Beschluss vom Verwaltungsgericht Köln - 6 L 1354/21
Tenor
1.
Es wird vorläufig bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache festgestellt, dass die Antragstellerin zur Übermittlung von Inhalten nach § 3a Abs. 2 NetzDG, zur Prüfung und Übermittlung nach § 3a Abs. 3 und 4 NetzDG, zur Information nach § 3a Abs. 6 NetzDG, zur Auskunftserteilung nach § 3a Abs. 7 NetzDG und zur Vorhaltung eines wirksamen Verfahrens für Meldungen nach § 3a Abs. 2 bis 5 NetzDG gemäß § 3a Abs. 1 NetzDG nicht verpflichtet ist.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Antragstellerin zu 2/3 und die Antragsgegnerin zu 1/3.
2.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 6.201.500,00 Euro festgesetzt.
1
Gründe
2Das Begehren der Antragstellerin auf vorläufigen Rechtsschutz mit dem – sinngemäßen, weil um den Antrag zur Verfahrenskostenverteilung gekürzten – Antrag,
31. im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) vorläufig festzustellen, dass die Antragstellerin bis zu sechs Monate nach einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache zur Übermittlung von Inhalten nach § 3a Abs. 2 des Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG), zur Prüfung und Übermittlung nach § 3a Abs. 3 und 4 NetzDG, zur Information nach § 3a Abs. 6 NetzDG, zur Auskunftserteilung nach § 3a Abs. 7 NetzDG und zur Vorhaltung eines wirksamen Verfahrens für Meldungen nach § 3a Abs. 2 bis 5 NetzDG gem. § 3a Abs. 1 NetzDG nicht verpflichtet ist,
42. im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorläufig festzustellen, dass die Antragstellerin bis zu drei Monate nach einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache nicht verpflichtet ist, Verfahren gem. § 3b Abs. 1 und 2 NetzDG und § 3b Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 und 2 NetzDG vorzuhalten,
53. hilfsweise, für den Fall, dass die Antragstellerin mit einem oder beiden ihrer vorgenannten Anträge zu 1. und zu 2. unterliegen sollte, festzustellen, dass die Antragstellerin
6a) im Falle eines Unterliegens bezüglich des Antrags zu 1. erst nach Ablauf von sechs Monaten nach einem rechtskräftigen Unterliegen im Eilrechtsschutz dazu verpflichtet ist, die im Antrag zu 1. bezeichneten Pflichten aus § 3a NetzDG umzusetzen,
7b) im Falle eines Unterliegens bezüglich des Antrags zu 2. erst nach Ablauf von drei Monaten nach einem rechtskräftigen Unterliegen im Eilrechtsschutz dazu verpflichtet ist, die im Antrag zu 2. bezeichneten Pflichten aus § 3b NetzDG umzusetzen.
8hat im tenorierten Umfang Erfolg.
9Die hier maßgeblichen novellierten Regelungen des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes lauten auszugsweise wie folgt:
10§ 1 NetzDG
11Anwendungsbereich
12(4) Eine Beschwerde über rechtswidrige Inhalte ist jede Beanstandung eines Inhaltes mit dem Begehren der Entfernung des Inhaltes oder der Sperrung des Zugangs zum Inhalt, es sei denn, dass mit der Beanstandung erkennbar nicht geltend gemacht wird, dass ein rechtswidriger Inhalt vorliegt.
13§ 3a NetzDG
14Meldepflicht
15(1) Der Anbieter eines sozialen Netzwerks muss ein wirksames Verfahren für Meldungen nach den Absätzen 2 bis 5 vorhalten.
16(2) Der Anbieter eines sozialen Netzwerks muss dem Bundeskriminalamt als Zentralstelle zum Zwecke der Ermöglichung der Verfolgung von Straftaten Inhalte übermitteln,
171. die dem Anbieter in einer Beschwerde über rechtswidrige Inhalte gemeldet worden sind,
182. die der Anbieter entfernt oder zu denen er den Zugang gesperrt hat und
193. bei denen konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie mindestens einen der Tatbestände
20a) der §§ 86, 86a, 89a, 91, 126, 129 bis 129b, 130, 131 oder 140 des Strafgesetzbuches,
21b) des § 184b des Strafgesetzbuches oder
22c) des § 241 des Strafgesetzbuches in Form der Bedrohung mit einem Verbrechen gegen das Leben, die sexuelle Selbstbestimmung, die körperliche Unversehrtheit oder die persönliche Freiheit
23erfüllen und nicht gerechtfertigt sind.
24(3) Der Anbieter des sozialen Netzwerks muss unverzüglich, nachdem er einen Inhalt entfernt oder den Zugang zu diesem gesperrt hat, prüfen, ob die Voraussetzungen des Absatzes 2 Nummer 3 vorliegen, und unverzüglich danach den Inhalt gemäß Absatz 4 übermitteln.
25(4) Die Übermittlung an das Bundeskriminalamt muss enthalten:
261. den Inhalt, und sofern vorhanden, den Zeitpunkt, zu dem der Inhalt geteilt oder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist, unter Angabe der zugrunde liegenden Zeitzone,
272. folgende Angaben zu dem Nutzer, der den Inhalt mit anderen Nutzern geteilt oder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat:
28a) den Nutzernamen und
29b) sofern vorhanden, die gegenüber dem Anbieter des sozialen Netzwerkes zuletzt verwendete IP-Adresse einschließlich der Portnummer sowie den Zeitpunkt des letzten Zugriffs unter Angabe der zugrunde liegenden Zeitzone.
30(5) Die Übermittlung an das Bundeskriminalamt hat elektronisch an eine vom Bundeskriminalamt zur Verfügung gestellte Schnittstelle zu erfolgen.
31(6) Der Anbieter eines sozialen Netzwerks informiert den Nutzer, für den der Inhalt gespeichert wurde, vier Wochen nach der Übermittlung an das Bundeskriminalamt über die Übermittlung nach Absatz 4. Satz 1 gilt nicht, wenn das Bundeskriminalamt binnen vier Wochen anordnet, dass die Information wegen der Gefährdung des Untersuchungszwecks, des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der persönlichen Freiheit einer Person oder von bedeutenden Vermögenswerten zurückzustellen ist. Im Fall der Anordnung nach Satz 2 informiert das Bundeskriminalamt den Nutzer über die Übermittlung nach Absatz 4, sobald dies ohne Gefährdung im Sinne des Satzes 2 möglich ist.
