Urteil vom Verwaltungsgericht Köln - 12 K 4019/20.A
Tenor
Unter Aufhebung der Ziffer 2, Ziffer 3 Sätze 1 bis 3 und Ziffer 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13.07.2020 wird die Beklagte verpflichtet, für die Klägerinnen ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Italien festzustellen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, tragen die Klägerin ein Sechstel und die Beklagte fünf Sechstel.
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T a t b e s t a n d
2Die am 00.00.0000 geborene Klägerin zu 1 und ihre Tochter, die am 00.00.0000 in Rom geborene Klägerin zu 2, sind nigerianische Staatsangehörige, denen bereits in Italien internationaler Schutz gewährt wurde. Bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt führte die Klägerin zu 1 u.a. aus, die italienischen Behörden hätten sich um die Klägerinnen zwei Jahre lang gekümmert und für sie, nachdem das Projekt zu Ende gegangen sei, für sechs Monate eine Wohnung gemietet; danach habe sie betteln müssen.
3Ihren Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit Bescheid vom 08.02.2018 als (gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG nach der Dublin III-VO) unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2), ordnete ihre Abschiebung nach Italien an (Ziffer 3) und erließ ein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG, das auf sechs Monate ab Abschiebung befristet wurde (Ziffer 4).
4Auf die dagegen gerichtete Klage hob das Verwaltungsgericht Braunschweig mit Urteil vom 04.03.2019 - 7 A 152/18 - Ziffern 2 bis 4 des Bescheids vom 08.02.2018 auf und wies die Klage im Übrigen (bezüglich Ziffer 1) unter Austausch des § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG gegen § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als Rechtsgrundlage ab.
5Den dagegen von der Beklagten gestellten Antrag auf Zulassung der Berufung lehnte das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 03.01.2020 (10 LA 63/19) ab.
6Auf Anfrage des Bundesamts teilten die technischen Behörden am 10.07.2020 mit, dass der Klägerin zu 1 in Italien im Jahr 2015 Flüchtlingsschutz („political asylum“) gewährt worden sei.
7Das Bundesamt erließ gegenüber den Klägerinnen unter dem 13.07.2020 den hier angefochtenen Bescheid, mit dem es den Asylantrag als (gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG) unzulässig ablehnte (Ziffer 1), feststellte, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2), ihnen die Abschiebung nach Italien oder in einen anderen aufnahmeverpflichteten oder aufnahmebereiten Staat androhte (Ziffer 3 Sätze 1 bis 3), verfügte, dass die Kläger nicht nach Nigeria abgeschoben werden dürfen (Ziffer 3 Satz 4), und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG erließ, das auf 30 Monate ab der Abschiebung befristet wurde (Ziffer 4). Ferner setzte es die Vollziehung der Abschiebungsandrohung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO aus. Mit der Rechtsbehelfsbelehrung wurden die Klägerinnen auf die Frist zur Klageerhebung binnen zwei Wochen nach Zustellung hingewiesen. Dieser Bescheid wurde an die früheren Bevollmächtigten der Klägerinnen am 14.07.2020 abgesandt
8Mit der gegen diesen Bescheid am 28.07.2020 erhobenen Klage machen die Klägerinnen geltend, das Verwaltungsgericht Braunschweig habe in Kenntnis des Umstands, dass den Klägerinnen schon in Italien Schutz gewährt worden sei, mit seinem rechtskräftigen Urteil bereits festgestellt, dass einer Abschiebung der Klägerinnen nach Italien ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK entgegenstehe.
9Die Klägerinnen beantragen sinngemäß,
10die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 2 bis 4 des Bescheids des Bundesamts vom 13.07.2020 zu verpflichten festzustellen, dass für die Klägerinnen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG für Italien besteht.
11Die Beklagte beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Zur Begründung führt sie aus, an dem streitgegenständlichen Bescheid werde entgegen dem Hinweis des Einzelrichters festgehalten. Im Einzelnen führt sie aus, dass die Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Braunschweig dem nunmehr angefochtenen Bescheid nicht entgegenstehe, weil das Verwaltungsgericht Braunschweig im Tenor seines Urteils vom 04.03.2019 ledglich die Ziffern 2, 3 und 4 des Bescheids vom 08.02.2018 aufgehoben, das Bundesamt aber nicht dazu verpflichtet habe, ein Abschiebungsverbot in Bezug auf Italien festzustellen. Ferner habe sich die Sachlage dahingehend geändert, dass aufgrund des Informationsersuchens an die italienischen Behörden nunmehr feststehe, dass internationaler Schutz zuerkannt worden sei. Die Unzulässigkeitsentscheidung stütze sich nunmehr auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG.
