Urteil vom Verwaltungsgericht Köln - 7 K 585/14
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
1
Tatbestand
2Die am 00.00.0000 im L2. geborene Klägerin beantragte unter dem 28.08.2009 die Bewilligung von Rente nach dem Conterganstiftungsgesetz. Sie führte aus, ihre Mutter habe ihr gegenüber erklärt, dass sie während der Schwangerschaft an starken Kopfschmerzen und Schlafstörungen gelitten und hiergegen Medikamente von ihrem Arzt erhalten habe. Da ihre Mutter Analphabetin gewesen sei, wisse sie nicht den Namen der Tabletten. Als Conterganschaden gab die Klägerin zwei kurze Arme mit vier Fingern an der rechten und drei Fingern an der linken Hand an. Zudem verwies sie hinsichtlich der weiteren Schäden auf beiliegende Atteste.
3Der Gutachter Herr Dr. Graf attestierte unter dem 17.11.2008, es handele sich mit Wahrscheinlichkeit um einen Conterganschaden. Unter dem 20.12.2009 stellte er nochmals fest, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit eines Conterganschadens im Hinblick auf die orthopädischen Fehlbildungen gegeben sei.
4Frau E. . X. teilte unter dem 30.10.2011 mit, das rechte äußere Ohr sei fehlgebildet. Ein Zusammenhang zu Thalidomid alleine aufgrund der HNO-Befunde sei nicht herzustellen.
5Mit Bescheid vom 14.11.2011 lehnte die Beklagte den Antrag unter dem Hinweis ab, dass Thalidomid der Firma Grünenthal nicht im L. bzw. im ehemaligen K. vertrieben worden sei. Auch habe die Firma Grünenthal dort thalidomidhaltige Präparate nicht durch einen Handelspartner vertreiben lassen.
6Die Klägerin erhob unter dem 28.11.2011 Widerspruch, den sie unter dem 31.12.2012 begründete. Hierauf holte die Beklagte ein weiteres Gutachten ein. Die Gutachterin Frau Q. . E. . L1. führte unter dem 30.11.2013 aus, dass ein Conterganschaden im höchsten Maße unwahrscheinlich sei. Gegen einen Conterganschaden spreche, dass die Hand-Armfehlbildung der Klägerin sowohl radial als auch ulnar ausgeprägt sei und eine ausgeprägte Beugekontraktur vorliege. Auch die rechtsseitige Fehlbildung der Ohrmuschel (Eingang Gehörgang spaltförmig) entspreche nicht dem Phänotyp. Es handele sich vermutlich um eine Fehlbildung durch Mutation im SALL4-Gen. Mit Widerspruchsbescheid vom 15.01.2014 wies die Beklagte den Widerspruch unter Bezug auf die Ausführungen der Frau Q. . E. . L1. zurück.
7Die Klägerin hat am 02.02.2014 Klage erhoben und trägt vor:
8Der Gutachter Herr Q. . E. . Q1. sei zu dem Ergebnis gekommen, dass die orthopädischen Skelettveränderungen der Klägerin mit einem Conterganschaden vereinbar seien. Das entsprechende Gutachten vom 27.02.2013 legte die Klägerin vor.
9Mit Schriftsatz vom 08.07.2014 trägt sie vor, in den 50er Jahren habe ihr Vater jedes Jahr im Sommer für drei Monate in Slowenien gearbeitet. Er habe von dort ihrer Mutter Tabletten mitgebracht. Sie habe ein Gespräch ihrer mittlerweile verstorbenen Eltern mithören können, in dem ihre Mutter äußerte, sie sei sicher, die Ursache für die Fehlbildungen seien die Tabletten aus T1. gewesen. Unter dem 28.08.2015 ergänzt die Klägerin, ihre Mutter habe während der Schwangerschaft Tabletten von ihrem Arzt erhalten und ihr Vater habe zusätzlich Tabletten aus T. mitgebracht. Dort habe ein Schwarzhandel für Medikamente bestanden, so dass sie nicht sagen könne, aus welchem Nachbarland die Tabletten stammten.