32(7) Der Anbieter eines sozialen Netzwerks hat der in § 4 genannten Verwaltungsbehörde auf deren Verlangen Auskünfte darüber zu erteilen, wie die Verfahren zur Übermittlung von Inhalten nach Absatz 1 gestaltet sind und wie sie angewendet werden.
33(8) Strafverfolgungsbehörden dürften für einen allgemeinen Austausch mit den Anbietern sozialer Netzwerke über die Anwendung der Absätze 1 bis 7 die hierfür erforderlichen personenbezogenen Daten in anonymisierter oder, wenn eine Anonymisierung nicht möglich ist, in pseudonymisierter Form verarbeiten.
34§ 3b NetzDG
35Gegenvorstellungsverfahren
36(1) Der Anbieter eines sozialen Netzwerks muss ein wirksames und transparentes Verfahren nach Absatz 2 vorhalten, mit dem sowohl der Beschwerdeführer als auch der Nutzer, für den der beanstandete Inhalt gespeichert wurde, eine Überprüfung einer zu einer Beschwerde über rechtswidrige Inhalte getroffenen Entscheidung über die Entfernung oder Sperrung des Zugangs zu einem Inhalt (ursprüngliche Entscheidung) herbeiführen kann; ausgenommen sind die Fälle des § 3 Absatz 2 Satz 1 Nummer 3 Buchstabe b. Der Überprüfung bedarf es nur, wenn der Beschwerdeführer oder der Nutzer, für den der beanstandete Inhalt gespeichert wurde, unter Angabe von Gründen einen Antrag auf Überprüfung innerhalb von zwei Wochen nach der Information über die ursprüngliche Entscheidung stellt (Gegenvorstellung). Der Anbieter des sozialen Netzwerks muss zu diesem Zweck ein leicht erkennbares Verfahren zur Verfügung stellen, das eine einfache elektronische Kontaktaufnahme und eine unmittelbare Kommunikation mit ihm ermöglicht. Die Möglichkeit der Kontaktaufnahme muss auch im Rahmen der Unterrichtung nach § 3 Absatz 2 Satz 1 Nummer 5 Buchstabe b eröffnet werden.
37(2) Das Verfahren nach Absatz 1 Satz 1 muss gewährleisten, dass der Anbieter des sozialen Netzwerks
381. für den Fall, dass er der Gegenvorstellung abhelfen möchte, im Fall einer Gegenvorstellung des Beschwerdeführers den Nutzer und im Falle einer Gegenvorstellung des Nutzers den Beschwerdeführer über den Inhalt der Gegenvorstellung unverzüglich informiert sowie im ersten Fall dem Nutzer und im zweiten Fall dem Beschwerdeführer Gelegenheit zur Stellungnahme innerhalb einer angemessenen Frist gibt,
392. darauf hinweist, dass der Inhalt einer Stellungnahme des Nutzers an den Beschwerdeführer sowie der Inhalt einer Stellungnahme des Beschwerdeführers an den Nutzer weitergegeben werden kann,
403. seine ursprüngliche Entscheidung unverzüglich einer Überprüfung durch eine mit der ursprünglichen Entscheidung nicht befasste Person unterzieht,
414. seine Überprüfungsentscheidung dem Beschwerdeführer und dem Nutzer unverzüglich übermittelt und einzelfallbezogen begründet, in den Fällen der Nichtabhilfe dem Beschwerdeführer und dem Nutzer jedoch nur insoweit, wie diese am Gegenvorstellungsverfahren bereits beteiligt waren, und
425. sicherstellt, dass eine Offenlegung der Identität des Beschwerdeführers und des Nutzers in dem Verfahren nicht erfolgt.
43(3) Sofern einer Entscheidung über die Entfernung oder die Sperrung des Zugangs zu einem Inhalt keine Beschwerde über rechtswidrige Inhalte zugrunde liegt, gelten die Absätze 1 und 2 entsprechend. Liegt der Entscheidung eine Beanstandung des Inhalts durch Dritte zugrunde, tritt an die Stelle des Beschwerdeführers diejenige Person, welche die Beanstandung dem Anbieter des sozialen Netzwerks übermittelt hat. Abweichend von Absatz 2 Nummer 3 ist es nicht erforderlich, dass die Überprüfung durch eine mit der ursprünglichen Entscheidung nicht befasste Person erfolgt. Abweichend von Absatz 1 Satz 2 bedarf es der Überprüfung nach Satz 1 dann nicht, wenn es sich bei dem Inhalt um erkennbar unerwünschte oder gegen die Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Anbieters verstoßende kommerzielle Kommunikation handelt, die vom Nutzer in einer Vielzahl von Fällen mit anderen Nutzern geteilt oder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde und die Gegenvorstellung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat.
44(4) Der Rechtsweg bleibt unberührt.
45§ 4 NetzDG
46Bußgeldvorschriften
47(1) Ordnungswidrig handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig
481. entgegen § 2 Absatz 1 Satz 1 einen Bericht nicht, nicht richtig, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig erstellt oder nicht, nicht richtig, nicht vollständig, nicht in der vorgeschriebenen Weise oder nicht rechtzeitig veröffentlicht,
492. entgegen § 3 Absatz 1 Satz 1 oder § 3b Absatz 1 Satz 1 ein dort genanntes Verfahren für den Umgang mit Beschwerden von Beschwerdestellen oder Nutzern, die im Inland wohnhaft sind oder ihren Sitz haben, oder für eine Überprüfung einer Entscheidung nicht, nicht richtig oder nicht vollständig vorhält,
503. entgegen § 3 Absatz 1 Satz 2 oder § 3b Absatz 1 Satz 3 ein dort genanntes Verfahren nicht oder nicht richtig zur Verfügung stellt,
514. entgegen § 3 Absatz 4 Satz 1 den Umgang mit Beschwerden nicht oder nicht richtig überwacht,
525. entgegen § 3 Absatz 4 Satz 2 eine organisatorische Unzulänglichkeit nicht oder nicht rechtzeitig beseitigt,
536. entgegen § 3 Absatz 4 Satz 3 eine Schulung oder eine Betreuung nicht oder nicht rechtzeitig anbietet,
547. entgegen § 3a Absatz 1 ein dort genanntes Verfahren nicht oder nicht richtig vorhält,
558. entgegen § 5 einen inländischen Zustellungsbevollmächtigten oder einen inländischen Empfangsberechtigten nicht benennt, oder
569. entgegen § 5 Absatz 2 Satz 2 als Empfangsberechtigter auf Auskunftsersuchen nicht reagiert.
