Urteil vom Verwaltungsgericht Karlsruhe - 6 K 563/06

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Die Berufung und die Sprungrevision werden zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis.
Der 1957 geborene Kläger erwarb am 23.08.1976 die Fahrerlaubnis der früheren Klassen 1, 3 und 4. Im April 2000 teilte das Kraftfahrt-Bundesamt der für den Kläger zuständigen Führerscheinstelle des Landratsamts Rastatt mit, dass dieser nach einer unverbindlichen Wertung 9 Punkte nach dem Mehrfachtäter-Punktesystem des § 4 StVG erreicht habe. Hierauf verwarnte das Landratsamt den Kläger unter dem 12.05.2000 und wies ihn auf die Möglichkeit der Teilnahme an einem Aufbauseminar hin.
Im März 2001 teilte das Kraftfahrt-Bundesamt mit, der Kläger habe zwischenzeitlich insgesamt 14 Punkte erreicht. Hierauf ordnete das Landratsamt Rastatt nach Anhörung des Klägers dessen Teilnahme an einem Aufbauseminar an. Dieser Anordnung kam der Kläger im August und September 2001 nach.
Unter dem 29.10.2004 teilte das Kraftfahrt-Bundesamt mit, der Kläger habe zwischenzeitlich 21 Punkte erreicht.
Nach erfolgter Anhörung entzog die Fahrerlaubnisbehörde des Landratsamts Rastatt mit Verfügung vom 25.11.2004 dem Kläger die Fahrerlaubnis der Klassen 1 und 3 und untersagte ihm das Führen von Kraftfahrzeugen der genannten Klassen. Zugleich forderte es ihn auf, den Führerschein unverzüglich abzuliefern, und es drohte ihm für den Fall der Nichtbefolgung die Anwendung unmittelbaren Zwangs an. Die Verfügung wurde dem Kläger am 02.12.2004 zugestellt.
Am 28.12.2004 erhob der Kläger gegen die Verfügung Widerspruch, welchen das Regierungspräsidium Karlsruhe mit Widerspruchsbescheid vom 24.01.2006 zurückwies. Darin ist ausgeführt, die verfügte Fahrerlaubnisentziehung sei auch vor dem Hintergrund, dass das „Punktekonto“ des Klägers aufgrund zwischenzeitlich eingetretener Tilgungen nur noch 10 Punkte aufweise, rechtmäßig. Denn bei Entziehungen der Fahrerlaubnis nach § 4 Abs.3 Satz 1 Nr. 3 StVG sei auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Entziehungsverfügung abzustellen. Nachträgliche Veränderungen hinsichtlich der zu berücksichtigenden verkehrsrechtlichen Zuwiderhandlungen blieben unberücksichtigt. Derartige Umstände könnten sich allenfalls im Rahmen eines Wiedererteilungsverfahrens auswirken. Der Widerspruchsbescheid wurde dem Kläger am 25.01.2006 zugestellt.
Der Kläger hat am 24.02.2006 Klage erhoben, mit der er beantragt,
die Verfügung des Landratsamts Rastatt vom 25.11.2004 und den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 24.01.2006 aufzuheben.
Zur Begründung der Klage lässt er vortragen, nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sei im Fahrerlaubnisrecht der Zeitpunkt des Erlasses der letzten Behördenentscheidung maßgeblich. Hieran ändere sich auch nichts durch etwaige Besonderheiten der Regelungen zum Punktesystem nach § 4 StVG. Bei einem Stand von 10 Punkten lägen aber die Voraussetzungen für die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 4 Abs.3 Satz 1 Nr.3 StVG nicht vor.
10 
Ursprünglich seitens Klägers vorgebrachte Einwendungen gegen den Punkteansatz im Einzelnen sind von Klägerseite in der mündlichen Verhandlung nicht mehr vorgebracht worden.
11 
Das beklagte Land beantragt,
12 
die Klage abzuweisen.
13 
Es verweist auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums.
14 
Dem Gericht liegen die einschlägigen Akten des Landratsamts Rastatt und des Regierungspräsidiums Karlsruhe (jeweils 1 Heft) vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der beigezogenen Akten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
15 
Die Klage ist zulässig, jedoch unbegründet.
16 
Die Verfügung des Landratsamts Rastatt vom 25.11.2004 sowie der hierzu ergangene Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 24.01.2006 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger daher nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
17 
Das Gericht folgt der Begründung des Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 24.01.2006 und sieht daher von einer umfassenden Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 117 Abs.5 VwGO).
18 