14Mit Verfügung vom 18.02.2021 hat der Einzelrichter die Beklagte darauf hingewiesen, dass aufgrund des Urteils des Verwaltungsgerichts Braunschweig zum einen feststehe, dass der Asylantrag der Klägerinnen unzulässig sei, obwohl mit der dort erfolgten Begründung auch die Unzulässigkeitsfeststellung mit der Folge hätte aufgehoben werden müssen, dass ein nationales Asylverfahren für die Klägerinnen zu betreiben gewesen wäre. Letzterem stehe aber die Rechtskraft dieses Urteils entgegen. Ebenso stehe aufgrund der Rechtskraft dieses Urteils fest, dass für die Klägerinnen in Bezug auf Italien ein Abschiebungsverbot bestehe, so dass die diesbezügliche entgegenstehende Feststellung des Bundesamts im nunmehr angefochtenen Bescheid ebenso aufzuheben sein werde wie der auf Italien bezogene Teil der Abschiebungsandrohung. Die Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Braunschweig stünde andersartigen Entscheidungen nur dann nicht mehr entgegen, wenn es Wiederaufnahmegründe im Sinne des § 51 VwVfG gäbe, die hier jedoch weder ersichtlich noch geltend gemacht seien.
15E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
16Die hinsichtlich der Ziffern 2, 3 S. 1 - 3 und Ziffer 4 des Bescheids des Bundesamts vom 13.07.2020 – zulässige Klage ist begründet, weil dieser Bescheid insoweit rechtswidrig ist und die Klägerinnen in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5, Abs. 1 VwGO).
17Das Bundesamt hätte Ziffer 2 des angefochtenen Bescheids vom 13.07.2020, mit dem es festgestellt hat, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG nicht vorlägen, wegen der insoweit gemäß § 121 VwGO entgegenstehenden Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 04.03.2019 (7 A 152/18) nicht erlassen dürfen. Im Falle einer erfolgreichen Anfechtungsklage wirkt sich ein rechtskräftiges Urteil in dem in § 121 VwGO umschriebenen Rahmen nicht nur auf den seinerzeit angefochtenen, sondern auch auf nachfolgende Verwaltungsakte aus. Der im Vorprozess unterlegenen Behörde ist es verwehrt, bei unveränderter Sach- und Rechtslage gegen den selben Betroffenen einen neuen Verwaltungsakt aus den vom Gericht missbilligten Gründen zu erlassen,
18vgl. BVerwG, Urteile vom 08.12.1992 - 1 C 12.92 -, juris Rn. 12, und vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, juris Rn. 12,
19wobei das aus der Rechtskraft folgende Wiederholungsverbot nur inhaltsgleiche Verwaltungsakte, d. h. die Regelung des selben Sachverhalts durch Anordnung der gleichen Rechtsfolge erfasst.
20Vgl. BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, juris Rn. 12.
21Hier hat sich die Sachlage insbesondere nicht im Sinne des § 51 VwVfG durch die von der Beklagten hervorgehobene Anfrage des Bundesamts bei den italienischen Behörden mit deren Antwort vom 10.07.2020, die Klägerinnen hätten im Jahr 2015 in Italien internationalen Schutz erhalten, geändert, weil diese Schutzgewährung für die Klägerinnen durch Italien bereits vom Verwaltungsgericht Braunschweig in dessen zitiertem Urteil zugrunde gelegt wurde.
