt geworden. Der Kläger habe die Türkei vor über 25 Jahren verlassen, es lägen keinerlei Hinweise vor, dass er sich weiterhin in relevanter Weise als exilpolitischer Oppositioneller betätigt habe. Nach einem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 27.08.2013 hätten sich trotz nach wie vor berichteter Defizite die Verhältnisse in der Türkei dauerhaft deutlich zum Positiven gewandelt. Der Reformprozess dauere schon über ein Jahrzehnt an und werde prinzipiell weitergeführt. Diese Veränderung könne grundsätzlich den Widerruf eines Flüchtlingsstatus tragen, der einem türkischen Staatsbürger vor diesem tiefgreifenden Reformprozess wegen in Deutschland aktiver Unterstützung der PKK zuerkannt worden sei. Eine beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr könne für Personen fortbestehen, bei denen Besonderheiten vorlägen, beispielsweise Eintrag ins Fahndungsregister, anhängige Ermittlungs- oder Strafverfahren sowie besonders exponierte exilpolitische Betätigung, wegen der jemand als potentieller Unterstützung der PKK oder anderer als terroristisch eingestufter Organisationen in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten sei. Unter Berücksichtigung dieses Urteils und der Inaktivität des Klägers sei eine heute noch bestehende Verfolgungsgefahr nicht mehr beachtlich wahrscheinlich.
Auf diesen am 17.02.2016 als Einschreiben zur Post gegebenen Bescheid hat der Kläger am 07.03.2016, einem Montag, Klage erhoben.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.02.2016 aufzuheben,
10 
hilfsweise, Ziffern 2 bis 4 des Bescheids vom 16.02.2016 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzusprechen,
11 
weiter hilfsweise, ihm unter Aufhebung der Ziffern 3 und 4 des Bescheids vom 16.02.2016 den subsidiären Schutzstatus zuzusprechen,
12 
höchst hilfsweise, die Beklagte unter Aufhebung der Ziffer 4 des Bescheids vom 16.02.2016 zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG vorliegen.
13 
Die Beklagte beantragt,
14 
die Klage abzuweisen.
15 
Zur Begründung bezieht sie sich auf den angefochtenen Bescheid.
16 
Die Berichterstatterin hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 16.03.2017 angehört. Wegen des Ergebnisses wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
17 
Dem Gericht liegen die Akten des Bundesamts (ein Heft) vor. Diese Akten waren ebenso wie der Lagebericht des Auswärtigen Amtes betreffend die Türkei mit Stand Januar 2017 Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Hierauf wird wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
18 
Das Gericht konnte verhandeln und entscheiden, obwohl nicht sämtliche Beteiligte im Termin zur mündlichen Verhandlung vertreten waren, denn auf diese Möglichkeit ist in den ordnungsgemäß bewirkten Ladungen hingewiesen worden (§ 102 Abs. 2 VwGO).
19 
Die zulässige Anfechtungsklage ist begründet. Der Bescheid des Bundesamt vom 16.02.2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).
20 
Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG (seinerzeit Feststellung der Voraussetzung des § 51 Abs. 1 AuslG) unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist gemäß Satz 2 der Vorschrift insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.
21 
Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und f der Richtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie, ABl EU Nr. L 304 vom 30.09.2004 S. 12; berichtigt ABl EU Nr. L 204 vom 05.08.2005 S. 24) über das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Wegfall der die Anerkennung begründenden Umstände umgesetzt. Die Widerrufsvoraussetzungen in § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylG sind daher unionsrechtskonform im Sinne der entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie auszulegen. Bei der Prüfung dieses Erlöschensgrundes haben die Mitgliedstaaten nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie zu untersuchen, ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie regelt die Beweislastverteilung dahingehend, dass der Mitgliedsstaat in jedem Einzelfall nachzuweisen hat, dass die betreffende Person nicht länger Flüchtling ist oder es nie gewesen ist. Die unionsrechtlichen Vorgaben für ein Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in seinem Urteil vom 02.03.2010 (Rs. C-175/08 u.a., Abdulla u.a. -, NVwZ 2010, 505) weiter kon-kretisiert. Eine erhebliche Veränderung der der Anerkennung zugrunde liegenden Umstände setzt demnach voraus, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland deutlich und wesentlich geändert haben (vgl. dazu: VGH Bad.-Württ. Urteil vom 27.08.2013, - A 12 S 561/13 -, juris, m.w.N.).
