Beschluss vom Verwaltungsgericht Gelsenkirchen - 9 L 1087/20
Tenor
1. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
2. Der Streitwert wird auf 2.500,00 € festgesetzt.
1
Gründe:
2Der Berichterstatter entscheidet als Einzelrichter, weil ihm die Kammer den Rechtsstreit mit Beschluss vom 25. August 2020 zur Entscheidung übertragen hat (§ 6 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
3Der Antrag,
4die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin vom 07.08.2020 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 16.07.2020 wird wieder hergestellt,
5ist gemäß §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass hinsichtlich der in dem – umfänglich angefochtenen – Bescheid der Antragsgegnerin vom 16. Juli 2020 verfügten Entziehung der Fahrerlaubnis (Ziffer 1. des Bescheides) die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der im Verfahren 9 K 3070/20 am 10. August 2020 erhobenen Klage gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 2 VwGO und hinsichtlich der in diesem Bescheid verfügten Zwangsgeldandrohung (Ziffer 2. des Bescheides) die Anordnung der aufschiebenden Wirkung dieser Klage gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO und § 112 Justizgesetz NRW – JustG NRW – begehrt wird. Der Einzelrichter legt den Antrag weiter dahingehend aus, dass hinsichtlich der Gebührenfestsetzung (Ziffer 4. des Bescheides) nicht um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht wird. Bezüglich der Gebührenfestsetzung entfällt die aufschiebende Wirkung ebenfalls kraft Gesetzes, nämlich gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO, so dass ebenfalls die Anordnung der aufschiebenden Wirkung beantragt werden müsste. Ein darauf gerichteter Antrag ist aber unzulässig, wenn vor Antragstellung bei Gericht kein Antrag nach § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO bei der Behörde gestellt worden ist. Allerdings verbietet sich eine Auslegung, die zu einem unzulässigen Antrag führt. Da die Antragstellerin ersichtlich noch keinen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gemäß § 80 Abs. 6 VwGO bei der Antragsgegnerin gestellt hat, geht das Gericht davon aus, dass der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes die Gebührenfestsetzung nicht umfasst. Der Antrag auf vorläufige Herausgabe des Führerscheins wird als Annexantrag auf Rückgängigmachung der Vollziehung (§ 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO) verstanden.
6Der in dieser Auslegung zulässige Antrag ist nicht begründet.
7Eine Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung oder zumindest eine Aufhebung der Vollziehungsanordnung wegen unzureichender Begründung des Vollziehungsinteresses nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO kommt nicht in Betracht.
8Formelle Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Vollziehungsanordnung ist, dass für das besondere Interesse an der Anordnung der sofortigen Vollziehung eine schriftliche Begründung gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO gegeben worden ist. Der Sinn und Zweck dieses Begründungserfordernisses besteht darin, dass sich die Behörde den Ausnahmecharakter der Vollziehungsanordnung bewusst macht und mit besonderer Sorgfalt prüft, ob vorrangige öffentliche Interessen eine Vollziehung bereits vor Eintritt der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes notwendig erscheinen lassen. Pauschale, formelhafte und für eine beliebige Vielzahl von Fallgestaltungen anwendbare Formulierungen genügen deshalb den gesetzlichen Anforderungen im Regelfall nicht. Bei gleichartigen Tatbeständen können allerdings auch typisierte Begründungen ausreichen. Bei der Entziehung der Fahrerlaubnis wegen fehlender Fahreignung ist die zu beurteilende Interessenlage in der großen Mehrzahl der Fälle gleich gelagert. In diesen Fällen ist stets zwischen den Gefahren für herausragend wichtige Schutzgüter wie Leib, Leben und Gesundheit von Verkehrsteilnehmern und dem Interesse des Betroffenen abzuwägen, bis zur Hauptsacheentscheidung im Besitz seiner Fahrerlaubnis zu bleiben. In solchen Fällen ist es nicht zwingend geboten, eine ausschließlich auf den konkreten Einzelfall zugeschnittene Begründung zu geben. Gerade dann, wenn immer wiederkehrenden Sachverhaltsgestaltungen eine typische Interessenlage zugrunde liegt, kann sich die Behörde darauf beschränken, die für diese Fallgruppe typische Interessenlage zur Rechtfertigung der Anordnung der sofortigen Vollziehung aufzuzeigen und deutlich zu machen, dass nach ihrer Auffassung diese Interessenlage auch im konkreten Fall vorliegt.