22Soweit die Beklagte zutreffend darauf hinweist, dass von der Rechtskraft nicht auch die Verpflichtung der Beklagten umfasst wird, für die Klägerinnen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 in Bezug auf Italien festzustellen, weil das Verwaltungsgericht Braunschweig die Beklagte zu einer solchen Feststellung gemäß § 88 VwGO wegen des insoweit nur gestellten Anfechtungsantrags nicht verpflichten konnte, steht dies nicht dem Klageantrag der Klägerinnen auf Verpflichtung der Beklagten zu einer solchen Feststellung entgegen. Denn sie haben gemäß dem Entscheidungsprogramm des § 31 Abs. 3 S. 1 AsylG, wonach u.a. in – wie hier – Entscheidungen über unzulässige Asylanträge festzustellen ist, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen, Anspruch auf eine solche Entscheidung des Bundesamts. Der Asylantrag der Klägerinnen ist bereits rechtskräftig durch das Verwaltungsgericht Braunschweig mit Urteil vom 04.03.2019 (7 A 152/18) als auf der Grundlage des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig abgelehnt worden. Daran ändert nichts der Umstand, dass die diese Folge feststellende Ziffer 1 des Bescheids vom 08.02.2018 wegen vom Verwaltungsgericht Braunschweig angenommener unmenschlicher Behandlung in Italien mit der Folge hätte aufgehoben werden müssen, dass das Asylbegehren der Klägerinnen in Deutschland zu prüfen gewesen wäre.
23Vgl. zu dieser Folge: EuGH, Beschluss vom 13.11.2019 – C-540 und 541/17 –, juris.
24Die insoweit als Wiederholung zu verstehende und nicht mit der Klage angefochtene Ziffer 1 des Bescheids des Bundesamts vom 13.07.2020 mit ihrer diesbezüglichen Unzulässigkeitsentscheidung ist im Hinblick auf eine entgegenstehende Rechtskraft gemäß § 121 VwGO unschädlich, weil sie insoweit dem rechtskräftigen Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig entspricht.
25Gemäß der Rechtsprechung des
26EuGH, Beschluss vom 13.11.2019 – C-540 und 541/17 –, juris,
27liegt die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-GrRCh vor, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.
28Danach haben die Klägerinnen – aufgrund der in Rechtskraft erwachsenen Feststellung, dass für sie ein Asylverfahren gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig ist – einen Anspruch auf Feststellung, dass für sie als alleinerziehende Mutter bzw. als Minderjährige im Kindesalter und somit als vulnerable Personen in Bezug auf Italien ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, Art. 4 EU-GrRCh besteht. Auch insoweit hat sich die Sachlage seit Erlass des Urteils des Verwaltungsgerichts Braunschweig am 04.03.2019 nicht (zu Ungunsten der Klägerinnen) verändert. Bereits mit Beschluss vom 21.12.2018 (12 L 2285/18.A) hat der Einzelrichter für eine alleinerziehende Mutter (ohne Schulbildung mit zwei minderjährigen Töchtern) die Gefahr der Obdachlosigkeit angenommen, wenn für sie seitens der italienischen Behörden keine konkrete Garantieerklärung abgegeben worden ist.
29Zwar haben infolge der jüngsten italienischen Gesetzesänderungen Asylsuchende, die zur Kategorie der vulnerablen Personen gehören, bei der Unterbringung in Einrichtungen des SAI-Systems Priorität.
30Vgl. OVG NRW, Urteil vom 20.07.2021 - 11 A 1689/20.A -, juris Rn. 56 m. w. N.