57(2) Die Ordnungswidrigkeit kann in den Fällen des Absatzes 1 Nummer 8 und 9 mit einer Geldbuße bis zu fünfhunderttausend Euro, in den übrigen Fällen des Absatzes 1 mit einer Geldbuße bis zu fünf Millionen Euro geahndet werden. § 30 Absatz 2 Satz 3 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten ist anzuwenden.
58(3) Die Ordnungswidrigkeit kann auch dann geahndet werden, wenn sie nicht im Inland begangen wird.
59(4) Verwaltungsbehörde im Sinne des § 36 Absatz 1 Nummer 1 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten ist das Bundesamt für Justiz. Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz erlässt im Einvernehmen mit dem Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat, dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie und dem Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur allgemeine Verwaltungsgrundsätze über die Ausübung des Ermessens der Bußgeldbehörde bei der Einleitung eines Bußgeldverfahrens und bei der Bemessung der Geldbuße.
60(5) Will die Verwaltungsbehörde ihre Entscheidung darauf stützen, dass nicht entfernte oder nicht gesperrte Inhalte rechtswidrig im Sinne des § 1 Absatz 3 sind, so soll sie über die Rechtswidrigkeit vorab eine gerichtliche Entscheidung herbeiführen. Zuständig ist das Gericht, das über den Einspruch gegen den Bußgeldbescheid entscheidet. Der Antrag auf Vorabentscheidung ist dem Gericht zusammen mit der Stellungnahme des sozialen Netzwerks zuzuleiten. Über den Antrag kann ohne mündliche Verhandlung entschieden werden. Die Entscheidung ist nicht anfechtbar und für die Verwaltungsbehörde bindend.
61I. Das angerufene Gericht ist weiterhin für die Entscheidung über den Rechtsstreit örtlich zuständig. Dabei ist auch für die Entscheidung im Eilverfahren nach § 123 Abs. 2 Sätze 1 und 2 VwGO das Gericht der Hauptsache zuständig. Die örtliche Zuständigkeit des Gerichts folgt in der Hauptsache aus § 52 Nr. 5 VwGO, wonach in den nicht von § 52 Nr. 1 bis 4 VwGO erfassten Fällen der Sitz des Beklagten zuständigkeitsbestimmend ist. Ist – wie hier in der Hauptsache – der Staat Beklagter, so ist auf den Sitz derjenigen Behörde abzustellen, die für den Staat gehandelt hat oder handeln soll.
62Vgl. Ziekow, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 52, Rn. 40.
63Nachdem für die Überwachung und Durchsetzung der in Streit stehenden Verpflichtungen aus dem NetzDG das Bundesamt für Justiz (vgl. § 4a Abs. 1 und Abs. 2 i.V.m. § 4 Abs. 4 Satz 1 NetzDG) mit Sitz in Bonn zuständig ist, entscheidet das angerufene Gericht als das für das Gebiet der kreisfreien Stadt Bonn nach § 17 Nr. 5 Justizgesetz Nordrhein-Westfalen örtlich zuständige Gericht. Darüber hinaus ließe sich die örtliche Zuständigkeit auch auf eine entsprechende Anwendung des § 52 Nr. 2 Satz 1 VwGO stützen, da die in der Hauptsache erhobene vorbeugende Feststellungsklage das Bestehen oder Nichtbestehen von Verpflichtungen klären soll, deren Durchsetzung mittels Verwaltungsakts der vorgenannten Bundesbehörde erfolgen würde.
64Die so begründete örtliche Zuständigkeit bleibt von der mit Schriftsatz vom 12. August 2021 erklärten Ausübung des Rechts der Antragsgegnerin nach § 2 Abs. 5 der Anordnung über die Vertretung der Bundesrepublik Deutschland im Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz (BMJVertrAnO), die Vertretung im vorliegenden Verfahren zu übernehmen, unberührt. Unabhängig davon, dass das vorgenannte Recht ohnehin nicht die durch das den Streitgegenstand bildende materielle Recht bestimmte Zuständigkeit, sondern nur die (Prozess)Vertretung betrifft,
65vgl. zur fehlenden Maßgeblichkeit der Vertretungsregelung: Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 18. April 1985 – 3 C 34.84 –, juris, Rn. 33,
66wird die örtliche Zuständigkeit gemäß § 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17 Abs. 1 Satz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) durch etwaige nach Rechtshängigkeit eintretende Veränderungen der zuständigkeitsbegründenden Umstände nicht berührt.
67II. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zunächst in Bezug auf die mit dem Antrag zu 1. begehrte vorläufige Feststellung hinsichtlich der Pflichten aus § 3a NetzDG zulässig. Insoweit ist der Antrag insbesondere statthaft und ermangelt nicht eines wegen des hier begehrten vorbeugenden Rechtsschutzes erforderlichen qualifizierten Rechtsschutzinteresses. Demgegenüber ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in Bezug auf die mit dem Antrag zu 2. begehrte vorläufige Feststellung hinsichtlich der Verpflichtungen aus § 3b NetzDG nur teilweise zulässig, nämlich soweit es um die Verpflichtung aus § 3b Abs. 1 und 2 NetzDG geht. Im Übrigen, d.h. in Bezug auf die Feststellung etwaiger Verpflichtungen aus § 3b Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 und 2 NetzDG ist der Antrag unzulässig. Zwar ist er auch insoweit statthaft; allerdings fehlt es am Vorliegen des qualifizierten Rechtsschutzinteresses.