10Die Klägerin beantragt,
11die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14.11.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.01.2014 zu verpflichten, ihr Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz zu gewähren.
12Die Beklagte beantragt,
13die Klage abzuweisen.
14Sie verweist auf die Stellungnahmen der Medizinischen Kommission und holte ergänzend ein weiteres Gutachten von Herrn Q. . E. . Forst ein. Herr Q. . E. . Forst kam unter dem 13.09.2014 zu dem Ergebnis, dass das Fehlbildungsmuster der Klägerin an den beiden oberen Extremitäten aufgrund der Mitbeteiligung der Ulna beidseits ohne entsprechende Reduktion des Oberarmknochens beidseits nicht der typischen Ausprägung thalidomidbedingter Fehlbildungen entspreche.
15Die Beklagte legte weiterhin eine zusammenfassende Übersicht der rechts- und tatsachenvergleichenden Studie „Internationale Studie zu Leistungen und Ansprüchen thalidomidgeschädigter Menschen in 21 Ländern“ der von der Beklagten beauftragten Rechtsanwaltskanzlei E1. Q2. aus März 2011 vor. Ein Vertrieb von Thalidomid in T. oder im L. im Zeitraum 1957 bis 1965 sei aufgrund dieser Studie zu verneinen.
16Im Klageverfahren wurde zudem eine Auskunft der Firma Grünenthal zu dem Vertrieb des Medikamentes im L. und T. eingeholt. Unter dem 10.11.2015 teilte die Firma mit, dass in den 1950er- und 1960er-Jahren ein Vertrieb im L. oder T. weder durch die Firma Grünenthal noch durch Vertriebspartner stattgefunden habe. Es sei nur eine Übergabe eines mitgenommenen Musters nach M. /T. im März 1960 dokumentiert.
17Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
18Gründe
19Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet.
20Der Bescheid der Beklagten vom 14.11.2011 in der Gestalt ihres Widerspruchsbescheides vom 15.01.2014 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Gewährung von Leistungen nach dem Gesetz über die Conterganstiftung für behinderte Menschen in der Fassung der Bekanntmachung vom 25.06.2009 (BGBl. I S. 1537), zuletzt geändert durch das dritte Gesetz zur Änderung des ConstifG (BGBl. I S. 1847).
21Die Gewährung von Leistungen nach § 13 ContStifG – Kapitalentschädigung, Leistungen zur Deckung spezifischer Bedarfe und Conterganrente – setzt gemäß § 12 Abs. 1 ContStifG Fehlbildungen voraus, die mit der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate der Grünenthal GmbH, Aachen, durch die Mutter während der Schwangerschaft in Verbindung gebracht werden können. Mit der durch den Gesetzgeber gewählten Formulierung ist der Kreis der Anspruchsberechtigten bewusst weit gefasst, um zugunsten etwaiger Betroffener dem Umstand Rechnung zu tragen, dass eine über jeden Zweifel erhabene Kausalitätsfeststellung unmöglich ist.
22Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 02.12.2011 - 16 E 723/11 -, vom 25.03.2013 - 16 E 1139/12 - und vom 14.01.2015 - 16 E 435/13 -.
23Mit dieser Beweiserleichterung ist darauf Rücksicht genommen, dass sowohl die Aufklärung der Thalidomideinnahme durch die Mutter als solche nach mehr als 50 Jahren, als auch die eindeutige Feststellung eines naturwissenschaftlichen Zusammenhangs zwischen der Einnahme und einer Fehlbildung an Grenzen stoßen. Dies hat allerdings nicht zur Folge, dass nur theoretische Kausalzusammenhänge in dem Sinne ausreichen, dass Thalidomid als Ursache für die Fehlbildungen nicht auszuschließen ist. Hiermit ließe sich angesichts der Vielfalt anderer möglicher Ursachen der Kreis der anspruchsberechtigten Personen nicht verlässlich eingrenzen. Denn einer Thalidomidembryopathie vom Erscheinungsbild her ähnliche Fehlbildungen treten auch in der Allgemeinbevölkerung auf. Es muss daher mit der gebotenen Wahrscheinlichkeit gerade die Einwirkung von Thalidomid während der embryonalen Entwicklung sein, die in einen ursächlichen Zusammenhang mit den jeweiligen Fehlbildungen gebracht werden kann. Bloße Behauptungen oder Vermutungen reichen hierfür nicht aus.