31In Italien anerkannte Schutzberechtigte haben seit dem Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 173/2020 vom 18.12.2020 Zugang zum als SAI bezeichneten Zweitaufnahmesystem. Dieses Gesetz sieht vor, dass der Zugang zu den Zweitunterkünften „im Rahmen der verfügbaren Plätze“ erfolgt. Insofern steht Schutzberechtigten kein unbedingter Anspruch auf Zugang zum SAI-System zu, sondern handelt es sich um eine Möglichkeit der Unterbringung, die von weiteren Bedingungen abhängig ist. Da neue Richtlinien zur Regelung des seit dem Gesetz Nr. 173/2020 geltenden SAI-Systems bisher nicht herausgegeben worden sind und insofern weder hinsichtlich des Zugangs von Schutzberechtigten zu den Zweitaufnahmeeinrichtungen noch hinsichtlich der Dauer der Unterbringung noch in Bezug auf den Verlust des Rechts auf Zugang zu diesen Einrichtungen Änderungen eingetreten sind, müssen Anträge für eine Unterbringung in einer Zweitaufnahmeeinrichtung (nunmehr des SAI-Systems, vormals SIPROIMI) an den „Servizio Centrale“, einen vom Innenministerium eingesetzten Zentralservice, der von der nationalen Vereinigung der italienischen Gemeinden verwaltet wird, gerichtet werden. Die Anträge mit dem entsprechenden Formular werden hauptsächlich von der Präfektur oder der Questura, manchmal auch von Anwältinnen oder Anwälten beim „Servizio Centrale“ eingereicht. Dieser beurteilt den Antrag und sucht – falls die Person, für die der Antrag gestellt wurde, ein Anrecht auf Unterkunft in einer Zweitaufnahmeeinrichtung hat – einen freien Platz in einem der Projekte. Wenn ein Platz frei ist, wird die Person sofort dort einquartiert. Der „Servizio Centrale“ ist der einzige Akteur, der einen Überblick über die Projekte und die freien Plätze in den Projekten hat. Die freien Plätze ändern sich beinahe täglich und werden nicht öffentlich kommuniziert. Für „reguläre“ Fälle, über deren Asylgesuch positiv entschieden worden ist (neuer Schutzstatusinhaber), stehen normalerweise Plätze zur Verfügung, ein Platz kann jedoch nicht garantiert werden. Es gibt keine Warteliste. Wenn ein Antrag auf Unterbringung in einer Zweitaufnahmeeinrichtung bewilligt worden ist und es keinen freien Platz gibt, wird diese Person nicht auf eine Warteliste gesetzt. Die Anwältin oder der Anwalt, die Questura oder die Präfektur müssen einen Monat später einen neuen Antrag stellen und dies so lange wiederholen, bis ein Platz für die jeweilige Person frei wird. In dieser Wartezeit steht der Person keine Unterkunft zur Verfügung. Der für die SIPROIMI-Zweitaufnahmeeinrichtungen geltende Erlass des italienischen Innenministers vom 18.11.2019 sieht in Art. 38 Nr. 1 der im Anhang beigefügten Richtlinien vor, dass die Unterbringung in einem SIPROIMI-Projekt – vorbehaltlich der in den nachfolgenden Artikeln vorgesehenen Fälle – auf eine Dauer von sechs Monaten beschränkt ist. Ausweislich des Art. 39 Nr. 1 SIPROIMI-Richtlinien kann die Unterbringung um weitere sechs Monate verlängert werden, etwa wenn die weitere Unterbringung für die Integration unerlässlich ist oder außerordentliche Umstände wie Gesundheitsprobleme oder Vulnerabilitäten vorliegen. In Art. 39 Nr. 2 SIPROIMI-Richtlinien ist noch eine weitere Verlängerung um sechs Monate vorgesehen, falls anhaltende, angemessen dokumentierte Gesundheitsprobleme bestehen oder um ein Schuljahr zu beenden.
32Vgl. OVG NRW, Urteil vom 20.07.2021 - 11 A 1674/20.K -, juris Rn. 43 - 50 m. w. N.
33Dagegen hängt die Möglichkeit, dass der „Servizio Centrale“ nach Italien zurückkehrenden Schutzberechtigten, die – wie hier den beiden Klägerinnen – bereits Zugang zum Zweitaufnahmesystem (heute des SAI-Systems/vorher SIPROIMI bzw. SPRAR) hatten, auf Antrag ausnahmsweise die Unterbringung in einer Zweitaufnahme-Einrichtung bewilligt, davon ab, dass neue Vulnerabilitäten nachgewiesen werden können.
34Vgl. OVG NRW, Urteil vom 20.07.2021 - 11 A 1674/20.A -, juris Rn. 59 f., und 11 A 1689/20.A -, juris Rn. 77.
35Die Art der Vulnerabilität beider Klägerinnen hat sich aber seit ihrer Abreise aus Italien nicht geändert. Im Übrigen war den Klägerinnen nach ihrer Angabe bereits Unterkunft in einem Projekt und in einer Mietwohnung für insgesamt zweieinhalb Jahre zugewiesen worden, weshalb die längstmögliche Unterbringung im Zweitaufnahmesystem bereits abgelaufen ist. Außerdem wäre eine (erneute) Einquartierung in einer Zweitaufnahmeeinrichtung selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass den Klägerinnen der Ablauf der längstmöglichen Frist einer Unterbringung nicht entgegengehalten werden würde, nicht sicher und würde im Fall der Ablehnung einer Einquartierung eine Wartezeit von mindestens einem weiteren Monat nach sich ziehen, innerhalb dessen die Klägerinnen nicht untergebracht würden. Selbst im Fall einer Verlängerung einer dennoch erfolgten Einquartierung in einer Zweitaufnahmeeinrichtung würde diese nach spätestens eineinhalb Jahren enden und die Klägerinnen würden in Italien wiederum kein Obdach haben.