22 
Die Rechtskraft eines zur Flüchtlingsanerkennung verpflichtenden verwaltungsgerichtlichen Urteils steht einer Widerrufsentscheidung nach § 73 Abs. 1 AsylG nicht entgegen, wenn sich die zur Zeit des Urteils maßgebliche Sach- oder Rechtslage nachträglich entscheidungserheblich verändert hat. Nach § 121 Nr. 1 VwGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Die Behörde ist aber bei einer entscheidungserheblichen Änderung des für die Flüchtlingsanerkennung maßgeblichen Sachverhalts nicht gehindert, einen Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft zu widerrufen, den sie in Erfüllung ihrer Verpflichtung aus einem rechtskräftigen Verpflichtungsurteil erlassen hat. Das ist im Asylrecht dann der Fall, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist (VGH Bad.-Württ. Urteil vom 27.08.2013, a.a.O., unter Verweis auf BVerwG, Urteil vom 18.09.2001 - 1 C 7.01 -, BVerwGE 115, 118).
23 
Davon ausgehend ist im vorliegenden Fall jedoch eine Veränderung der Sachlage im Verhältnis zu den dem Urteil des Verwaltungsgerichts X zugrunde gelegten Tatsachen nicht mehr gegeben. Spätestens nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 kann von einem Reformprozess in der Türkei keine Rede mehr sein.
24 
Der Verwaltungsgerichthof Baden-Württemberg hat in dem bereits genannten Urteil, auf das sich auch die Begründung des angefochtenen Widerrufsbescheids bezieht, u.a. angeführt, dass sich die Verhältnisse in der Türkei seit 1999 geändert hätten. Es heißt dort, dass die vergangenen Jahre in der Türkei durch einen tiefgreifenden Reformprozess gekennzeichnet gewesen seien, der wesentliche Teile der Rechtsordnung betroffen habe. Es ist im Weiteren von der Beendigung des Notstandsregimes die Rede. Außerdem gehörten zu dem Reformpaket auch die Ausweitung der Minderheitenrechte vor allem für die Kurden und die Stärkung der Meinungsfreiheit. Zudem habe sich die allgemeine Sicherheitslage in den Kurdengebieten im Südosten der Türkei verbessert. Das Notstandsregime, das in 13 Provinzen gegolten habe, sei mit der Aufhebung des Notstands in den letzten Notstandsprovinzen Diyarbakir und Sirnak im November 2002 beendet worden (VGH Bad.-Württ. Urteil vom 27.08.2013, a.a.O., juris, Rdnr. 70/72).
25 
Diese im Jahr 2013 noch zutreffende Prognose kann nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 nicht mehr aufrechterhalten werden, vielmehr ist zu befürchten, dass sich die Türkei immer mehr in Richtung Diktatur entwickelt. Davon, dass der Reformprozess vorangetrieben wird, kann keine Rede mehr sein. Von „Säuberungsmaßnahmen“ ist die Rede, der landesweite Ausnahmezustand wurde um weitere 3 Monate bis Mitte April verlängert, die Meinungs- und Pressefreiheit sind akut bedroht, zahlreiche kurdische Abgeordnete sind inhaftiert.
