Gerichtsbescheid vom Verwaltungsgericht Köln - 20 K 4473/21.A
Tenor
Der Bescheid vom 09.08.2021 wird aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Beklagte.
1
T a t b e s t a n d
2Der am 00.00.2016 in Köln/Deutschland geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger arabischer Volkszugehörigkeit. Mit Bescheid vom 28.03.2017 wurde ihm auf seinen Antrag vom 10.02.2017 der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt, im Übrigen wurde der Asylantrag abgelehnt (0000000-000).
3Den Eltern und Geschwistern des Klägers wurde auf ihren Antrag vom 06.06.2016 mit Bescheid vom 28.06.2016 ebenfalls der subsidiäre Schutz zuerkannt. Auf die hiergegen gerichtete Klage wurde die Beklagte durch Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 07.12.2017 verpflichtet, den Eltern des Klägers sowie den drei minderjährigen ledigen Geschwistern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen (25 K 5947/16.A). Mit Bescheid vom 22.01.2018, zugestellt am 24.01.2018, setzte die Beklagte das Urteil um und erkannte den Eltern und Geschwistern des Klägers die Flüchtlingseigenschaft zu.
4Am 16.07.2021 stellte der Kläger durch seinen Prozessbevollmächtigten einen weiteren Asylantrag und berief sich zur Begründung darauf, dass nunmehr die Voraussetzungen des Familienasyls nach § 26 Abs. 2 AsylG vorlägen. Mit Bescheid vom 09.08.2021 wurde der Antrag als unzulässig abgelehnt. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Folgeantrag sei erst nach Ablauf der Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG gestellt worden. Der Bescheid wurde dem Kläger am 12.08.2021 zugestellt.
5Am 26.08.2021 hat der Kläger die vorliegende Klage erhoben. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, ihm stehe ein Anspruch auf Familienasyl zu. Für die zulässige Stellung eines Asylfolgeantrags existiere keine Frist, wie sich aus Art. 40 der Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie) ergebe.
6Der Kläger beantragt,
7den Bescheid der Beklagten vom 09.08.2021 aufzuheben.
8Die Beklagte beantragt,
9die Klage abzuweisen.
10Sie bezieht sich zur Begründung auf den Inhalt des angefochtenen Bescheides.
11Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.
12E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
13Das Gericht kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist, der Sachverhalt geklärt ist und die Beteiligten zu einer Entscheidung im Wege des Gerichtsbescheides gehört worden sind ( § 84 Abs. 1 VwGO).
14Die Klage ist zulässig und begründet.
15Der Bescheid des Bundesamtes vom 09.08.2021 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in eigenen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, weil sein erneuter Asylantrag zulässig ist.
16Es ist zwischen den Beteiligten unstreitig und bedarf daher keiner weitergehenden Ausführungen, dass nach der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für die Eltern und Geschwister der Kläger durch Bescheid der Beklagten vom 22.01.2018 die Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 und 2 VwVfG vorliegen und die Kläger zudem einen materiellrechtlichen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 26 Abs. 2 und 5 AsylG unter dem Aspekt des Familienasyls haben.
17Ebenso unstreitig ist, dass die Kläger die Antragsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG versäumt haben. Der Ablauf der Drei-Monatsfrist ist hier aber sowohl unter Berücksichtigung der Besonderheiten des zu entscheidenden Einzelfalls als auch unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung des EuGH unbeachtlich.
18Die vorliegende Fallkonstellation ist dadurch gekennzeichnet, dass der während des Asylverfahrens seiner Familienangehörigen gestellte Erstantrag des minderjährigen und ledigen Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch Bescheid vom 28.03.2017 bestandskräftig abgelehnt wurde, bevor abschließend über die Schutzberechtigung der Eltern entschieden wurde. Aufgrund dieser Verfahrensgestaltung wurde bis heute über den Anspruch des Klägers auf Familienasyl noch nicht umfassend und abschließend entschieden. Die aus einer solchen Verfahrensgestaltung resultierenden Konsequenzen – die Behandlung des erneut erforderlichen Antrags auf Familienasyl als Folgeantrag – dürfen aber nicht zu Lasten der Kinder gelöst werden. Dies wäre mit Sinn und Zweck der Regelung des § 26 Abs. 2 AsylG nicht vereinbar. Es ist daher etwa zur umfassenden Durchsetzung des Rechts auf Familienasyl nach § 26 Abs. 2 AsylG bei Folgeanträgen der Kinder nach Abschluss des Asylverfahrens der Eltern mit dem Ziel der Zuerkennung von Familienschutz hinsichtlich der Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der Stellung des Erstantrages abzustellen, auch wenn die Kinder zwischenzeitlich volljährig geworden sind.