36Der Bericht des Bundesamts vom 15.07.2021 enthält keine Ausführungen zu der im Fall der Klägerinnen entscheidungserheblichen Frage, ob sich seit der Reform des Salvini-Dekrets durch das Gesetz Nr. 173/2020 auch hinsichtlich des Verlusts des Rechts auf Zugang zu den Aufnahmeeinrichtungen Änderungen ergeben haben.
37Vgl. OVG NRW, Urteile vom 20.07.2021 - 11 A 1689/20.A -, juris Rn. 145 und - 11 A 1674/20.A -, juris Rn. 194.
38Der Bericht des Bundesamts vom 02.04.2020 führt ebenso wenig weiter, weil er sich ausschließlich auf Familien mit minderjährigen Kindern im Rahmen einer Dublin-Rückkehr bezieht, wohingegen die Klägerinnen bereits internationalen Schutz durch Italien erhalten haben.
39Ferner ist es für in Italien anerkannte sowie dorthin zurückkehrende Schutzberechtigte grundsätzlich schwer, eine Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt anzumieten und zu finanzieren. Die Anzahl der Notunterkünfte hat sich im Zuge der Corona-Pandemie halbiert. Angesichts der derzeitigen Arbeitsmarktsituation und Wirtschaftslage in Italien ist es beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin zu 1 im Fall ihrer Rückkehr keine Arbeit finden und so ihren und den Lebensunterhalt der Klägerin zu 2 sichern können würde. Sie würden auch keinen Zugang zu staatlichen Sozialleistungen haben, mit deren Hilfe sie dort ihr Existenzminimum sichern könnten. Selbst die Unterstützung von Hilfsorganisationen versetzte die Klägerinnen in Italien nicht in die Lage, dort ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen.
40Vgl. OVG NRW, Urteil vom 20.07.2021 - 11 A 1674/20.A -, juris Rn. 61 - 147 mit ausführlicher Begründung.
41Vor diesem Hintergrund ist die seitens der italienischen Behörden mit ihrem Rundschreiben vom Januar 2019 gegenüber den Dublin-Partnerstaaten abgegebene Versicherung, dass nach Herausnahme der SIPROIMI-Unterkünfte aus dem Unterbringungssystem für Asylbewerber die verbleibenden Aufnahmeeinrichtungen „unter Berücksichtigung der Bemühungen der italienischen Regierung, die Migrationsströme deutlich zu verringern“, auch für die Aufnahme aller möglichen Begünstigten geeignet seien, so dass der Schutz der Grundrechte, insbesondere die Einheit der Familie und der Schutz von Minderjährigen sichergestellt sei, in dieser Allgemeinheit nicht tragfähig.
42Vgl. das der Beklagten ebenfalls bereits bekannte Urteil des VG Köln vom 02.03.2020 - 12 K 5103/19.A - unter Verweis auf VG Düsseldorf, Beschluss vom 03.06.2019 - 15 L 1100/19.A -, juris An. 79.
43Nach allem sind auch die Folgeregelungen zu den Ziffern 1 und 2 des angefochtenen Bescheids in Ziffern 3 und 4 dieses Bescheids aufzuheben.
44Die Klage war dagegen abzuweisen, soweit sie sich nach dem Wortlaut des Klageantrags auch auf die Aufhebung der Ziffer 3 Satz 4 des angefochtenen Bescheids des Bundesamts bezieht. Den Klägerinnen fehlt für die Aufhebung dieses sie begünstigenden Verwaltungsakts, mit dem festgestellt wird, dass sie nicht nach Nigeria abgeschoben werden dürfen, mangels Verletzung eigener Rechte die Klagebefugnis.
45Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 S. 3 VwGO.
46Rechtsmittelbelehrung
47Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
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1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
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2. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
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3. ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, zu beantragen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.
53Statt in Schriftform können die Einlegung und die Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
54Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten und ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
55Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
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