68Der auf die vorläufige Feststellung des Nichtbestehens der Verpflichtungen der Antragstellerin § 3a Abs. 1 bis 6 NetzDG gerichtete Antrag zu 1. sowie der § 3b Abs. 1 und 2 NetzDG betreffende Teil des Antrags zu 2. auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sind als Anträge auf Erlass einer Sicherungsanordnung im Sinne von § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO statthaft.
69Der Statthaftigkeit des Antrags nach § 123 Abs. 1 VwGO steht zunächst nicht entgegen, dass er in der Sache auf eine vorläufige Feststellung des Gerichts zum Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses gerichtet ist. Es entspricht der überwiegenden Rechtsauffassung in Rechtsprechung und Schrifttum, dass mit einer einstweiligen Anordnung grundsätzlich auch die vorläufige Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses im Sinne von § 43 Abs. 1 VwGO begehrt werden kann. Insbesondere kann die durch § 123 Abs. 1 VwGO gebotene Vorläufigkeit der vom Gericht angeordneten Maßnahme auch bei einem Feststellungsbegehren gewahrt werden.
70Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschlüsse vom 22. Juni 2017 – 13 B 238/17 –, juris, Rn. 13 m.w.N., und vom 25. August 2017 – 13 B 762/17 –, juris, Rn. 7 f. m.w.N.
71Erforderlich ist allerdings, dass ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO im Streit steht. Als feststellungsfähiges Rechtsverhältnis im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO werden die rechtlichen Beziehungen angesehen, die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer diesen Sachverhalt betreffenden öffentlich-rechtlichen Norm für das Verhältnis mehrerer Personen untereinander oder einer Person zu einer Sache ergeben. Zwischen den Beteiligten des Rechtsverhältnisses muss zudem ein Meinungsstreit bestehen, aus dem heraus sich eine Seite berühmt, ein bestimmtes Tun oder Unterlassen der anderen Seite verlangen zu können.
72Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 22. Juni 2017 – 13 B 238/17 –, juris, Rn. 15 m.w.N., und vom 25. August 2017 – 13 B 762/17 –, juris, Rn. 9 f. m.w.N.
73Es müssten sich also aus dieser Rechtsbeziehung heraus bestimmte Rechtsfolgen ergeben können, was wiederum die Anwendung von bestimmten Normen auf den konkreten Sachverhalt voraussetzt. Daran fehlt es, wenn nur abstrakte Rechtsfragen wie die Gültigkeit einer Norm zur Entscheidung gestellt werden. Auch bloße Vorfragen oder unselbstständige Elemente eines Rechtsverhältnisses können nicht Gegenstand einer Feststellungsklage sein. Anders liegt es dagegen, wenn die Anwendung einer Rechtsnorm auf einen bestimmten, in der Wirklichkeit gegebenen Sachverhalt streitig ist, so dass die Rechtmäßigkeit der Norm als – wenn auch streitentscheidende – Vorfrage aufgeworfen wird.
74Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. Juni 2017 – 13 B 238/17 –, juris, Rn. 17 m.w.N.
75Steht mit der Frage nach dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses in diesem Sinne auch die Frage nach der Gültigkeit einer Rechtsnorm im Raum, aus der die streitigen Rechte und Pflichte unmittelbar folgen, eröffnet sich ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis dabei grundsätzlich nicht zwischen dem Normgeber und dem Normadressaten, sondern zwischen dem Normadressaten und dem Rechtsträger der Vollzugsbehörde, die als Normanwender die im Streit stehende Rechtsnorm durchzusetzen oder ihre Befolgung zu überwachen hat. Hierfür ist ungeachtet des Umstandes, dass eine Norm „self-executing“ ist, d.h. sich aus ihr unmittelbar Rechte und Pflichten ergeben, hinreichend, dass für eine Vollzugsbehörde die Möglichkeit besteht, die Rechtsnorm gegenüber dem Normadressaten zu konkretisieren oder zu individualisieren und Anordnungen für den Einzelfall aufgrund gesetzlicher Befugnisse zu treffen. Ein auf die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses gerichteter Rechtsbehelf des Normadressaten unmittelbar gegenüber dem Normgeber kommt hingegen allenfalls dann in Betracht, wenn die Rechtsnorm unmittelbar Rechte und Pflichten des Normadressaten begründet, ohne dass eine Konkretisierung oder Individualisierung durch Verwaltungsvollzug vorgesehen oder möglich ist.
76Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. Juni 2017 – 13 B 238/17 –, juris, Rn. 19 m.w.N.
77Nach Maßgabe dieser Grundsätze steht vorliegend ein hinreichend konkretes feststellungsfähiges Rechtsverhältnis zwischen der Antragstellerin und der Antragsgegnerin als Rechtsträgerin des Bundesamtes für Justiz im Streit. Die Antragstellerin hat dem Gericht mit dem Antrag auf vorläufige Feststellung einen hinreichend konkreten Sachverhalt zur Beurteilung unterbreitet. Die Antragstellerin begehrt nicht die abstrakte Klärung der Vereinbarkeit der angegriffenen gesetzlichen Regelungen mit höherrangigem bzw. im Fall des Unionsrechts jedenfalls vorrangig anwendbarem Recht aufgrund eines noch ungewissen Sachverhalts. Vielmehr bezieht sich die begehrte Feststellung darauf, ob die Antragstellerin zur Einhaltung näher bezeichneter Pflichten aus dem NetzDG verpflichtet ist. Konkret stellt sich dabei die Frage, ob die Antragstellerin der seit dem 1. Februar 2022 geltenden Meldepflicht nach § 3a NetzDG unterliegt und ob sie seit dem 1. Oktober 2021 ein Gegenvorstellungsverfahren nach § 3b NetzDG vorhalten muss. Die Meldepflicht und die Verpflichtung zur Vorhaltung eines Gegenvorstellungsverfahrens ergeben sich zwar unmittelbar aus den angegriffenen Rechtsnormen und bedürfen insofern keines gesonderten Vollzugsaktes mehr, um eine unmittelbar grundrechtsrelevante Wirkung gegenüber der Antragstellerin zu entfalten. Allerdings ist dem Bundesamt für Justiz als Aufsichtsbehörde nach näherer Maßgabe von § 4a Abs. 2 NetzDG die gesetzliche Befugnis eingeräumt, bei Verstößen gegen die Vorschriften dieses Gesetzes die erforderlichen Maßnahmen gegenüber dem Anbieter zu treffen. Ferner ist das Bundesamt für Justiz als Aufsichtsbehörde gemäß § 3a Abs. 7 NetzDG berechtigt, vom Anbieter eines sozialen Netzwerks Auskünfte über die Ausgestaltung und Anwendung des Verfahrens zur Übermittlung von Inhalten nach § 3a Abs. 1 NetzDG einzuholen. Dass das Bundesamt für Justiz davon ausgeht, dass die Antragstellerin unter die streitgegenständlichen Regelungen des NetzDG fällt und es die genannten Maßnahmen gegenüber der Antragstellerin ergreifen wird, ist aus Sicht der Kammer nicht ernstlich zweifelhaft. Insbesondere hat die Antragsgegnerin der Antragstellerin auf entsprechende Anfrage im Schriftsatz vom 17. Juni 2021 auch nicht bestätigt, dass die Antragstellerin mit ihrem Plattformen G. und J. nicht unter das NetzDG falle.
78Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist in Gestalt eines Antrags auf Erlass einer Sicherungsanordnung im Sinne von § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO statthaft, weil die Gefahr besteht, dass durch die Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung des Rechts der Antragstellerin vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Bei der Sicherungsanordnung handelt es sich um eine zustandssichernde Maßnahme; sie dient der Bewahrung des Status quo.
79Für den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung besteht hier in Bezug auf den Antrag zu 1. und den § 3b Abs. 1 und 2 NetzDG betreffenden Teil des Antrags zu 2. auch trotz des geltend gemachten vorbeugenden Rechtsschutzes ein hinreichendes Rechtsschutzinteresse.
80Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz ist vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Gewaltenteilung und des im Ausgangspunkt reaktiv konzipierten Gebots eines effektiven Rechtsschutzes in Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) grundsätzlich nicht vorbeugend ausgestaltet. Ein Abweichen von dieser Grundentscheidung kommt nur ausnahmsweise in Betracht, wenn der nachträgliche Rechtsschutz mit unzumutbaren Nachteilen für den Betroffenen verbunden wäre. Danach ist für einen vorbeugenden Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO – ebenso wie für eine in der Hauptsache erhobene vorbeugende Feststellungsklage – ein qualifiziertes, gerade auf die Inanspruchnahme vorbeugenden vorläufigen Rechtsschutzes gerichtetes Rechtsschutzbedürfnis notwendig. Dieses ist grundsätzlich zu verneinen, solange der Antragsteller in zumutbarer Weise auf den von der Verwaltungsgerichtsordnung im Regelfall als angemessen und ausreichend angesehenen nachträglichen Rechtsschutz verwiesen werden kann. Es ist in der Regel zumutbar, die Verwaltungsmaßnahme abzuwarten und anschließend Rechtsmittel gegen die Verwaltungsmaßnahme einzulegen sowie – falls erforderlich – um vorläufigen Rechtsschutz nach §§ 80, 80a VwGO nachzusuchen. Ein qualifiziertes Rechtsschutzinteresse ist hingegen zu bejahen, wenn ohne die Inanspruchnahme vorbeugenden Rechtsschutzes die Gefahr bestünde, dass vollendete, nicht mehr rückgängig zu machende Tatsachen geschaffen würden oder wenn ein nicht mehr zu kompensierender Schaden entstünde.
81Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. Juni 2017 – 13 B 238/17 –, juris, Rn. 24 m.w.N.
82Nach diesen Grundsätzen ist die Antragstellerin in Bezug auf die begehrte vorläufige Feststellung hinsichtlich der Pflichten aus § 3a und § 3b Abs. 1 und 2 NetzDG ausnahmsweise nicht darauf zu verweisen, Maßnahmen nach § 4a Abs. 2 und 3 NetzDG oder Auskunftsverlangen nach § 3a Abs. 7 NetzDG des Bundesamts für Justiz abzuwarten. Denn Verstöße gegen die vorgenannten Verpflichtungen sind bußgeldbewehrt. Die – vorsätzliche oder fahrlässige – Nichterfüllung der Verpflichtung zur Vorhaltung eines Gegenvorstellungsverfahrens (§ 3b Abs. 1 Satz 1 NetzDG), der Verpflichtung zur Zurverfügungstellung des in § 3b Abs. 1 Satz 3 NetzDG genannten Verfahrens zur Kontaktaufnahme und Kommunikation und der Verpflichtung zur Vorhaltung des Meldeverfahrens (§ 3a Abs. 1 NetzDG) stellt nach § 4 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 3 bzw. Nr. 7 NetzDG eine Ordnungswidrigkeit dar. Diese kann durch das Bundesamt der Justiz nach § 4 Abs. 2 NetzDG i.V.m. § 30 Abs. 2 Satz 3 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) mit einer Geldbuße in Höhe von bis zu 50 Millionen Euro geahndet werden. Die Antragstellerin unter diesen Umständen auf die Inanspruchnahme nachträglichen Rechtsschutzes gegen ordnungsrechtliche Maßnahmen des Bundesamts für Justiz bzw. gegen einen etwaigen Bußgeldbescheid des Bundesamts für Justiz zu verweisen, bedeutete mithin, sie dem Risiko einer Ahndung auszusetzen und ihr gegebenenfalls die Klärung der verwaltungsrechtlichen Zweifelsfragen „auf der Anklagebank“ zuzumuten.
83Vgl. zum letztgenannten Aspekt: Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 7. April 2003 – 1 BvR 2129/02 –, juris, Rn. 14 m.w.N.
84Der Verweis auf die Inanspruchnahme nachträglichen Rechtsschutzes wäre daher mit unzumutbaren Nachteilen verbunden. Vieles spricht dafür, dass über die Formulierung „nicht richtig“ oder „nicht vollständig“ in § 4 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 7 NetzDG auch die mit der Umsetzung der dort ausdrücklich genannten Verfahren zusammenhängenden Verpflichtungen erfasst sind. Demgemäß gilt das Vorstehende auch in Bezug auf die angegriffenen Verpflichtungen aus § 3a Abs. 6 und § 3b Abs. 1 Satz 4 NetzDG.