24Eine gebotene Wahrscheinlichkeit der Einnahme von Thalidomid der Firma Grünenthal durch die Mutter der Klägerin besteht aufgrund des Vortrages der Klägerin zu der Medikamenteneinnahme ihrer Mutter nicht. Vielmehr handelt es sich um bloße Vermutungen. Die Klägerin ist im L. geboren. Zunächst gab sie an, ihre Mutter habe Medikamente von ihrem Arzt erhalten. Aufgrund der Auskunft der Firma Grünenthal steht jedoch fest, dass ein Vertrieb von Thalidomid durch die Firma Grünenthal weder im L. noch in T. stattgefunden hat. Zuletzt trug die Klägerin vor, ihre Mutter habe während der Schwangerschaft auch Tabletten von ihrem Ehemann erhalten. Dieser habe Medikamente aus T. mitgebracht. Dort habe ein Schwarzhandel bestanden. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb die Klägerin diesen Sachverhalt nicht bereits bei Antragstellung mitgeteilt hat. Zudem beruhen die Kenntnisse der Klägerin zu der Medikamenteneinnahme hauptsächlich auf mitgehörten Gesprächen zwischen ihren Eltern. Der Medikamentenname wurde jedoch in diesen Gesprächen nicht erwähnt. Zwar besteht eine theoretische Möglichkeit, dass im Rahmen des Schwarzhandels das Medikament nach T. verbracht worden sein könnte. Objektive Anhaltspunkte, dass die Mutter tatsächlich Thalidomid der Firma Grünenthal eingenommen hat, bestehen jedoch nicht. Da die Eltern der Klägerin bereits verstorben sind, sind auch keine weiteren Ermittlungsansätze erkennbar.
25Der Frage der Tabletteneinnahme muss jedoch nicht weiter nachgegangen werden. Jedenfalls sind die von der Klägerin geltend gemachten Fehlbildungen von ihrem Erscheinungsbild her bei Gesamtbetrachtung nicht so beschaffen, dass sie zumindest mit Wahrscheinlichkeit mit einer Thalidomideinnahme der Mutter in Verbindung gebracht werden können.
26Vgl. zur Bedeutung des Erscheinungsbildes für die Annahme eines Kausalzusammenhangs: Begründung des Gesetzentwurfs über die Errichtung einer nationalen Stiftung „Hilfswerk für das behinderte Kind“, BT-Drs. VI/926, S. 8, ferner OVG NRW, Beschluss vom 14.01.2015 - 16 E 435/13 -.
27Hiervon hat sich die Kammer nach Auswertung sämtlicher ärztlicher Befunde und Stellungnahmen überzeugt.
28Die Klägerin weist an den oberen Extremitäten radiale Klumphände mit vier Fingern ohne Daumen, eine Beugekontraktur des 2. Fingers beidseits, eine Klinodaktylie des Kleinfingers beidseits, eine Unterentwicklung des Mittelfingers links, eine verkürzte und unterentwickelte Ulna beidseits sowie eine Verkürzung der Unterarme beidseits auf.
