Gerichtsbescheid vom Verwaltungsgericht Köln - 22 K 1012/20.A
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Februar 2020 (Gesch.-Z.: 0000000-000) verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Beklagte.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung abwenden gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Gerichtsbescheids vollstreckbaren Betrages, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
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Tatbestand
2Der Kläger besitzt die türkische Staatsangehörigkeit. Er stammt aus X. , einer Stadt mit etwa 65.000 Einwohnern in der türkischen Region Südostanatolien, die nahe am Dreiländereck Türkei/Irak/Syrien gelegen ist. Er reiste am 21. Oktober 2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 7. November 2019 einen Asylantrag.
3Die persönliche Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) erfolgte am 22. November 2019. Wegen der Einzelheiten des klägerischen Vortrags im Rahmen der Anhörung beim Bundesamt wird in Anwendung von § 77 Abs. 2 AsylG auf die Niederschrift des Bundesamtes (Bl. 102 bis 115 im beigezogenen Verwaltungsvorgang des Bundesamtes) sowie auf die tatsächlichen Feststellungen im Bescheid des Bundesamtes vom 13. Februar 2020 (Bl. 174 f. des beigezogenen Verwaltungsvorgangs des Bundesamtes) Bezug genommen.
4Mit Bescheid vom 13. Februar 2020 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers (Ziffer 2). Es erkannte weder die Flüchtlingseigenschaft noch den subsidiären Schutzstatus zu (Ziffern 1 und 3). Es stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorlägen (Ziffer 4). Es drohte die Abschiebung in die Türkei an (Ziffer 5) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6). Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus: Zwar habe der Kläger glaubhaft vorgetragen, homosexuell zu sein. Allerdings drohe im deswegen in der Türkei keine Verfolgung. Dass er als Kind innerhalb der Familie geschlagen worden sein, wenn er sich zu feminin verhalten habe, stelle keine schwerwiegende Verfolgungshandlung dar, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtfertigen könne. Im Übrigen besteht objektiv keine Verfolgungsgefahr. In der Türkei bestehe kein Verbot in Bezug auf homosexuelle Neigungen oder einvernehmliche homosexuelle Betätigungen unter Erwachsenen. Homosexuelle Handlungen seien nicht strafbar. Ferner würden strafbare Handlungen gegen homosexuelle Personen ebenso sanktioniert wie andere Straftaten auch. Dementsprechend bestehe „formell gesehen“ staatlicher Schutz gegenüber möglicherweise drohenden Verfolgungshandlungen durch Familienmitglieder oder andere zivile Personen. Der Kläger könne erneut in eine Großstadt wie Istanbul oder Izmir ziehen, in denen es eine aktive LGBTI-Szene gebe.
5Der Kläger hat am 26. Februar 2020 Klage erhoben.
6Zur Begründung nimmt er Bezug auf seinen Vortrag im Verwaltungsverfahren.
7Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
8die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Februar 2020 (Gesch.-Z.: 0000000-000) zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sowie ihn als Asylberechtigten anzuerkennen,
9hilfsweise ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
10sowie weiter hilfsweise festzustellen, dass in seiner Person Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorliegen.
11Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
12die Klage abzuweisen.
13Zur Begründung nimmt sie Bezug auf den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes.
14Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge.
15Entscheidungsgründe
16Das Gericht konnte nach Anhörung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist, § 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
17Die Klage ist mit ihrem Hauptantrag zulässig und überwiegend begründet.
18Ziffer 1 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Februar 2020 (Gesch.-Z.: 0000000-000) ist im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten; ihm steht der geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zu, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO.
19Der Kläger hat einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.
20Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
21Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in den §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i. S. d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i. V. m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen – den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG – muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
22Eine Verfolgung i. S. d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
23Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i. S. v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht.
24Vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2011 – 10 C 25/10 –, juris, Rn. 22.
25Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.
26Vgl. zum Ganzen: BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23/12 –, juris, Rn. 32.
27Es ist Sache des Asylbewerbers, die Gründe für seine Furcht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatland politische Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissenstand und Herkunft des Ausländers berücksichtigt werden.
28Vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. August 1990 – 9 B 45.90 –, juris, Rn. 2 und OVG NRW, Urteil vom 14. Februar 2014 – 1 A 1139/13.A –, juris, Rn. 35.
29Gemessen an diesen Grundsätzen steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Im Einzelnen:
30Der Kläger gehört einer „sozialen Gruppe“ im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG an. Nach dieser Vorschrift gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet.
31Hiervon ausgehend gehören homosexuelle Personen in der Türkei einer sozialen Gruppe an. Wie sich aus dem Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei des Auswärtigen Amtes vom 24. August 2020 (Stand: Juni 2020 – dort S. 18 – im Folgenden: Lagebericht AA) ergibt, werden homosexuelle Personen bei Bekanntwerden ihrer sexuellen Orientierung häufig von ihrem sozialen und beruflichen Umfeld ausgegrenzt oder belästigt und nicht selten Opfer von Gewalt und Diskriminierung. Dieser tatsächliche gesellschaftliche Befund des Auswärtigen Amtes setzt denklogisch voraus, dass homosexuelle Personen in der türkischen Gesellschaft als andersartig und als Teil einer von der Mehrheitsgesellschaft deutlich abgegrenzten Gruppe wahrgenommen werden.