85Demgegenüber fehlt das erforderliche qualifizierte Rechtsschutzinteresse in Bezug auf die begehrte vorläufige Feststellung hinsichtlich der Pflicht aus § 3b Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 und 2 NetzDG.
86Denn Verstöße gegen die Verpflichtung aus § 3b Abs. 3 NetzDG sind, da sie nicht in § 4 Abs. 1 NetzDG als Ordnungswidrigkeiten aufgeführt sind, nicht bußgeldbewehrt. Insoweit ist die Antragstellerin auf die Inanspruchnahme nachträglichen Rechtsschutzes gegen etwaige aufsichtsbehördliche Verfügungen gemäß § 4a Abs. 2 und 3 NetzDG zu verweisen. Schwerwiegende oder unzumutbare Nachteile sind damit nicht verbunden. So könnte die Antragstellerin, wenn die Antragsgegnerin gestützt auf § 4a Abs. 2 NetzDG eine Ordnungsverfügung erließe, die die gesetzliche Pflicht zur Vorhaltung eines Gegenvorstellungsverfahrens für die von § 3b Abs. 3 NetzDG erfassten Fälle konkretisiert, dagegen – bei Anordnung der sofortigen Vollziehung auch im Wege des Eilrechtsschutzes – mit der Anfechtungsklage vorgehen. Dass der Antragstellerin bis zu einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts in einem solchen Verfahren (gegebenenfalls des vorläufigen Rechtsschutzes) schwere oder irreparable und daher unzumutbare Nachteile drohen, ist nicht ernsthaft zu besorgen. Insbesondere kann die Antragstellerin insoweit nicht auf den Aufwand zur Umsetzung des Gegenvorstellungsverfahrens verweisen. Denn unabhängig davon, dass dieser Aufwand bereits durch die – nach dem oben Gesagten hier zulässigerweise zur Überprüfung gestellte – Pflicht nach § 3b Abs. 1 und 2 NetzDG ausgelöst wird, muss für die Beurteilung der Zumutbarkeit von einem Szenario ausgegangen werden, in dem die Antragstellerin in Bezug auf die Pflicht aus § 3b Abs. 3 NetzDG gerade keine Umsetzungsmaßnahmen trifft, sondern den Erlass einer etwaigen Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin abwartet.
87Soweit – wie dargelegt – das erforderliche qualifizierte Rechtsschutzinteresse für den Antrag gegeben ist, hat die Antragstellerin ferner glaubhaft und nachvollziehbar dargelegt, dass sie ohne den vorbeugenden Rechtsschutz bereits weitreichende Maßnahmen ergreifen müsste, um die Verpflichtungen aus den genannten Vorschriften des NetzDG umzusetzen.
88Vgl. so auch Verwaltungsgericht (VG) Köln, Beschluss vom 25. Januar 2017 – 9 L 1009/16 –, juris, Rn. 11.
89Darüber hinaus ist die in § 3a NetzDG vorgesehene Datenausleitung an das Bundeskriminalamt irreversibel.
90Die begehrte vorläufige Feststellung hinsichtlich der Pflichten aus § 3a und § 3b Abs. 1 und 2 NetzDG stellt zudem keine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache dar. Denn hierunter ist nur eine endgültige – rechtliche oder zumindest faktische – Vorwegnahme der Hauptsache in dem Sinne zu verstehen, dass die Entscheidung und ihre Folgen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen auch nach der Hauptsacheentscheidung gänzlich nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Die bloße Tatsache, dass die vorübergehende Aussetzung als solche nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, macht die vorläufige Regelung in einem solchen Fall nicht zu einer faktisch endgültigen. Denn eine derartige zwangsweise Vorwegnahme wohnt jeder vorläufigen Entscheidung inne, würde eine einstweilige Anordnung somit regelmäßig unzulässig machen.
91Vgl. VG Köln, Beschluss vom 25. Januar 2017 – 9 L 1009/16 –, juris, Rn. 12.
92III. Der nach den vorstehenden Ausführungen zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist teilweise begründet.
93Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann eine einstweilige Anordnung zur Sicherung eines Rechts des Antragstellers getroffen werden, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung dieses Rechts vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Hierbei sind gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) die tatsächlichen Voraussetzungen für das Bestehen des zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch, hierzu 1.) und die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund, hierzu 2.) glaubhaft zu machen. Art. 19 Abs. 4 GG garantiert in diesem Zusammenhang nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle. Droht dem Antragsteller bei Versagung des einstweiligen Rechtschutzes eine erhebliche, über den Randbereich hinausgehende Verletzung in seinen Rechten, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, so ist – erforderlichenfalls unter eingehender tatsächlicher und rechtlicher Prüfung des im Hauptverfahren geltend gemachten Anspruchs – einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, wenn nicht ausnahmsweise gewichtige Gründe entgegenstehen. Ist dem Gericht hingegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit, des Umfangs der noch erforderlichen Ermittlungen oder der Komplexität der zu behandelnden Rechtsfragen nicht möglich, erfordert die Garantie effektiven Rechtsschutzes durch Art. 19 Abs. 4 GG im Rahmen von § 123 VwGO grundsätzlich anhand einer umfassenden Folgenabwägung zu entscheiden, wobei insbesondere grundrechtliche Belange umfassend in die Abwägung einzustellen sind.
94Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. Juni 2017 – 13 B 238/17 –, juris, Rn. 27 m.w.N.
95Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Sicherung der Rechte der Antragstellerin nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO im tenorierten Umfang geboten. Die Antragstellerin hat sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
961. Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch in Bezug auf die Verpflichtungen aus § 3a NetzDG glaubhaft gemacht. Die in dieser Norm vorgesehene Meldepflicht genügt nicht den europarechtlichen Anforderungen (hierzu a.). Hinsichtlich § 3b Abs. 1 und 2 NetzDG fehlt es demgegenüber an einem Anordnungsanspruch (hierzu b.)