26 
In dem jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes (Stand: Januar 2017) heißt es, nach dem Putschversuch habe die Regierung sog. ,,Säuberungsmaßnahmen" gegen Individuen und Institutionen eingeleitet, welche sie der GüIen-Bewegung zurechne oder denen eine Nähe zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder anderen terroristischen Vereinigungen vorgeworfen werde. Im Zuge dieser Maßnahmen seien bislang gegen 103.850 Personen Ermittlungsverfahren eingeleitet, 86.519 Personen in Polizeigewahrsam genommen worden, davon befänden sich 41.034 in Untersuchungshaft (7.597 Polizei, 6.748 Militär, 2.433 Richter und Staatsanwälte) (Stand: 4.1.2017). 76.000 Beamte seien vom Dienst suspendiert worden, auch sei es zur Beendigung des Beamtenverhältnisses bei Militärangehörigen (7.536) gekommen. Die Maßnahmen zielten erklärtermaßen darauf ab, die Anhänger der Gülen-Bewegung aus allen relevanten Institutionen in der Türkei zu entfernen. Bei diesen ,,Säuberungen" werde nicht zwischen Personen unterschieden, denen lediglich eine Nähe zur Gülen-Bewegung vorgeworfen werde und jenen Personen, die einer aktiven Beteiligung am Putschversuch verdächtigt würden. Zur Unterstützung dieser Maßnahmen habe die Regierung am 20.07.2016 den Notstand verhängt, zunächst für drei Monate. Am 19.10.2016 und am 03.01.2017 sei dieser Notstand für jeweils weitere drei Monate verlängert worden. Er gelte nun mindestens bis 19.04.2017. …. Die Regierung habe seit dem Putschversuch eine fast alles beherrschende nationalistische Atmosphäre geschaffen, die gleichermaßen auf Furcht, Euphorie, Propaganda und nationale Einheit setze. Die Atmosphäre speise sich aus den „Säuberungsmaßnahmen" und mit ihnen einhergehenden öffentlichen Aufrufen zur Denunziation, aus der Überhöhung des nationalen Widerstands, der allabendlich mit Demonstrationen auf den zentralen Plätzen der Großstädte gefeiert werde.…..Thematisch fahre Erdogan zur Erreichung seines Ziels seit Sommer 2015 einen verstärkt nationalistischen Kurs, dessen Kernelement das bedingungslose Vorgehen im Kurdenkonflikt gegen die PKK sei. …Viele der zunehmenden Freiheitseinschränkungen und Repressionsmaßnahmen rechtfertige die Regierung mit der Notwendigkeit, den Terrorismus zu bekämpfen. Jedoch würden jenseits der Bekämpfung realer terroristischer Bedrohungen Terrorismusvorwürfe inflationär genutzt. Neben der Einstufung der GüIen-Bewegung als Terrororganisation sei u.a. 57 von 59 Abgeordneten der prokurdischen HDP die parlamentarische Immunität entzogen worden. Die Verfahren gegen die HDP-Abgeordneten stützten sich überwiegend auf angebliche Verstöße gegen die Anti-Terror-Gesetze. Nach Abschluss der Verfahren könnten einige dieser Abgeordneten ihr Mandat verlieren. Aktuell befänden sich 13 HDP-Abgeordnete in Untersuchungshaft (Stand: 30.12.2016). …..Die Meinungs- und Pressefreiheit seien akut bedroht. Seit Juli seien per Notstandsdekret rund 170 überwiegend Gülen-nahe und kurdische Print- und Bildmedien geschlossen worden; ca. 3.000 Journalisten hätten durch Schließungen ihren Job verloren und hätten - gebrandmarkt als Gülenisten oder PKK-Sympathisanten - keine Aussicht darauf, einen neuen zu finden. Als Grundlage für das strafrechtliche Vorgehen gegen diese Personen werde häufig ebenfalls der Terrorismustatbestand bzw. der Vorwurf der Propaganda für terroristische Organisationen angeführt. 140 Journalisten säßen nach Angaben von Human Rights Watch derzeit in Haft (Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei, Stand 04.01.2017; siehe auch ZEIT ONLINE, 26.12.2016: „Anti-Terror-Polizei nimmt HDP-Vizechefin fest“; ZEIT ONLINE, 30.12.2016: „Haftbefehl gegen kritischen Journalisten in der Türkei erlassen“, dieser Artikel betrifft den Journalisten und Buchautor Ahmet Sik; zur Verhaftung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel: ZEIT ONLINE, 27.02.2017: „Richter ordnet Untersuchungshaft gegen „Welt“-Korrespondenten an“).
27 
Auch nach dem 04.01.2017 wurden weitere 6000 Bedienstete entlassen (ZEIT ONLINE, 07.01.2017: „Türkei entlässt weitere 6000 Bedienstete“). Betroffen seien Polizisten, Angestellte des Justiz- und Gesundheitsministeriums und Universitätslehrkräfte. Auch gegen fast 400 Unternehmer wurden Haftbefehle erlassen, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wurden (ZEIT ONLINE, 05.01.2017: „Behörden erlassen Haftbefehl gegen 380 Unternehmer“). Auch wer in der Türkei Aussagen etwa über die PKK online veröffentlicht, muss damit rechnen, verhaftet zu werden. 1.656 Menschen sind inhaftiert worden wegen Beiträgen in sozialen Medien unter anderem über die PKK, in 3700 Fällen wird ermittelt (ZEIT ONLINE, 24.12.2016: „Mehr als 1000 Festnahmen wegen Beiträgen in sozialen Medien“; ZEIT ONLINE, 28.2.2017: „Jeder kann zum Terrorverdächtigen werden“). Auch in Deutschland müssen türkische Staatsbürger damit rechnen, dass etwaige Kritik an der türkischen Regierung bzw. Aussagen zur PKK dem türkischen Generalkonsulat gemeldet werden (ZEIT ONLINE, 23.02.2017: „Türkei fordert offenbar zu Spitzelei an Schulen auf“ und SPIEGEL ONLINE, 09.03.2017: „Willkommen in Istanbul, Sie sind festgenommen“ zur Festnahme von Deutschen und Österreichern mit Wurzeln in der Türkei, die nach ihrer Ankunft am Flughafen Istanbul festgenommen worden sind - wohl wegen ihrer Kritik an Präsident Erdogan. Möglicherweise wurden sie zuvor bespitzelt.)