32Entgegen der Auffassung des Bundesamtes lässt sich auf der Grundlage des – insgesamt als glaubhaft zu wertenden – Vorbringens des Klägers auch eine begründete Furcht vor Verfolgung feststellen. Dabei verkennt das Bundesamt, dass Homosexuelle durch das Asylrecht nicht nur vor tatsächlichen, aktiven Repressalien geschützt sind, sondern auch dann, wenn sie gezwungen sind, ihre Homosexualität im Herkunftsland geheim zu halten oder Zurückhaltung beim Ausleben ihrer sexuellen Ausrichtung zu üben, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden. Letzteres stellt ebenfalls eine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 AsylG dar.
33Vgl. etwa VG Ansbach, Urteil vom 31. Januar 2018 – AN 10 K 17.31735 –, juris, Rn. 22; VG Magdeburg, Urteil vom 9. April 2018 – 11 A 33/17 –, juris, Rn. 49.
34Daran gemessen war der Kläger in der Türkei vor seiner Ausreise Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG ausgesetzt. Er hat bei seiner Anhörung detailliert, in sich widerspruchsfrei und ausgesprochen ausführlich – und damit insgesamt glaubhaft – geschildert, wie er seit seiner Kindheit aufgrund seiner sexuellen Orientierung körperlicher und psychischer Gewalt durch seine Familie ausgesetzt war und letztlich bis heute ist, und wie er sich aufgrund dessen mehr oder weniger ununterbrochen hat kontrollieren müssen, um nicht „feminin“ bzw. um „männlich“ zu wirken. Aufgrund des insgesamt glaubhaften Vortrags des Klägers steht auch zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger aufgrund objektiver und nicht lediglich subjektiv wahrgenommener Umstände mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgungshandlungen im oben beschriebenen Sinne bedroht war und auch heute noch ist. Dies ergibt sich schon daraus, dass der Kläger bereits als Kind körperliche Gewalt erfahren musste, wenn er sich in den Augen seiner Familie zu „feminin“ verhalten hat. Hinzu kommen die in späteren Jahren immer häufigeren Fragen und Vorhaltungen, weshalb der Kläger noch nicht geheiratet habe. Gemeinsam mit den „Angeboten“, ihm bei der Suche nach einer passenden Ehefrau behilflich zu sein, stellt dies psychische Gewalt im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG dar, denn in diesen Fragen, Vorhaltungen und „Angeboten“ wurde dem Kläger durch sein unmittelbares soziales Umfeld letztlich eindeutig zu erkennen gegeben, dass der vermeintliche Wunsch, nicht zu heiraten, nicht akzeptiert wird. Erst recht muss dies für den eigentlichen Grund für die Ehelosigkeit des Klägers, nämlich dessen sexuelle Orientierung gelten. Hinzu kommt der 2013 festgestellte HIV-Befund. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Kläger aus X. stammt, einer Stadt mit etwa 65.000 Einwohnern in der türkischen Region Südostanatolien, die nahe am Dreiländereck Türkei/Irak/Syrien gelegen ist. Wenn es im Lagebericht des Auswärtigen Amtes heißt, dass es in Großstädten und an der Südküste in bestimmten Bereichen möglich sei, Homosexualität zu zeigen, darüber hinaus die Homosexualität aber gesellschaftlich nicht akzeptiert sei, dann dürfte letzteres für die Heimatregion des Klägers in besonderem Maße gelten. Denn die Heimatregion des Klägers dürfte von den genannten Gebieten, in denen es möglich ist, Homosexualität zu zeigen, nicht nur räumlich sehr weit entfernt sein. Es ist also mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger von einer durch die Ablehnung seiner eigentlichen Identität geprägten psychischen Gewalt permanent umgeben war und es ihm jedenfalls in seiner Heimatstadt praktisch nie möglich war, dieser zu entgehen oder auch nur auszuweichen. Den Aspekt der bereits vor seinem Umzug nach Istanbul erlittenen massiven psychischen Gewalt berücksichtigt das Bundesamt im angefochtenen Bescheid nicht hinreichend.
