Urteil vom Verwaltungsgericht Magdeburg (11. Kammer) - 11 A 33/17

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Zuerkennung internationalen Schutzes, hilfsweise die Feststellung eines Abschiebungsverbotes sowie die Beklagte zu verpflichten, über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

2

Der Kläger (* … in B., ledig) ist türkischer Staatangehöriger, kurdischer Volkszugehörigkeit und islamischen Glaubens. Nach der Schule, die er bis zur 8. Klasse besucht hatte, arbeitete er zunächst als Kellner und als Koch, später verkaufte er Fährkarten an Touristen. Seinen Wehrdienst leistete er von 2000 – 2002 ab. Zuletzt lebte er in A. bei seinem Bruder und dessen Familie.

3

Am 08.07.2017 verließ er die Türkei auf dem Landweg und reiste am 10.07.2017 in der Bundesrepublik ein.

4

Sodann stellte er am 27.07.2017 einen Asylantrag und wurde hierzu am selben Tag von der Beklagten angehört.

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Hier gibt er an, wegen seiner Homosexualität aus Angst vor seinem Bruder und seinem Vater geflohen zu sein.

6

Er habe eine schwierige Kindheit gehabt und sich mit 14 oder 15 Jahren als Mädchen gefühlt. Als er daraufhin nach Istanbul geflohen sei, habe ihn sein Bruder gefunden. Mutter und Bruder hätten ihn verprügelt und für mehrere in das Zimmer gesperrt, weil sie geahnt hätten, dass er sich nicht richtig verhalte. Insgesamt sei er dreimal vor seiner Familie geflohen. Zwei seiner Freunde seien vor langer Zeit umgebracht worden.

7

Seine Familie werde ihn umbringen, wenn sie ihn fänden. Ein Bruder sei gewalttätig und sitze derzeit im Gefängnis. Er komme aber bald frei, dann werde er ihn – den Kläger- töten. Auch sein Vater habe gesagt, wenn das stimme, was er gehört habe, könne er ihm nicht helfen. Das sei eine Morddrohung gewesen.

8

Während des Wehrdienstes sei er bei einem Psychiater gewesen, der ihm Tabletten verschrieben habe. Den Arzt habe er aufgesucht, weil er keine Freunde gehabt und sich einsam gefühlt habe. Seine Mutter habe ihn danach auch noch einmal zum Arzt geschickt, von seiner Homosexualität zu wissen. Er habe wieder Beruhigungstabletten bekommen. Auch in Deutschland habe er einen Arzt aufgesucht. Er fühle sich hier nicht wohl.

9

Um seine Familie zu beruhigen habe er häufiger Fotos von sich mit Mädchen geschickt, sich einen Bart wachsen lassen und nur Männerkleidung getragen. Seine Familie habe ihn einmal mit einem Mädchen verlobt. Als er in Istanbul andere Kleidung getragen habe, sei er von einem Bekannten aus B. an seine Familie verraten worden. Nach dem Tod seiner Mutter im Jahr 2004 habe ihn die Familie verstoßen. Der Bruder, bei dem er zuletzt gewohnt habe, wisse von seiner Homosexualität.

10

Die Interessenvertretung für Homosexuelle habe ihn finanziell unterstützt und nach U. gebracht.

11

Er könne so nicht mehr leben. In Istanbul sei es auch nicht mehr wie früher. Sein Bruder könne ihn dort finden. Sein Vater sei gnadenlos. Er müsse hier geschützt werden.

12

Mit Bescheid vom 12.09.2017 lehnte das Bundesamt die Anträge des Klägers auf Anerkennung als Asylberechtigter, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie des subsidiären Schutzstatus als offensichtlich unbegründet ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorlägen. Weiter forderte es den Kläger zur Ausreise binnen 30 Tage nach Bekanntgabe der Entscheidung auf und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot befristete die Beklagte auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.

13

Der Bescheid wurde am 13.09.2017 zum Zwecke der Zustellung an den Prozessbevollmächtigten des Klägers zur Post gegeben.

14

Die daraufhin erhobene Klage ist am 27.09.2017 bei dem Verwaltungsgericht Magdeburg eingegangen.

15

Der Kläger behauptet ergänzend erstmals in der mündlichen Verhandlung,

16

sein Vater sei bei der Mafia und der Name in der Region bekannt. Er habe gesagt, wenn er – der Kläger - nicht heirate, werde er auf ihn schießen.