28 
Soweit es im oben erwähnten Lagebericht des Auswärtigen Amtes mit Stand 04.01.2017 im weiteren Verlauf zur Frage der Behandlung von Rückkehrerinnen und Rückkehrern noch heißt, dass dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden sei, indem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten – dies gelte auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen – gefoltert oder misshandelt worden sei. (Seite 29), kommt diesen Ausführungen nach der mittlerweile eingetretenen weiteren Verschärfung der Situation in der Türkei und der Verschlechterung des Verhältnisses zu Deutschland keine Aussagekraft mehr zu. Diese Passage stimmt wörtlich mit dem Lagebericht mit Stand August 2015 überein, der noch vor dem gescheiterten Putschversuch des Jahres 2016 erstellt worden ist, und ist nicht mehr aktuell. So berichten die Medien - wie bereits ausgeführt - sogar über Festnahmen bei der Einreise von Deutschen und Österreichern mit türkischen Wurzeln wegen ihrer Kritik an Präsident Erdogan. Laut Aussage eines westlichen Diplomaten gehe man von einer „hohen zweistelligen Zahl jeden Monat“ aus. Von einem „Spitzelwerk im Ausland“ ist die Rede und auch davon, dass es für die oben erwähnten Personen „ein unkalkulierbares Risiko“ darstelle, „in die Türkei zu reisen“(SPIEGEL ONLINE, 09.03.2017, a.a.O.; vgl. zur Rückkehrgefährdung in die Türkei schon kurz vor dem Putschversuch: Nieders. OVG, Urteil vom 31.05.2016 - 11 LB 53/15 -, InfAuslR 2016, 450).
29 
Nach alledem ist die Lage in der Türkei zum Zeitpunkt der Entscheidung von absoluter Unsicherheit geprägt. Die Beweislast dafür trägt die Behörde, dass nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist. Nach den vorstehenden Ausführungen zur Lage in der Türkei ist von einer solchen Entwicklung zum Positiven hin absolut nicht auszugehen.
30 
Außerdem hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung ausgesprochen detailreich und glaubhaft geschildert, dass und wie er sich hier in Deutschland auch heute noch politisch für die Organisation Heyva Sor a Kurdistane engagiert und Geld für Hilfsprojekte in den Kurdengebieten sammelt. Das Gericht ist davon überzeugt, dass diese Aktivitäten dem türkischen Geheimdienst nicht verborgen geblieben sind, mithin besteht die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr in die Türkei asylrelevanten Maßnahmen ausgesetzt ist.
31 
Da nach alledem die Voraussetzungen für einen Widerruf der Feststellungen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG nicht vorliegen, ist der angefochtene Bescheid in vollem Umfang auszuheben.
32 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83 b AsylG).

Gründe

 
18 
Das Gericht konnte verhandeln und entscheiden, obwohl nicht sämtliche Beteiligte im Termin zur mündlichen Verhandlung vertreten waren, denn auf diese Möglichkeit ist in den ordnungsgemäß bewirkten Ladungen hingewiesen worden (§ 102 Abs. 2 VwGO).
19 
Die zulässige Anfechtungsklage ist begründet. Der Bescheid des Bundesamt vom 16.02.2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).
20 
Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG (seinerzeit Feststellung der Voraussetzung des § 51 Abs. 1 AuslG) unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist gemäß Satz 2 der Vorschrift insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.