19Vgl. so BVerwG, Urteil vom 17.12.2002 – 1 C 10.02 –.
20In gleicher Weise wäre es in einer solchen Fallkonstellation unbillig und mit Sinn und Zweck des § 26 Abs. 2 AsylG nicht vereinbar, den allein aufgrund der Verfahrensgestaltung des Bundesamtes erforderlichen Folgeantrag der Kinder alleine daran scheitern zu lassen, dass die Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG versäumt wurde. Die Kinder sind vielmehr ebenso wie hinsichtlich der Frage, auf welche Antragstellung für die Minderjährigkeit abzustellen ist, in den Stand des Erstverfahrens zurückzuversetzen, um ihren materiellrechtlichen Anspruch auf Familienschutz gemäß § 26 Abs. 2 AsylG auch verfahrensrechtlich abzusichern. Dies gilt zumal deshalb, weil der Anspruch auf Familienasyl von minderjährigen Kindern – anders als etwa derjenige von Ehegatten und Lebenspartnern – grundsätzlich an keinerlei Fristen gebunden ist und durch nachgereiste oder nachgeborene Kinder zu jeder Zeit ohne zeitliche Beschränkungen oder Befristungen geltend gemacht werden kann. Dieses durch § 26 Abs. 2 AsylG garantierte umfassende Schutzkonzept genießt hier Vorrang gegenüber der Regelung des § 51 Abs. 3 VwVfG.
21Unabhängig von den Besonderheiten der vorliegenden Fallkonstellation gilt die Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG für asylrechtliche Folgeanträge nach der aktuellen Rechtsprechung des EuGH nicht mehr. Denn Art. 40 der RL 2013/32 (Verfahrensrichtlinie) sieht solche Fristen nicht vor und ermächtigt auch die Mitgliedstaaten nicht dazu, solche Fristen vorzusehen. Ausschlussfristen für die Stellung eines Folgeantrags sind nach der Richtlinie vielmehr ausgeschlossen.
22Vgl. EuGH, Urteil vom 09.09.2021 – C-18/20 –; anders noch: OVG NRW, Urteil vom 12.04.2021 – 14 A 818/19 -.
23Die Unzulässigkeitsentscheidung des Bescheides erweist sich demnach als rechtswidrig und unterliegt der Aufhebung.
24Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylG.
25Rechtsmittelbelehrung
26Den Beteiligten steht die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
27- 28
1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
- 29
2. der Gerichtsbescheid von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
- 30
3. ein in § 138 Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
Die Zulassung der Berufung ist innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Gerichtsbescheides schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, zu beantragen. Der Antrag muss den angefochtenen Gerichtsbescheid bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.
32Die Begründung ist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
33Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten und ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
34Gegen diesen Gerichtsbescheid können die Beteiligten wahlweise stattdessen auch innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle mündliche Verhandlung beantragen.
35Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
36Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
- VwGO § 84 1x
- § 26 Abs. 2 AsylG 6x (nicht zugeordnet)
- 40 der RL 2013/32 1x (nicht zugeordnet)
- 25 K 5947/16 1x (nicht zugeordnet)
- § 26 Abs. 2 und 5 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylG 2x (nicht zugeordnet)
- 14 A 818/19 1x (nicht zugeordnet)
- §§ 55a, 55d VwGO 1x (nicht zugeordnet)
- VwVfG § 51 Wiederaufgreifen des Verfahrens 5x
- VwGO § 55a 1x