17

Sein Bruder werde in diesem Monat entlassen.

18

Er sei zweimal unter Gewalt verlobt worden.

19

Außerdem beantrage er Asyl, weil er von der Familie gesucht werde gegen dessen Sohn er in einem Mordprozess ausgesagt habe. Zunächst sei er selbst als Tatverdächtiger festgenommen und gefoltert worden. Die Narben hiervon seien bis heute zu sehen. Er habe der Polizei den wahren Mörder genannt. Bei dem Mordopfer habe es sich um seinen Freund gehandelt. Der Mordfall liege 8 bis 9 Jahre zurück.

20

Auch in Istanbul sei er wegen seiner sexuellen Ausrichtung mehrfach verhaftet worden. Wann das gewesen sei, wisse er nicht mehr. Die Folterspuren stammten von dieser Verhaftung. In dem Mordfall sei er nur bedroht worden.

21

Sein Bruder werde im Mai entlassen. Sein Vater und sein Bruder würden ihn finden. Der Vater habe 5 Tage gebraucht, um seine geflüchtete Schwester wiederzufinden. Ein anderer Bruder habe ein Telefonat mit ihm – dem Kläger - nach seiner Flucht sofort beendet und gesagt, er sei seit drei Monaten tot.

22

Er fühle sich in der ganzen Türkei unsicher. Wenn er zurück müsse, bedeute es das Ende seines Lebens.

23

Der Kläger beantragt,

24

1. den Bescheid der Beklagten vom 12.09.2017 aufzuheben;

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2. die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen;

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hilfsweise,

27

3. die Beklagte zu verpflichten, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen;

28

hilfsweise,

29

4. die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs.5 und Abs.7 AufenthG bei ihm vorliegen.

30

hilfsweise,

31

5. die Beklagte zu verpflichten, über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes gemäß § 11 Abs.1 AufenthG unter Beachtung der Auffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

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Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

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die Klage abzuweisen.

34

Sie nimmt auf die Begründung in dem angefochtenen Bescheid Bezug.

35

Mit Beschluss vom 27.12.2017 ist der Rechtsstreit auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen worden.

36

Die Erkenntnismittelliste, die zum Gegenstand der Entscheidung gemacht werden kann, hat das Gericht den Beteiligten zusammen mit der Ladung unter dem 02.02.2018 übersandt. Die Ladung hat den Hinweis darauf enthalten, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ihn verhandelt und entschieden werden kann. Die Beklagte ist gegen Empfangsbekenntnis am 02.02.2018 zu der mündlichen Verhandlung geladen worden.

37

Wegen des weiteren Vortrages der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze, wegen des Sachverhaltes im Übrigen auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Über die Klage entscheidet die Einzelrichterin, der der Rechtsstreit durch Beschluss der Kammer vom 27.12.2017 übertragen wurde.

39

Trotz Ausbleibens des Prozessbevollmächtigten des Klägers und eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung kann über die Klage verhandelt und entschieden werden, weil der entsprechende Hinweis gemäß § 102 Abs.2 VwGO zusammen mit der Ladung erfolgt ist.

40

Die zulässige Klage hat keinen Erfolg.

41

Sie ist am 27.09.2017 bei dem Verwaltungsgericht eingegangen und wahrt so die in § 74 Abs.1 2. Halbsatz AsylG bestimmte Frist zur Klageerhebung innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung der Entscheidung, die am 13.09.2017 der Post übergeben worden ist.

42

Die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist hingegen nicht begründet.

43

Der Bescheid des Bundesamtes vom 12.09.2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

44

Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs.1 S.1 1. HS AsylG) weder einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (1.), die Zuerkennung subsidiären Schutzes (2.), die Feststellung von Abschiebungshindernissen (3.) noch auf die Neubescheidung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes (4.).

45

1.a. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG.

46

Ein Ausländer darf gemäß § 3 ff. AsylG nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Verfolgungshandlungen müssen an diese Gründe anknüpfend mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen.

47

Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit liegt auch hier nur dann vor, wenn die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht aller Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (VG Lüneburg, Urteil vom 04.04.2017,- 3 A 93/16 – Rn. 21 m.w.N.). Es ist Sache des Ausländers, seine Gründe für die Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen und das Gericht muss die volle Überzeugung von der Wahrheit des von dem Schutzbegehrenden behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals erlangen (Niedersächsisches OVG, Urteil vom 19.09.2016, - 9 LB 100/15 -, S.8, juris).