Das Regierungspräsidium geht insbesondere zutreffend davon aus, dass es für die Frage der Rechtmäßigkeit der Entziehung einer Fahrerlaubnis nach § 4 Abs.3 Satz 1 Nr.3 StVG auf die im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Ausgangsentscheidung bestehende Sachlage ankommt. Zwar ist grundsätzlich in der Anfechtungssituation der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung als der maßgebliche Zeitpunkt zur Beurteilung der Sach- und Rechtslage anzusehen, was allgemein auch im Fahrerlaubnisentziehungsverfahren gilt (vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 27.09.1995 - 11 C 34/94 -, BVerwGE 99, 249). Indes kann aus Gründen des materiellen Rechts auch ein anderer Zeitpunkt ausschlaggebend sein. Vorliegend ergibt sich aus dem anzuwendenden materiellen Recht des § 4 StVG, dass es - abweichend vom Regelfall - für die Rechtmäßigkeit einer Entziehung der Fahrerlaubnis aufgrund der Regelungen über das Mehrfachtäter-Punktesystem allein auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe der Verfügung ankommt und nachträgliche Veränderungen hinsichtlich der zu berücksichtigenden verkehrsrechtlichen Zuwiderhandlungen des Betreffenden nicht von Bedeutung sind. So ist in § 4 Abs.3 Satz 1 Nr.3 StVG unmissverständlich geregelt, dass ein Fahrerlaubnisinhaber ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist, sofern sich bei diesem 18 oder mehr Punkte „ergeben“. In diesem Fall soll nach dem erkennbaren Zweck des Gesetzes möglichst schnell und jedenfalls für eine Dauer von sechs Monaten (vgl. § 4 Abs. 10 StVG) der Ausschluss von der Teilnahme am motorisierten Verkehr erfolgen, Auch nach dem Ablauf der sechs Monate soll der Betreffende nicht ohne Weiteres wieder ein Kraftfahrzeug führen dürfen. Dass es dem Gesetzgeber um eine schnell durchzusetzende Maßnahme geht, zeigt sich insbesondere daran, dass nach § 4 Abs.7 Satz 2 StVG Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung zukommt, was bedeutet, dass zur unmittelbaren Umsetzung der Entziehungsverfügung anders als im Regelfall einer Fahrerlaubnisentziehung die Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht erforderlich ist. Es würde nach der Auffassung des Gerichts gerade dieser gesetzlichen Systematik widersprechen, wenn im Laufe eines Widerspruchsverfahrens eintretende Veränderungen zu Gunsten des Fahrerlaubnisinhabers berücksichtigt würden und dieser allein deswegen von der in § 4 Abs.3 Satz 1 Nr. 3 StVG vorgesehenen Maßnahme verschont bliebe. Die Bedeutung, die das Gesetz dem Überschreiten der 18-Punkte-Grenze beimisst und der für das weitere Verfahren vorgesehene Ablauf würden durch eine Rechtsanwendung konterkariert, die die Berücksichtigung von Punktetilgungen während des Laufs eines Widerspruchsverfahren zuließe. Ansonsten könnte der Fahrerlaubnisinhaber durch die Einlegung des Widerspruchs und eine etwaige Verzögerung der Entscheidung der Widerspruchsbehörde die Anzahl der der Entscheidung zugrunde liegenden Punkte zu seinen Gunsten beeinflussen (wie hier VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 17.02.2005 - 10 S 2875/04 -, DÖV 2005, 746-747; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 24.05.2006 - 16 B 1093/05 -, DÖV 2006, 924; Sächs.OVG, Beschl. v. 15.11.2005 - 3 BS 232/05 -, DÖV 2006, 486; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 23.11.2006 - 1 M 140/06 -, NordÖR 2007, 46; Janiszewski/Jagow/Burmann, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 19. Aufl., Rd.Nr.4 c zu § 4 StVG). Der gegenteiligen Auffassung des OVG Rheinland-Pfalz (Beschl. v. 19.07.2006 - 10 B 10750/06 -, DÖV 2006, 834) sowie des OVG Bremen (Beschl. v. 29.06.2006 - 1 B 167/06 -, NJW 2007, 394) kann sich das Gericht nicht anschließen, da diese Entscheidungen die sich aus § 4 StVG ergebende besondere Systematik des Mehrfachtäter-Punktesystems nicht hinreichend berücksichtigen.
19 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs.1 VwGO.
20 
Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, da eine höchstrichterliche Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zu der erörterten entscheidungserheblichen Rechtsfrage bislang nicht ergangen ist. Aus diesem Grund sind sowohl Berufung als auch Sprungrevision gegen das Urteil zuzulassen (§ 124 a Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 sowie § 134 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
21 
Beschluss
Der Streitwert wird gemäß § 52 Abs.2 GKG auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
        