21 
Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und f der Richtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie, ABl EU Nr. L 304 vom 30.09.2004 S. 12; berichtigt ABl EU Nr. L 204 vom 05.08.2005 S. 24) über das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Wegfall der die Anerkennung begründenden Umstände umgesetzt. Die Widerrufsvoraussetzungen in § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylG sind daher unionsrechtskonform im Sinne der entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie auszulegen. Bei der Prüfung dieses Erlöschensgrundes haben die Mitgliedstaaten nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie zu untersuchen, ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie regelt die Beweislastverteilung dahingehend, dass der Mitgliedsstaat in jedem Einzelfall nachzuweisen hat, dass die betreffende Person nicht länger Flüchtling ist oder es nie gewesen ist. Die unionsrechtlichen Vorgaben für ein Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in seinem Urteil vom 02.03.2010 (Rs. C-175/08 u.a., Abdulla u.a. -, NVwZ 2010, 505) weiter kon-kretisiert. Eine erhebliche Veränderung der der Anerkennung zugrunde liegenden Umstände setzt demnach voraus, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland deutlich und wesentlich geändert haben (vgl. dazu: VGH Bad.-Württ. Urteil vom 27.08.2013, - A 12 S 561/13 -, juris, m.w.N.).
22 
Die Rechtskraft eines zur Flüchtlingsanerkennung verpflichtenden verwaltungsgerichtlichen Urteils steht einer Widerrufsentscheidung nach § 73 Abs. 1 AsylG nicht entgegen, wenn sich die zur Zeit des Urteils maßgebliche Sach- oder Rechtslage nachträglich entscheidungserheblich verändert hat. Nach § 121 Nr. 1 VwGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Die Behörde ist aber bei einer entscheidungserheblichen Änderung des für die Flüchtlingsanerkennung maßgeblichen Sachverhalts nicht gehindert, einen Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft zu widerrufen, den sie in Erfüllung ihrer Verpflichtung aus einem rechtskräftigen Verpflichtungsurteil erlassen hat. Das ist im Asylrecht dann der Fall, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist (VGH Bad.-Württ. Urteil vom 27.08.2013, a.a.O., unter Verweis auf BVerwG, Urteil vom 18.09.2001 - 1 C 7.01 -, BVerwGE 115, 118).
23 
Davon ausgehend ist im vorliegenden Fall jedoch eine Veränderung der Sachlage im Verhältnis zu den dem Urteil des Verwaltungsgerichts X zugrunde gelegten Tatsachen nicht mehr gegeben. Spätestens nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 kann von einem Reformprozess in der Türkei keine Rede mehr sein.
24 
Der Verwaltungsgerichthof Baden-Württemberg hat in dem bereits genannten Urteil, auf das sich auch die Begründung des angefochtenen Widerrufsbescheids bezieht, u.a. angeführt, dass sich die Verhältnisse in der Türkei seit 1999 geändert hätten. Es heißt dort, dass die vergangenen Jahre in der Türkei durch einen tiefgreifenden Reformprozess gekennzeichnet gewesen seien, der wesentliche Teile der Rechtsordnung betroffen habe. Es ist im Weiteren von der Beendigung des Notstandsregimes die Rede. Außerdem gehörten zu dem Reformpaket auch die Ausweitung der Minderheitenrechte vor allem für die Kurden und die Stärkung der Meinungsfreiheit. Zudem habe sich die allgemeine Sicherheitslage in den Kurdengebieten im Südosten der Türkei verbessert. Das Notstandsregime, das in 13 Provinzen gegolten habe, sei mit der Aufhebung des Notstands in den letzten Notstandsprovinzen Diyarbakir und Sirnak im November 2002 beendet worden (VGH Bad.-Württ. Urteil vom 27.08.2013, a.a.O., juris, Rdnr. 70/72).
25 
Diese im Jahr 2013 noch zutreffende Prognose kann nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 nicht mehr aufrechterhalten werden, vielmehr ist zu befürchten, dass sich die Türkei immer mehr in Richtung Diktatur entwickelt. Davon, dass der Reformprozess vorangetrieben wird, kann keine Rede mehr sein. Von „Säuberungsmaßnahmen“ ist die Rede, der landesweite Ausnahmezustand wurde um weitere 3 Monate bis Mitte April verlängert, die Meinungs- und Pressefreiheit sind akut bedroht, zahlreiche kurdische Abgeordnete sind inhaftiert.