48

Das erkennende Gericht geht im Einklang mit der unionsrechtlichen Rechtsprechung und der obergerichtlichen Rechtsprechung davon aus, dass bei einer Verfolgung wegen Homosexualität ein Verfolgungsgrund nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG vorliegt, die Verfolgung also wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmen sozialen Gruppe, der sozialen Gruppe der Homosexuellen erfolgt (EuGH, Urteil vom 7.11.2013, C 199/12; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 7.3.2013, A 9 S 1873/12 und für einen Fall aus dem kurdischen Teil Iraks, BayVGH, Beschluss vom 9.1.2017, 13 A ZB 16.30516). Diese Beurteilung nach dem humanitären Asylrecht ist naturgemäß unabhängig von Kapazitätserwägungen, einem Vergleich zu in Deutschland noch existierenden Benachteiligungen von Homosexuellen durch die Gesellschaft und der Frage, ob der ablehnende Asylbescheid vollzogen werden, bzw. ob bei stattgebenden Asylentscheidungen eine Überprüfung durch die Behörden stattfindet, ob die Fluchtgründe auch in Zukunft noch bestehen.

49

Das erkennende Gericht geht im Einklang mit dieser zitierten Rechtsprechung auch davon aus, dass Homosexuelle durch das Asylrecht nicht nur vor tatsächlichen, aktiven Repressalien geschützt sind, also wenn sie tatsächlich bereit sind, für die Neigung Verfolgung auf sich zu nehmen, sondern auch dann geschützt sind, wenn sie ihre Homosexualität im Herkunftsland geheim halten würden oder Zurückhaltung beim Ausleben ihrer sexuellen Ausrichtung üben, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden. Letzteres stellt demnach nach der zitierten Rechtsprechung ebenfalls eine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 AsylG dar (VG Ansbach, Urteil vom 31.1.2018, AN 10 K 17.31735, Rn. 21, 22).

50

In Anwendung dieser Grundsätze kann dahinstehen, ob das erkennende Gericht davon überzeugt ist, dass der Kläger homosexuell ist.

51

Jedenfalls ist das Gericht nach den Darlegungen des Klägers nicht davon überzeugt, dass ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung droht.

52

Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorliegt, sind gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG Art. 4 Abs. 4 sowie Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304, S. 12) - sog. Qualifikationsrichtlinie QRL - ergänzend anzuwenden. Der Anwendungsbereich des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist zwar weitgehend deckungsgleich mit dem des Asylgrundrechts, bei dessen Auslegung sich das Bundesverfassungsgericht schon bisher an der Genfer Flüchtlingskonvention orientiert hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.7. 1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315). Der Anwendungsbereich des Flüchtlingsschutzes geht allerdings über den Schutz des Asylgrundrechts teilweise hinaus. So begründen - nach Maßgabe des § 28 Abs. 1a AsylG - auch selbst geschaffene Nachfluchtgründe sowie gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure, etwa in Bürgerkriegssituationen, in denen es an staatlichen Strukturen fehlt, ein Abschiebungsverbot. Ferner stellt § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG klar, dass eine Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen kann, wenn Anknüpfungspunkt allein das Geschlecht ist.

53

Aus den in Art. 4 QRL geregelten Mitwirkungs- und Darlegungsobliegenheiten des Antragstellers folgt ferner, dass es auch unter Berücksichtigung der Vorgaben dieser Richtlinie Sache des Ausländers ist, die Gründe für seine Furcht vor (politischer) Verfolgung schlüssig vorzutragen, das heißt unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung politische Verfolgung droht (VG Trier, Urteil vom 23.22.2017, 2 K 9945/16.TR, Rn.18,19).

54

Das ist dem Kläger hier zur Überzeugung des erkennenden Gerichts gerade nicht gelungen.

55

Dabei verkennt das Gericht nicht, dass die Frage der Achtung von fundamentalen Rechten der Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Intersex-Personen (LGBTI) in der Türkei weiterhin von ernsthafter Sorge begleitet ist (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Türkei, letzte Kurzinformation eingefügt am 11.1.2018, Seite 94). Zwar umfasst das Diskriminierungsverbot in Art.10 der Verfassung nicht explizit die sexuelle Orientierung. Auch sind homosexuelle Handlungen im tStGB nicht eigens erfasst. Gleichwohl sind Homosexuelle in der Türkei gesellschaftlich überwiegend nicht akzeptiert (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, Stand: Januar 2017, Seite 20,21).