97a. § 3a NetzDG ist wegen Verstoßes gegen die Bestimmungen der Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“ – im Folgenden: ECRL) mit Unionsrecht unvereinbar und daher gegenüber der Antragstellerin unanwendbar.
98Nach Art. 3 Abs. 2 ECRL dürfen die Mitgliedstaaten den freien Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft aus einem anderen Mitgliedstaat – so auch bei der in Irland ansässigen Antragstellerin – nicht aus Gründen einschränken, die in den koordinierten Bereich fallen (sog. Herkunftslandprinzip). Gleiches folgt aus § 3 Abs. 2 Telemediengesetz (TMG), der das vorgenannte europäische Sekundärrecht in nationales Recht umsetzt und auch auf Anbieter sozialer Netzwerke im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 NetzDG Anwendung findet.
99Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin findet in Bezug auf § 3a NetzDG das Herkunftslandprinzip Anwendung.
100Nach Art. 2 lit. h i) 2. Gedankenstrich ECRL betrifft der koordinierte Bereich u.a. vom Diensteanbieter zu erfüllende Anforderungen in Bezug auf die Ausübung der Tätigkeit eines Dienstes der Informationsgesellschaft, beispielsweise Anforderungen betreffend das Verhalten des Diensteanbieters, Anforderungen betreffend Qualität oder Inhalt des Dienstes, einschließlich der auf Werbung und Verträge anwendbaren Anforderungen, sowie Anforderungen betreffend die Verantwortlichkeit des Diensteanbieters.
101Die durch § 3a NetzDG statuierte Pflicht des Anbieters eines sozialen Netzwerks, gemeldete Verstöße auf das Vorliegen von Anhaltspunkten für bestimmte Straftaten zu überprüfen sowie bestimmte Daten an das Bundeskriminalamt zu übermitteln, betrifft den koordinierten Bereich der Ausübung der Tätigkeit des Diensteanbieters, namentlich Anforderungen an das Verhalten des Diensteanbieters.
102Die Argumentation der Antragsgegnerin, wonach die Prüf- und Übermittlungspflicht nicht in den koordinierten Bereich falle, überzeugt nicht. Soweit sie versucht, diese Verpflichtungen dem Kompetenzbereich des Unionsgesetzgebers zu entziehen, da Strafverfolgung eine allein mitgliedstaatliche Kompetenz sei, vermag dies weder den eindeutigen Wortlaut der Definition des koordinierten Bereichs noch die Existenz des Art. 15 Abs. 2 ECRL zu erklären. Denn diese im Abschnitt „Verantwortlichkeit der Vermittler“ verortete Vorschrift regelt ausdrücklich die Kompetenz der Mitgliedstaaten, unter bestimmten Voraussetzungen im Falle von mutmaßlichen rechtswidrigen Tätigkeiten oder Informationen der Nutzer von dem entsprechenden Diensteanbieter Auskunft zu erhalten. Dieser Norm bedürfte es überhaupt nicht, wenn Prüf- und Auskunftspflichten zur Ermöglichung der Strafverfolgung nicht dem koordinierten Bereich der Bestimmungen über die Verantwortlichkeit von Diensteanbietern unterfielen. Die Argumentation steht im Übrigen im Widerspruch zu den Annahmen des Gesetzgebers, der die durch das NetzDG auferlegten Pflichten des Netzwerkbetreibers durchaus im koordinierten Bereich sah.
103Vgl. BT-Drs. 18/12356, S. 14.
104Die Antragsgegnerin verweist ferner darauf, dass § 3a NetzDG durch Art. 15 Abs. 2 ECRL legitimiert sei, der seinerseits eine Ausnahme vom Herkunftslandprinzip darstelle. Aus Sicht der Kammer sind die in Abschnitt 4 „Verantwortlichkeit der Vermittlung“ in den Artikeln 12 bis 15 ECRL enthaltenen Vorschriften zwar nicht als Ausnahmevorschriften vom Herkunftslandprinzip zu verstehen. Diese stellen allerdings Spezialvorschriften den koordinierten Bereich betreffend dar, bei denen, soweit die Vorschriften den Mitgliedstaaten Befugnisse einräumen, die in Ausübung dieser Befugnisse ergriffenen Maßnahmen als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können.
105Für dieses Verständnis spricht die Systematik der Richtlinie, da zunächst im Rahmen allgemeiner Bestimmungen (Art. 1 bis 3 ECRL) der Anwendungsbereich, die Begriffsbestimmungen und die Geltung des Binnenmarkts geregelt werden. Alle nachfolgenden Bestimmungen bauen auf diesen vorgenannten allgemeinen Bestimmungen auf. Die speziellen Vorschriften zur Verantwortlichkeit der Vermittler erlauben daher bei Vorliegen der dortigen Voraussetzungen mitgliedstaatliche Maßnahmen, die von der Richtlinie als noch binnenmarktverträglich angesehen werden. Dies erfordert allerdings eine dem Zweck der Richtlinie entsprechende enge Auslegung der speziellen Ermächtigungsnormen, wenn es um Sachverhalte geht, die – wie hier – den Binnenmarkt betreffen.
106(1) Nach diesen Maßstäben verstößt § 3a Abs. 1, 2 und 3 NetzDG nicht bereits gegen Art. 15 Abs. 1 ECRL (bzw. § 7 Abs. 2 TMG).
107Gemäß Art. 15 Abs. 1 ECRL erlegen die Mitgliedstaaten Anbietern von Diensten i.S.d. Art. 12, 13 und 14 ECRL keine allgemeinen Verpflichtungen auf, die von ihnen übermittelten oder gespeicherten Informationen zu überwachen oder aktiv nach Umständen zu forschen, die auf eine rechtswidrige Tätigkeit hinweisen.