26 
In dem jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes (Stand: Januar 2017) heißt es, nach dem Putschversuch habe die Regierung sog. ,,Säuberungsmaßnahmen" gegen Individuen und Institutionen eingeleitet, welche sie der GüIen-Bewegung zurechne oder denen eine Nähe zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder anderen terroristischen Vereinigungen vorgeworfen werde. Im Zuge dieser Maßnahmen seien bislang gegen 103.850 Personen Ermittlungsverfahren eingeleitet, 86.519 Personen in Polizeigewahrsam genommen worden, davon befänden sich 41.034 in Untersuchungshaft (7.597 Polizei, 6.748 Militär, 2.433 Richter und Staatsanwälte) (Stand: 4.1.2017). 76.000 Beamte seien vom Dienst suspendiert worden, auch sei es zur Beendigung des Beamtenverhältnisses bei Militärangehörigen (7.536) gekommen. Die Maßnahmen zielten erklärtermaßen darauf ab, die Anhänger der Gülen-Bewegung aus allen relevanten Institutionen in der Türkei zu entfernen. Bei diesen ,,Säuberungen" werde nicht zwischen Personen unterschieden, denen lediglich eine Nähe zur Gülen-Bewegung vorgeworfen werde und jenen Personen, die einer aktiven Beteiligung am Putschversuch verdächtigt würden. Zur Unterstützung dieser Maßnahmen habe die Regierung am 20.07.2016 den Notstand verhängt, zunächst für drei Monate. Am 19.10.2016 und am 03.01.2017 sei dieser Notstand für jeweils weitere drei Monate verlängert worden. Er gelte nun mindestens bis 19.04.2017. …. Die Regierung habe seit dem Putschversuch eine fast alles beherrschende nationalistische Atmosphäre geschaffen, die gleichermaßen auf Furcht, Euphorie, Propaganda und nationale Einheit setze. Die Atmosphäre speise sich aus den „Säuberungsmaßnahmen" und mit ihnen einhergehenden öffentlichen Aufrufen zur Denunziation, aus der Überhöhung des nationalen Widerstands, der allabendlich mit Demonstrationen auf den zentralen Plätzen der Großstädte gefeiert werde.…..Thematisch fahre Erdogan zur Erreichung seines Ziels seit Sommer 2015 einen verstärkt nationalistischen Kurs, dessen Kernelement das bedingungslose Vorgehen im Kurdenkonflikt gegen die PKK sei. …Viele der zunehmenden Freiheitseinschränkungen und Repressionsmaßnahmen rechtfertige die Regierung mit der Notwendigkeit, den Terrorismus zu bekämpfen. Jedoch würden jenseits der Bekämpfung realer terroristischer Bedrohungen Terrorismusvorwürfe inflationär genutzt. Neben der Einstufung der GüIen-Bewegung als Terrororganisation sei u.a. 57 von 59 Abgeordneten der prokurdischen HDP die parlamentarische Immunität entzogen worden. Die Verfahren gegen die HDP-Abgeordneten stützten sich überwiegend auf angebliche Verstöße gegen die Anti-Terror-Gesetze. Nach Abschluss der Verfahren könnten einige dieser Abgeordneten ihr Mandat verlieren. Aktuell befänden sich 13 HDP-Abgeordnete in Untersuchungshaft (Stand: 30.12.2016). …..Die Meinungs- und Pressefreiheit seien akut bedroht. Seit Juli seien per Notstandsdekret rund 170 überwiegend Gülen-nahe und kurdische Print- und Bildmedien geschlossen worden; ca. 3.000 Journalisten hätten durch Schließungen ihren Job verloren und hätten - gebrandmarkt als Gülenisten oder PKK-Sympathisanten - keine Aussicht darauf, einen neuen zu finden. Als Grundlage für das strafrechtliche Vorgehen gegen diese Personen werde häufig ebenfalls der Terrorismustatbestand bzw. der Vorwurf der Propaganda für terroristische Organisationen angeführt. 140 Journalisten säßen nach Angaben von Human Rights Watch derzeit in Haft (Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei, Stand 04.01.2017; siehe auch ZEIT ONLINE, 26.12.2016: „Anti-Terror-Polizei nimmt HDP-Vizechefin fest“; ZEIT ONLINE, 30.12.2016: „Haftbefehl gegen kritischen Journalisten in der Türkei erlassen“, dieser Artikel betrifft den Journalisten und Buchautor Ahmet Sik; zur Verhaftung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel: ZEIT ONLINE, 27.02.2017: „Richter ordnet Untersuchungshaft gegen „Welt“-Korrespondenten an“).