56

Diese jedenfalls nicht strafbewehrte Situation allein ist aber nicht asylrelevant. Vielmehr muss darüber hinaus für den Kläger eine Verfolgungsbedrohung von beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestehen.

57

Sein Vortrag ist indessen nicht geeignet, hiervon auszugehen. Er ist in sich widersprüchlich, nicht schlüssig und wirkt teilweise überzeichnet.

58

Das Gericht ist nicht davon überzeugt, dass dem Kläger keine asylrelevante Verfolgungshandlung durch seine eigene oder durch die Familie des Mörders als Akteure im Sinne des § 3c Nr. 3. AsylG droht.

59

Obwohl der Kläger vorgibt, nach dem Tod seiner Mutter von der Familie verstoßen worden zu sein, hat er zuletzt bei seinem Bruder und dessen Familie gelebt. Die diesem bekannte Homosexualität des Klägers war offensichtlich kein Grund für ihn, sich von seinem Bruder zu distanzieren und den Kontakt abzubrechen.

60

Die geschilderten Drohungen durch seine Familie und die damit begründete Furcht vor Verfolgung und Gewalttätigkeiten verlieren deshalb an Gewicht, weil seit seiner behaupteten Verstoßung im Jahr 2004, dem Zeitpunkt von dem er vorgibt, zum Problemfall für seine Familie geworden zu sein, keine Übergriffe auf seine Person erfolgt sind. Die beiden Entlobungen müssten nach den Darlegungen des Klägers zudem ein weiteres Indiz und Ärgernis für seine Familie dargestellt haben. Gleichwohl kommt es in diesem Zusammenhang zu keinen familiären Ausschreitungen gegenüber dem Kläger.

61

Die Verhaftungen und Folter hat der Kläger in seiner Anhörung nicht erwähnt. Er schildert diesen Sachverhalt erstmals, viele Monate nach seiner Anhörung, in der mündlichen Verhandlung. Das Verhalten ist nicht nachvollziehbar. Verhaftungen und Folter stellen schwere Eingriffe gegen den Menschen dar. Deshalb ist es nach der Lebenserfahrung zu erwarten, dass diese Eingriffe im Zusammenhang mit der Flucht noch so präsent sind, dass sie gerade im Zusammenhang mit der Anhörung über die Fluchtgründe sofort vorgebracht werden. Zudem war der Vortrag des Klägers hierzu nicht frei von Widersprüchen. War die Folter zunächst im Zusammenhang mit der Verhaftung im Mordfall geschehen, fand sie im Laufe der Verhandlung später in Istanbul im Zusammenhang mit der Verhaftung wegen seiner Homosexualität statt. Die Frage, wann dieser Vorfall war, konnte von dem Kläger nicht beantwortet werden. Eine Erklärung für sein Nichtwissen hat er nicht gegeben. Diese Gesamtumstände haben das Gericht dazu veranlasst, den Vortrag des Klägers in Zweifel zu ziehen.

62

Ebenso verhält es sich mit der geschilderten Verfolgungsangst im Zusammenhang mit dem Mordfall. Erstmals wird dieser Sachverhalt in der mündlichen Verhandlung zur Kenntnis gegeben. Eine Erklärung ist dafür nicht erfolgt. Unabhängig davon, dass dieses Geschehnis nach der eigenen Einlassung des Klägers bereits 10 Jahre zurückliegt, scheint der Sachverhalt an sich auch für den Kläger selbst erst nach längerer Überlegung eine Bedrohung überhaupt darzustellen. Ein asylrelevanter Fluchtgrund scheidet deshalb aus.

63

b. Darüber hinaus wird dem Ausländer gemäß § 3e Abs.1 AsylG die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2).

64

So verhält es sich hier.

65

Wenngleich die gesellschaftliche der Lage der Homosexuellen in der Türkei grundsätzlich weiter angespannt ist, bilden die großen Metropolen Istanbul, Izmir und Ankara hiervon eine Ausnahme (Auswärtiges Amt, a.a.O.; Republik Österreich, a.a.O.). In diesen Städten ist für homosexuelle Menschen überwiegend ein freies und selbstbestimmtes Leben möglich.