Hinsichtlich der Beschwerdemöglichkeit gegen die Streitwertfestsetzung wird auf § 68 Abs.1 Satz 1 und 3 GKG verwiesen.

Gründe

 
15 
Die Klage ist zulässig, jedoch unbegründet.
16 
Die Verfügung des Landratsamts Rastatt vom 25.11.2004 sowie der hierzu ergangene Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 24.01.2006 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger daher nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
17 
Das Gericht folgt der Begründung des Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 24.01.2006 und sieht daher von einer umfassenden Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 117 Abs.5 VwGO).
18 
Das Regierungspräsidium geht insbesondere zutreffend davon aus, dass es für die Frage der Rechtmäßigkeit der Entziehung einer Fahrerlaubnis nach § 4 Abs.3 Satz 1 Nr.3 StVG auf die im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Ausgangsentscheidung bestehende Sachlage ankommt. Zwar ist grundsätzlich in der Anfechtungssituation der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung als der maßgebliche Zeitpunkt zur Beurteilung der Sach- und Rechtslage anzusehen, was allgemein auch im Fahrerlaubnisentziehungsverfahren gilt (vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 27.09.1995 - 11 C 34/94 -, BVerwGE 99, 249). Indes kann aus Gründen des materiellen Rechts auch ein anderer Zeitpunkt ausschlaggebend sein. Vorliegend ergibt sich aus dem anzuwendenden materiellen Recht des § 4 StVG, dass es - abweichend vom Regelfall - für die Rechtmäßigkeit einer Entziehung der Fahrerlaubnis aufgrund der Regelungen über das Mehrfachtäter-Punktesystem allein auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe der Verfügung ankommt und nachträgliche Veränderungen hinsichtlich der zu berücksichtigenden verkehrsrechtlichen Zuwiderhandlungen des Betreffenden nicht von Bedeutung sind. So ist in § 4 Abs.3 Satz 1 Nr.3 StVG unmissverständlich geregelt, dass ein Fahrerlaubnisinhaber ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist, sofern sich bei diesem 18 oder mehr Punkte „ergeben“. In diesem Fall soll nach dem erkennbaren Zweck des Gesetzes möglichst schnell und jedenfalls für eine Dauer von sechs Monaten (vgl. § 4 Abs. 10 StVG) der Ausschluss von der Teilnahme am motorisierten Verkehr erfolgen, Auch nach dem Ablauf der sechs Monate soll der Betreffende nicht ohne Weiteres wieder ein Kraftfahrzeug führen dürfen. Dass es dem Gesetzgeber um eine schnell durchzusetzende Maßnahme geht, zeigt sich insbesondere daran, dass nach § 4 Abs.7 Satz 2 StVG Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung zukommt, was bedeutet, dass zur unmittelbaren Umsetzung der Entziehungsverfügung anders als im Regelfall einer Fahrerlaubnisentziehung die Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht erforderlich ist. Es würde nach der Auffassung des Gerichts gerade dieser gesetzlichen Systematik widersprechen, wenn im Laufe eines Widerspruchsverfahrens eintretende Veränderungen zu Gunsten des Fahrerlaubnisinhabers berücksichtigt würden und dieser allein deswegen von der in § 4 Abs.3 Satz 1 Nr. 3 StVG vorgesehenen Maßnahme verschont bliebe. Die Bedeutung, die das Gesetz dem Überschreiten der 18-Punkte-Grenze beimisst und der für das weitere Verfahren vorgesehene Ablauf würden durch eine Rechtsanwendung konterkariert, die die Berücksichtigung von Punktetilgungen während des Laufs eines Widerspruchsverfahren zuließe. Ansonsten könnte der Fahrerlaubnisinhaber durch die Einlegung des Widerspruchs und eine etwaige Verzögerung der Entscheidung der Widerspruchsbehörde die Anzahl der der Entscheidung zugrunde liegenden Punkte zu seinen Gunsten beeinflussen (wie hier VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 17.02.2005 - 10 S 2875/04 -, DÖV 2005, 746-747; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 24.05.2006 - 16 B 1093/05 -, DÖV 2006, 924; Sächs.OVG, Beschl. v. 15.11.2005 - 3 BS 232/05 -, DÖV 2006, 486; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 23.11.2006 - 1 M 140/06 -, NordÖR 2007, 46; Janiszewski/Jagow/Burmann, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 19. Aufl., Rd.Nr.4 c zu § 4 StVG). Der gegenteiligen Auffassung des OVG Rheinland-Pfalz (Beschl. v. 19.07.2006 - 10 B 10750/06 -, DÖV 2006, 834) sowie des OVG Bremen (Beschl. v. 29.06.2006 - 1 B 167/06 -, NJW 2007, 394) kann sich das Gericht nicht anschließen, da diese Entscheidungen die sich aus § 4 StVG ergebende besondere Systematik des Mehrfachtäter-Punktesystems nicht hinreichend berücksichtigen.
19 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs.1 VwGO.
20 
Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, da eine höchstrichterliche Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zu der erörterten entscheidungserheblichen Rechtsfrage bislang nicht ergangen ist. Aus diesem Grund sind sowohl Berufung als auch Sprungrevision gegen das Urteil zuzulassen (§ 124 a Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 sowie § 134 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
21 
Beschluss
Der Streitwert wird gemäß § 52 Abs.2 GKG auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
        
Hinsichtlich der Beschwerdemöglichkeit gegen die Streitwertfestsetzung wird auf § 68 Abs.1 Satz 1 und 3 GKG verwiesen.

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