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Auch nach dem 04.01.2017 wurden weitere 6000 Bedienstete entlassen (ZEIT ONLINE, 07.01.2017: „Türkei entlässt weitere 6000 Bedienstete“). Betroffen seien Polizisten, Angestellte des Justiz- und Gesundheitsministeriums und Universitätslehrkräfte. Auch gegen fast 400 Unternehmer wurden Haftbefehle erlassen, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wurden (ZEIT ONLINE, 05.01.2017: „Behörden erlassen Haftbefehl gegen 380 Unternehmer“). Auch wer in der Türkei Aussagen etwa über die PKK online veröffentlicht, muss damit rechnen, verhaftet zu werden. 1.656 Menschen sind inhaftiert worden wegen Beiträgen in sozialen Medien unter anderem über die PKK, in 3700 Fällen wird ermittelt (ZEIT ONLINE, 24.12.2016: „Mehr als 1000 Festnahmen wegen Beiträgen in sozialen Medien“; ZEIT ONLINE, 28.2.2017: „Jeder kann zum Terrorverdächtigen werden“). Auch in Deutschland müssen türkische Staatsbürger damit rechnen, dass etwaige Kritik an der türkischen Regierung bzw. Aussagen zur PKK dem türkischen Generalkonsulat gemeldet werden (ZEIT ONLINE, 23.02.2017: „Türkei fordert offenbar zu Spitzelei an Schulen auf“ und SPIEGEL ONLINE, 09.03.2017: „Willkommen in Istanbul, Sie sind festgenommen“ zur Festnahme von Deutschen und Österreichern mit Wurzeln in der Türkei, die nach ihrer Ankunft am Flughafen Istanbul festgenommen worden sind - wohl wegen ihrer Kritik an Präsident Erdogan. Möglicherweise wurden sie zuvor bespitzelt.)
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Soweit es im oben erwähnten Lagebericht des Auswärtigen Amtes mit Stand 04.01.2017 im weiteren Verlauf zur Frage der Behandlung von Rückkehrerinnen und Rückkehrern noch heißt, dass dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden sei, indem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten – dies gelte auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen – gefoltert oder misshandelt worden sei. (Seite 29), kommt diesen Ausführungen nach der mittlerweile eingetretenen weiteren Verschärfung der Situation in der Türkei und der Verschlechterung des Verhältnisses zu Deutschland keine Aussagekraft mehr zu. Diese Passage stimmt wörtlich mit dem Lagebericht mit Stand August 2015 überein, der noch vor dem gescheiterten Putschversuch des Jahres 2016 erstellt worden ist, und ist nicht mehr aktuell. So berichten die Medien - wie bereits ausgeführt - sogar über Festnahmen bei der Einreise von Deutschen und Österreichern mit türkischen Wurzeln wegen ihrer Kritik an Präsident Erdogan. Laut Aussage eines westlichen Diplomaten gehe man von einer „hohen zweistelligen Zahl jeden Monat“ aus. Von einem „Spitzelwerk im Ausland“ ist die Rede und auch davon, dass es für die oben erwähnten Personen „ein unkalkulierbares Risiko“ darstelle, „in die Türkei zu reisen“(SPIEGEL ONLINE, 09.03.2017, a.a.O.; vgl. zur Rückkehrgefährdung in die Türkei schon kurz vor dem Putschversuch: Nieders. OVG, Urteil vom 31.05.2016 - 11 LB 53/15 -, InfAuslR 2016, 450).
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Nach alledem ist die Lage in der Türkei zum Zeitpunkt der Entscheidung von absoluter Unsicherheit geprägt. Die Beweislast dafür trägt die Behörde, dass nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist. Nach den vorstehenden Ausführungen zur Lage in der Türkei ist von einer solchen Entwicklung zum Positiven hin absolut nicht auszugehen.
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Außerdem hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung ausgesprochen detailreich und glaubhaft geschildert, dass und wie er sich hier in Deutschland auch heute noch politisch für die Organisation Heyva Sor a Kurdistane engagiert und Geld für Hilfsprojekte in den Kurdengebieten sammelt. Das Gericht ist davon überzeugt, dass diese Aktivitäten dem türkischen Geheimdienst nicht verborgen geblieben sind, mithin besteht die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr in die Türkei asylrelevanten Maßnahmen ausgesetzt ist.
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Da nach alledem die Voraussetzungen für einen Widerruf der Feststellungen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG nicht vorliegen, ist der angefochtene Bescheid in vollem Umfang auszuheben.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83 b AsylG).

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