66

Der Kläger kann sicher und legal – wie bereits in der Vergangenheit – in diese Städte reisen. Es sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, aus welchen Gründen er hier nicht aufgenommen werden sollte und einer Arbeit nachgehen kann. Der Kläger hat auch in der Vergangenheit unterschiedliche Arbeitsstellen gehabt. Es steht deshalb zu erwarten, dass ihm seine Erfahrung und Flexibilität bei der Arbeitssuche zugutekommen werden. Dabei wird er sicherlich zudem auf die Unterstützung durch die Interessenvertretung für Homosexuelle zählen können. Der Kläger hat hierzu in seiner Anhörung selbst geschildert, dass er von dieser Vertretung auch schon vor seiner Ausreise Unterstützung erfahren hat.

67

2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes.

68

 Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme dargelegt hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Gemäß § 4 Abs. 3 AsylG sind die §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend anzuwenden, wobei an die Stelle der Verfolgung die Gefahr eines ernsthaften Schadens tritt. Hieraus folgt unter anderem, dass § 4 Abs. 1 AsylG nur solche Gefahren erfasst, die dem Schutzsuchenden durch das Verhalten von Akteuren im Sinne des § 3c AsylG drohen (vgl. EuGH, Urteil vom 18.12.2014, M’Bodj, C-542/13, EU:C:2014:2452, Rdnr. 31 ff.).

69

Danach liegen die Tatbestandsvoraussetzungen in der Person des Klägers nicht vor.

70

Gründe für die Annahme, dass dem Kläger in der Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe droht, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.

71

Auch hat der Kläger weder eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für zu befürchtende Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung dargelegt noch kann sie unterstellt werden. In diesem Zusammenhang wird auf die unter 1a. erfolgten Ausführungen verwiesen.

72

Ein subsidiärer Schutz kann zudem gemäß §§ 4 Abs. 3, 3 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG nicht gewährt werden.

73

Dem Kläger ist es durchaus zumutbar in den genannten Metropolen ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Auf die hierzu unter 1. b erfolgten Ausführungen wird verwiesen.

74

3. Die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes liegen für den Kläger ebenfalls nicht vor.

75

Gemäß § 60 Abs.5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

76

Die Abschiebung eines Ausländers ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) insbesondere dann mit der EMRK unvereinbar, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall seiner Abschiebung der ernsthaften Gefahr ("real risk") der Todesstrafe, der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt wäre (vgl. EGMR, Urteil vom 23.03.2016, F.G. gegen Schweden – Nr.43611/11-,§ 110 m.w.N.).

77

So verhält es sich hier gerade nicht.

78

Anhaltspunkte für die reale Gefahr einer Todesstrafe, der Folter oder der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung sind - wie bereits unter 1. dargelegt- weder vorgetragen noch ersichtlich.

79

Im Übrigen ist der Ausländer auch im Schutzbereich dieser Norm auf interne Schutzmöglichkeiten zu verweisen, wenn sie – wie hier- bestehen.

80

Auch die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs.7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor.

81

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Unerheblich ist dabei, von wem die Gefahr ausgeht und auf welchen Umständen sie beruht. Für die Annahme einer "konkreten Gefahr" im Sinne dieser Vorschrift genügt aber nicht die bloße Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in die geschützten Rechtsgüter zu werden. Vielmehr ist insoweit wie im Asylrecht der Maßstab der "beachtlichen Wahrscheinlichkeit" anzuwenden, und zwar unabhängig davon, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Zudem ergibt sich aus dem Element der "Konkretheit" der Gefahr für "diesen" Ausländer das zusätzliche Erfordernis einer auf den Einzelfall bezogenen, individuell bestimmten und erheblichen, also auch alsbald nach der Rückkehr eintretenden Gefährdungssituation. Schließlich muss es sich um Gefahren handeln, die dem Ausländer landesweit drohen, denen er sich also nicht durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes entziehen kann vgl. BVerwG, Urteil vom 17.10. 1995 – Az.:9 C 9.95 -, Rn. 16; sowie Beschluss vom 4.02. 2004 –Az.: 1 B 291.03 -, Rn. 2,zitiert nach juris).

82

Allerdings erfasst § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur einzelfallbezogene, individuell bestimmte Gefährdungssituationen. Gefahren, denen die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppen allgemein ausgesetzt ist bzw. sind, werden bei Entscheidungen über eine vorübergehende Abschiebung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt. Allgemeine Gefahren in diesem Sinne unterfallen § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG selbst dann nicht, wenn sie den Einzelnen konkret und individualisierbar zu treffen drohen. Angesichts der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG kann ein Ausländer Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur dann beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr in sein Heimatland aufgrund der dortigen Existenzbedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren.