29Frau Q. . E. . L1. führte hierzu aus, dass ein Conterganschaden aufgrund der Fehlbildungen der oberen Extremitäten in höchstem Maße unwahrscheinlich sei. Die Reduktionsfehlbildungen bei Thalidomid seien zunächst immer radial ausgeprägt. Erst wenn die Reduktion auch den Oberarmknochen umfasse, seien auch Ulna und ulnare Finger betroffen. Trotz Betroffenheit der Ulna und ulnaren Finger bei der Klägerin sei jedoch der Oberarmknochen regelrecht ausgebildet. Dieser Einschätzung stimmte Herr Q. . E. . Forst unter dem 13.09.2014 zu. Dieser führte ebenfalls aus, dass das Fehlbildungsmuster der Klägerin aufgrund der Mitbeteiligung der Ulna ohne Reduktion des Oberarmknochens nicht dem charakteristischen Schädigungsmuster an den oberen Extremitäten entspreche. Angesichts der Wirkweise von Thalidomid ist es nachvollziehbar, wenn die Gutachter die vorliegende Ausprägung der Fehlbildung an den oberen Extremitäten als nicht contergantypisch bezeichnen. Denn die durch Thalidomid bedingten Fehlbildungen folgen grundsätzlich einem bestimmten Schädigungsmuster. Es besteht eine teratologische Reihenfolge der Fehlbildungen an den oberen Extremitäten. Zunächst ist die radiale Seite der Hand betroffen. Bei höheren Schweregraden umfassen die Fehlbildungen den Oberarmknochen und anschließend erst die ulnare Seite.
30Soweit einzelne Fehlbildungen wie eine Ohrmuschelfehlbildung, Hüftfehlstellung oder Skoliose bei einer Thalidomidembryopathie vorkommen, führt dies nicht zu einem anderen Ergebnis.
31Die von Thalidomid hervorgerufenen angeborenen Fehlbildungen können für sich genommen auch andere Ursachen haben.
32vgl. OVG NRW, Beschluss vom 02.12.2011 - 16 E 723/11 - .
33In dieser Weise äußert sich Frau Q. . E. . L1. , die ausführt, dass bei dem vorliegenden Schädigungsmuster eine Mutation des SALL4-Gens in Betracht komme. Ob diese Diagnose tatsächlich zutrifft, bedarf keiner Entscheidung. Es genügt vielmehr, dass nach den überzeugenden Ausführungen der Frau Q. . E. . L1. und des Herrn Q. . E. . Forst ein Conterganschaden nicht wahrscheinlich ist. Auch Frau E. . X. äußerte, dass die Ohrenfehlbildung alleine nicht mit Thalidomid in Verbindung gebracht werden könne.
34Die vorliegenden sachverständigen Stellungnahmen der Frau Q. . E. . L1. und des Herrn Q. . E. . Forst sind auch hinreichend geeignet, dem Gericht die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen zu vermitteln. Sie weisen keine auch für den Nichtsachkundigen erkennbaren (groben) Mängel auf, beruhen vielmehr auf dem anerkannten Wissensstand. Sie gehen von zutreffenden tatsächlichen Verhältnissen aus, enthalten keine unlösbaren Widersprüche und geben keinen Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde oder Unparteilichkeit der Sachverständigen.
35Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 06.02.2012 - 1 A 1337/10 -; BVerwG, Beschluss vom 09.08.1983 - 9 B 1024/83 -.
36Etwas anderes ergibt sich nicht aus den Einschätzungen des Herrn Q. . E. . Q1. und Herrn E. . Graf. Denn beide Gutachter haben nicht die ulnaren Fehlbildungen bei regelrecht ausgebildeten Oberarmknochen thematisiert. Da zu dieser Problematik Angaben fehlen, sind die Ausführungen des Herrn Q. . E. . Q1. und Herrn E. . Graf nicht geeignet, die Stellungnahmen der Frau Q. . E. . L1. und des Herrn Q. . E. . Forst durchgreifend in Zweifel zu ziehen.
37Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 188 Satz 2 VwGO.
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Referenzen
- VwGO § 154 1x
- 16 E 723/11 2x (nicht zugeordnet)
- 16 E 435/13 2x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 188 1x
- 1 A 1337/10 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 113 1x
- 16 E 1139/12 1x (nicht zugeordnet)
- § 12 Abs. 1 ContStifG 1x (nicht zugeordnet)
- 9 B 1024/83 1x (nicht zugeordnet)
- § 13 ContStifG 1x (nicht zugeordnet)