9Vgl. Bay.VGH, Beschluss vom 13. Oktober 2006 – 11 CS 06.1724 –, juris Rn. 13; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 13. April 2012 – 3 M 47/12 –, juris Rn. 10.
10Diesen Anforderungen wird die von der Antragsgegnerin angeführte Begründung gerecht. Die Antragsgegnerin hat angeführt, auf Grund der von der Antragstellerin ausgehenden Gefahr für die Allgemeinheit der Verkehrsteilnehmer nach nachgewiesener Fahrt unter dem Einfluss von Amphetamin und Cannabis hätten diese ein Recht darauf, dass die Antragstellerin bis zum Nachweis ihrer Fahreignung sofort von der weiteren Teilnahme am Straßenverkehr ausgeschlossen werde.
11Die Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO hängt ferner ab von einer Abwägung der widerstreitenden Interessen an der Suspendierung der angefochtenen Maßnahme einerseits und der Vollziehung des Verwaltungsaktes andererseits. Bei der Abwägung sind auch die Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsbehelfs zu berücksichtigen. Ergibt die im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotene summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage, dass der sofort vollziehbare Verwaltungsakt rechtswidrig ist, überwiegt das private Aufschubinteresse der Antragstellerin. Denn an der Vollziehung einer rechtswidrigen hoheitlichen Maßnahme kann kein öffentliches Interesse bestehen. Ist hingegen der angegriffene Bescheid rechtmäßig und besteht – für den Fall des Antrags auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung – ein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehung, überwiegt regelmäßig das öffentliche Interesse am Bestand der sofortigen Vollziehbarkeit.
12Vorliegend ergibt die Abwägung des Interesses der Antragstellerin einerseits – vorläufig weiter ein Kraftfahrzeug führen zu dürfen – mit dem widerstreitenden öffentlichen Interesse andererseits – die Teilnahme der Antragstellerin am motorisierten Straßenverkehr zum Schutze der anderen Verkehrsteilnehmer sofort zu unterbinden –, dass dem öffentlichen Interesse Vorrang einzuräumen ist. Denn bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung erweisen sich die Entziehung der Fahrerlaubnis mit Aufforderung zur Abgabe des Führerscheins und die Zwangsgeldandrohung als rechtmäßig. Ferner liegen auch keine sonstigen Umstände vor, die ein überwiegendes Aussetzungsinteresse begründen könnten.
13Der Bescheid vom 16. Juli 2020 findet seine Rechtsgrundlage in § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes – StVG – in Verbindung mit § 46 Abs. 1 Satz 1 der Fahrerlaubnisverordnung – FeV –. Danach hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Ungeeignet ist u.a. derjenige, der die notwendigen körperlichen oder geistigen Voraussetzungen nicht erfüllt (vgl. § 2 Abs. 4 Satz 1 StVG). Dies ist nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV insbesondere der Fall, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 FeV vorliegen, welche die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausschließen.
14Nach Ziffer 9.1 der Anlage 4 zur FeV besitzt die notwendige Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht, wer Betäubungsmittel (außer Cannabis) eingenommen hat. Dabei ist beim Konsum von anderen Drogen als Cannabis unerheblich, ob es sich um einen einmaligen, gelegentlichen oder regelmäßigen Konsum handelt. Nummer 9.1 der Anlage 4 zur FeV stellt für den Regelfall weder auf die Häufigkeit der Einnahme noch auf ihren Bezug zum Führen eines Kraftfahrzeuges ab. Es wird weder der missbräuchliche Konsum, eine Abhängigkeit, noch eine gelegentliche oder häufige Einnahme vorausgesetzt, sondern lediglich die „Einnahme“ selbst. Deshalb ist im Regelfall von einer Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen auch dann auszugehen, wenn es sich lediglich um einen einmaligen Vorfall gehandelt hat und zwar unabhängig davon, ob unter dem Einfluss der Betäubungsmittel ein Kraftfahrzeug geführt wurde.