83

Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungswegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist Unterschied in der Sache in der Formulierung damit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden muss, wenn der Ausländer ansonsten "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde". Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (BVerwG, Urteil vom 29.09.2011, Az.: 10 C 24.10, Rdnr.20, zitiert nach juris).

84

Bezogen auf krankheitsbedingte Verschlechterungen des Gesundheitszustands eines Ausländers bei Rückkehr in sein Heimatland muss daher ernsthaft zu befürchten stehen, dass sich sein Gesundheitszustand in seinem Heimatland wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde, etwa weil er auf die dortigen unzureichenden Möglichkeiten zur Behandlung seines Leidens angewiesen wäre und auch anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte. Erforderlich ist, dass die drohende Gesundheitsgefahr von besonderer Intensität ist und die zu erwartende Gesundheitsverschlechterung alsbald nach Rückkehr in den Zielstaat einzutreten droht (BVerwG, Urteil vom 17.10.2006, Az.: 1C 18.05, Rdnr. 15, zitiert nach juris).

85

Ausgehend hiervon ist nicht feststellbar, dass für den Kläger zu 1. eine erhebliche konkrete Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG besteht.

86

Das Gericht hat keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger die notwendige medizinische Versorgung seiner geäußerten Angstzustände in seinem Heimatland nicht erhalten kann. Nach der Erkenntnislage kann auch in der Türkei eine psychische Überlastung uneingeschränkt behandelt werden (VG Aachen, Urteil vom 29.09.2017 Rdnr.64 a.a.O.; Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Türkei, Stand 11.1.2018,S. 109 ).

87

5. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs.1 AufenthG hat die Beklagte ermessensfehlerfrei auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Der Kläger ist dadurch nicht in seinen Rechten auf eine am Gesetz orientierte ermessensgerechte Berücksichtigung und Würdigung seiner Belange aus § 114 VwGO i.V.m. Art. 19 Abs.4 GG verletzt (siehe hierzu: Kopp/Schenke, VwGO Verwaltungsgerichtsordnung Kommentar, 23.Auflage, Verlag C.H.Beck, München 2017).

88

Gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG darf ein Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, weder erneut in das Bundesgebiet einreisen, noch sich darin aufhalten, noch darf ihm, selbst im Falle eines Anspruchs nach dem AufenthG, ein Aufenthaltstitel erteilt werden (Einreise- und Aufenthaltsverbot). Gemäß § 11 Abs. 2 S. 1 AufenthG ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot von Amts wegen zu befristen. Für die Bestimmung der Länge der Frist ist dem Bundesamt gemäß § 11 Abs. 3 S. 1 AufenthG ein Ermessen eingeräumt (vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 13.05.2016 - 10 ZB 15.492 -; OVG Düsseldorf, Urteil vom 27.01.2016 - 21 K 7126/15. A -; beide zitiert nach juris).

89

Das der Beklagten danach eingeräumte Ermessen hat sie fehlerfrei ausgeübt. Die Bestimmung der maßgeblichen Frist auf 30 Monate stellt weder eine Ermessensüberschreitung noch einen Ermessensfehlgebrauch gemäß § 114 S.1 VwGO dar.

90

Schutzwürdige Belange, wonach nur die Festsetzung einer noch kürzeren als die hier bestimmte Frist rechtmäßig wäre, hat der Kläger darüber hinaus weder vorgetragen noch sind sie sonst ersichtlich.

91

Schutzwürdige Belange sind dann gegeben, wenn sie die Beendigung des Aufenthaltes überdauern und Bedeutung für eine möglichst baldige Wiedereinreise haben. Dabei kann es sich um verwandtschaftliche Bindungen an Personen im Bundesgebiet, durch einen langen rechtmäßigen Aufenthalt anderweitig verfestigte Bindungen an das Bundesgebiet und Umstände in der Person des Ausländers handeln.

92

Hierzu fehlt jeder Hinweis des Klägers. Ermessenfehler der Beklagten sind deshalb nicht feststellbar.

93

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs.1 VwGO, 83 b AsylG.

94

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit sowie die Abwendungsbefugnis folgt aus § 167 Abs.1 S.1, Abs.2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr.11, 711 Satz 1 und 2,709 S. 2 ZPO.


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