35Soweit die Verfolgungshandlungen von der Familie des Klägers sowie des sonstigen sozialen Umfeldes ausgehen, stellen diese auch nichtstaatliche Akteure im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG dar. Der türkische Staat ist ausweislich der Erkenntnisse des Auswärtigen Amtes jedenfalls nicht willens, Schutz im Sinne des § 3d AsylG zu bieten. Der Schutz vor Verfolgung muss nach § 3d Abs. 2 Satz 1 AsylG wirksam und darf nicht nur vorübergehender Natur sein. Hierzu führt das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht von 2020 aus, dass die türkische Regierung sich nicht aktiv um eine Verbesserung der gesellschaftlichen Akzeptanz bemühe. Ein solches Bemühen wäre jedoch mindestens erforderlich, um Betroffene wie den Kläger vor psychischer Gewalt im vorstehend beschriebenen Sinne wirksam zu schützen. Da der türkische Staat demgegenüber Veranstaltungen von LGBTI-Organisationen selbst in Metropolen wie Istanbul und Izmir regelmäßig mit Verweis auf den Schutz der öffentlichen Sicherheit und Gefährdung der Versammlungsteilnehmer verbietet, bringt er damit mehr oder weniger offen zum Ausdruck, dass eine Diskriminierung von LGBTI-Personen staatlicherseits akzeptiert wird. Damit erhöht der türkische Staat die Anwendung psychischer Gewalt, anstatt diese zu bekämpfen. Davon abgesehen stellt sich noch nicht einmal der Schutz vor körperlicher Gewalt als wirksam dar. Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes heißt es dazu auf Seite 18, dass laut den letzten verfügbaren Zahlen 2018 insgesamt 62 LGBTI-Personen Opfer von körperlicher Gewalt geworden seien. Nur neun dieser Fälle seien der Polizei gemeldet worden; nur zwei davon seien angeklagt worden. Vor diesem Hintergrund sind die Ausführungen des Bundesamtes im angefochtenen Bescheid, wonach „formell gesehen“ staatlicher Schutz gegenüber möglicherweise drohenden Verfolgungshandlungen durch Familienmitglieder oder andere zivile Personen bestehe, da strafbare Handlungen gegen homosexuelle Personen gemäß dem türkischen Gesetz ebenso sanktioniert würden wie andere Straftaten auch, nicht haltbar. Das Bundesamt stellt hier auf eine rein formale Betrachtungsweise ab. Dies ist mit § 3d Abs. 2 Satz 1 AsylG indes nicht vereinbar, da es insoweit auf die tatsächliche und nicht lediglich auf die formale Wirksamkeit staatlicher Schutzmaßnahmen ankommt.
36Dem Kläger steht auch keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Hier scheitert die inländische Fluchtalternative daran, dass es keinen Landesteil gibt, in dem der Kläger keine begründete Furcht vor Verfolgung hat. Zwar heißt es im Lagebericht des Auswärtigen Amtes, dass es in Großstädten (Istanbul, Izmir, Ankara) und an der Südküste in bestimmten Bereichen möglich sei, Homosexualität zu zeigen. Dies ist im vorliegenden Zusammenhang jedoch unerheblich. Denn diese Feststellung zielt ersichtlich darauf ab, dass in diesen Gebieten für LGBTI-Personen – jedenfalls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit – keine Verfolgungshandlungen durch die anderen Bewohner dieser Gegenden drohen. Hier gehen die Verfolgungshandlungen indes von der Familie des Klägers sowie von dessen unmittelbaren sozialen Umfeld aus. Um dieser Bedrohung zu entgehen, müsste der Kläger auch in Großstädten wie Istanbul, Izmir oder Ankara mehr oder weniger versteckt leben, so dass von einer „Aufnahme“ in diesem Landesteil gemäß § 3e Abs. 1 AsylG nicht die Rede sein kann.
37Dem Kläger steht jedoch ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16a Abs. 1 GG nicht zu, denn er ist auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland eingereist (vgl. Art. 16a Abs. 2 Satz GG).
38Da der Kläger mit seinem Hauptantrag überwiegend Erfolg hat, war über die Hilfsanträge nicht mehr zu befinden.
39Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, § 83b AsylG. Nach § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO können die Kosten einem Beteiligten ganz auferlegt werden, wenn der andere nur zu einem geringen Teil unterlegen ist. So liegt der Fall hier. Die Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG deckt sich praktisch vollständig mit der Flüchtlingsanerkennung nach § 3 AsylG. Dass der Kläger im Hinblick auf Art. 16a Abs. 1 GG unterlegen ist, fällt daher praktisch nicht ins Gewicht, so dass es sachgerecht erscheint, die Kosten vollständig der Beklagten aufzuerlegen.
40Die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711, 709 Satz 2 ZPO.
41Rechtsmittelbelehrung
42Den Beteiligten steht die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
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1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
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2. der Gerichtsbescheid von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
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3. ein in § 138 Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
Die Zulassung der Berufung ist innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Gerichtsbescheides schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, zu beantragen. Der Antrag muss den angefochtenen Gerichtsbescheid bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.
48Statt in Schriftform können die Einlegung und die Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
49Die Begründung ist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
50Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten und ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
51Gegen diesen Gerichtsbescheid können die Beteiligten wahlweise statt dessen auch innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, schriftlich, als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle mündliche Verhandlung beantragen.
52Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
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Referenzen
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- Urteil vom Verwaltungsgericht Magdeburg (11. Kammer) - 11 A 33/17 1x
- 10 C 23/12 1x (nicht zugeordnet)
- 1 A 1139/13 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 55a 2x