15Ständige Rechtsprechung des OVG NRW, vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 2. April 2012 – 16 B 356/12 -, juris Rn. 2, vom 6. März 2007 – 16 B 332/07 –, juris, m.w.N.; so auch OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 13. April 2012 – 3 M 47/12 –, juris Rn. 6; BayVGH, Beschluss vom 14. Februar 2012 – 11 CS 12.28 –, juris Rn. 9; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 24. Mai 2002, – 10 S 835/02 –, juris Rn. 6; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 2. September 2009 – 1 M 114/09 – juris Rn. 11.
16Die im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein gebotene summarische Prüfung – ergibt, dass sich die Antragstellerin als zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet erwiesen hat, weil sie Amphetamin konsumiert hat.
17Es ist forensisch gesichert, dass die Antragstellerin Amphetamin aufgenommen hat. Das Gericht legt das Ergebnis der forensisch-toxikologischen Untersuchung der am 9. März 2020 um 19:20 Uhr bei der Antragstellerin entnommenen Blutprobe durch das V. F. , J. S. , vom 16. April 2020 zu Grunde, wonach im Blut der Antragstellerin 46 ng/ml Amphetamin festgestellt wurden. Der Blutentnahme ging eine Verkehrskontrolle am 9. März 2020 um 17:50 Uhr voraus. Nach summarischer Prüfung ist davon auszugehen, dass der forensisch gesicherte Wert – entsprechend auch der Angaben der Antragstellerin anlässlich der Verkehrskontrolle am 9. März 2020 – auf einer bewussten Betäubungsmitteleinnahme beruht.
18Die Aufforderung, den Führerschein bei der Antragsgegnerin abzuliefern, findet ihre Rechtsgrundlage in § 3 Abs. 2 Satz 3 und 4 StVG. Die Zwangsgeldandrohung beruht auf §§ 55 Abs. 1, 57 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2, 63 des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (VwVG NRW) und ist rechtlich nicht zu beanstanden.
19Gründe, die es als geboten erscheinen lassen, trotz der im summarischen Verfahren festgestellten Rechtmäßigkeit der Verwaltungsakte der Klage der Antragstellerin aufschiebende Wirkung beizumessen, sind nicht ersichtlich. Die von der Antragstellerin ausgehende Gefährdung des Straßenverkehrs lässt es nicht zu, diese bis zur Entscheidung der Hauptsache hinzunehmen. Etwaige berufliche und private Nachteile hat die Antragstellerin hinzunehmen.
20Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
21Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1, 2 und 3 des Gerichtskostengesetzes (GKG). Dabei orientiert sich das Gericht in Anlehnung an die Streitwertpraxis des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen bei der Streitwertbemessung in Hauptsacheverfahren, die die Entziehung oder Erteilung einer Fahrerlaubnis betreffen, nach § 52 Abs. 1 und 2 GKG grundsätzlich am gesetzlichen Auffangwert. Für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist der sich für die Hauptsache ergebende Wert nach Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs auf die Hälfte zu reduzieren.
22Rechtsmittelbelehrung:
23Gegen den Beschluss zu 1. steht den Beteiligten die Beschwerde an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster zu.
24Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe des Beschlusses schriftlich oder als elektronisches Dokument, letzteres nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV), bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, einzulegen. Sie ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, beim Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, schriftlich oder als elektronisches Dokument, letzteres nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV, einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Das Oberverwaltungsgericht prüft nur die dargelegten Gründe.
25Im Beschwerdeverfahren gegen den Beschluss zu 1. muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für die Einlegung der Beschwerde. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.
26Gegen den Beschluss zu 2. findet innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde statt, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.
27Die Beschwerde ist schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder als elektronisches Dokument, letzteres nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV, bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen einzulegen. Über sie entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, falls das beschließende Gericht ihr nicht abhilft.
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