108Entgegen der Auffassung der Antragstellerin folgt aus § 3a Abs. 1 NetzDG keine Verpflichtung, aktiv nach Tatsachen oder Umständen zu suchen, die möglicherweise auf rechtswidrige Informationen hinweisen könnten. Bei der Antragstellerin handelt es sich zunächst um einen Anbieter eines Dienstes i.S.v. Art. 14 Abs. 1 ECRL, nämlich um einen Dienst der Informationsgesellschaft, der in der Speicherung von durch einen Nutzer eingegebenen Informationen besteht. § 3a NetzDG statuiert eine Überprüfungs- und Übermittlungspflicht. Die Übermittlung ist an drei kumulative Bedingungen geknüpft: Es muss sich 1. um Inhalte handeln, die dem Anbieter einer Beschwerde über rechtswidrige Inhalte gemeldet worden sind, die 2. der Anbieter daraufhin entfernt oder zu denen er den Zugang gesperrt hat und bei denen 3. konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie mindestens einer der enumerativ aufgelisteten Tatbestände erfüllen und nicht gerechtfertigt sind. In zeitlicher Hinsicht sieht Abs. 3 des § 3a NetzDG vor, dass der Anbieter unverzüglich nach der Entfernung bzw. Zugangssperre zu prüfen hat, ob die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 3 NetzDG (konkrete Anhaltspunkte auf Straftaten) vorliegen.
109Vgl. hierzu BT-Drs. 19/17741, S. 43 ff., woraus sich insbesondere auch ergibt, dass § 3a Abs. 3 NetzDG nicht etwa eigene Tatbestandsvoraussetzungen für die Übermittlung aufstellt, sondern nur den Zeitpunkt bestimmt, wann die Meldung an das Bundeskriminalamt erfolgen muss (S. 47).
110Zwar ist eine Beschwerde über rechtswidrige Inhalte nach § 1 Abs. 4 NetzDG bereits jede Beanstandung eines Inhalts mit dem Begehren der Entfernung oder der Sperrung des Zugangs zum Inhalt, es sei denn, dass mit der Beanstandung erkennbar nicht geltend gemacht wird, dass ein rechtswidriger Inhalt vorliegt. Das bedeutet, dass an eine solche Beschwerde keine besonderen Substantiierungsanforderungen gestellt werden. Ferner dürfte die Beurteilung, ob konkrete Anhaltspunkte für die Erfüllung der Straftatbestände
111- § 86 StGB – Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger und terroristischer Organisationen,
112- § 86a StGB – Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen,
113- § 89a StGB – Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat,
114- § 91 StGB – Anleitung zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat,
115- § 126 StGB – Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten,
116- § 129 StGB – Bildung krimineller Vereinigungen,
117- § 129a StGB – Bildung terroristischer Vereinigungen,
118- § 129b StGB – Kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland,
119- § 130 StGB – Volksverhetzung,
120- § 131 StGB – Gewaltdarstellung,
121- § 140 StGB – Belohnung und Billigung von Straftaten,
122- § 184b StGB – Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Inhalte und
123- § 241 StGB – Bedrohung (mit einem Verbrechen gegen das Leben, die sexuelle Selbstbestimmung, die körperliche Unversehrtheit oder die persönliche Freiheit)
124vorliegen, im Einzelfall schwierig sein.
125Der Gesetzgeber hat insoweit jedoch ausdrücklich klargestellt, dass der Anbieter eines sozialen Netzwerks gerade keiner aktiven Sachverhaltsaufklärungspflicht unterliegt:
126„Eine Meldepflicht darf daher nicht schon bei der reinen Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung ausgelöst werden, sondern bedarf objektiver, nachprüfbarer und erkennbarer Indizien, die für jedermann die Verwirklichung eines Katlogstraftatbestandes nahelegen. Eine Beschränkung der Meldepflicht auf Fälle eines dringenden Tatverdachts hingegen würde für die Meldepflicht eine strenge juristische Bewertung im Einzelfall erfordern, die nicht den Anbietern sozialer Netzwerke, sondern den Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden obliegt. Die Anknüpfung der Meldepflicht an konkrete Anhaltspunkte schützt einerseits die betroffenen Grundrechte und ist andererseits für die der Meldepflicht unterliegenden Anbieter sozialer Netzwerke auch umsetzbar.
127Voraussetzung für den Begriff der konkreten Anhaltspunkte sind objektive, nachprüfbare und für jedermann erkennbare Indizien, die sich aus dem hochgeladenen Inhalt selbst oder den weiteren erkennbaren Umständen ergeben. Weitergehende Ermittlungen zur Klärung von Tatbestandsmerkmalen können den sozialen Plattformen nicht auferlegt werden.“
128vgl. BT-Drs. 19/17741, S. 44,
129Jedenfalls bei einer unionsrechtskonformen Auslegung der Bestimmung und unter Zuhilfenahme der Begründung des Gesetzesentwurfs erweist sich die Sorge der Antragstellerin – und der Europäischen Kommission,
130vgl. Mitteilung vom 18. Mai 2020, C(2020) 3380 final, S. 10 ff. –
131als unbegründet.
132(2) § 3a NetzDG kann nicht auf Art. 15 Abs. 2 ECRL gestützt werden.
133Nach Art. 15 Abs. 2 ECRL können Mitgliedstaaten Anbieter von Diensten der Informationsgesellschaft dazu verpflichten, die zuständigen Behörden unverzüglich über mutmaßliche rechtswidrige Tätigkeiten oder Informationen der Nutzer ihres Dienstes zu unterrichten (Variante 1) oder dazu verpflichten, den zuständigen Behörden auf Verlangen Informationen zu übermitteln, anhand deren die Nutzer ihres Dienstes, mit denen sie Vereinbarungen über die Speicherung geschlossen haben, ermittelt werden können (Variante 2).
134Dabei bringt schon der Wortlaut des Art. 15 Abs. 2 ECRL zum Ausdruck, dass die in Variante 1 genannten „Informationen der Nutzer“ nicht gleichbedeutend sind mit den in Variante 2 genannten „Informationen, anhand deren die Nutzer ihres Dienstes ermittelt werden können“, sodass danach zu differenzieren ist, ob es sich um Informationen nach Variante 1 oder Variante 2 handelt.
135Ferner ist bei der Beurteilung eines Verstoßes gegen Art. 15 Abs. 2 ECRL zwischen den nach § 3a Abs. 4 Nr. 1 NetzDG und denen nach § 3a Abs. 4 Nr. 2 NetzDG zu übermittelnden Informationen zu differenzieren.
136Die nach § 3a Abs. 4 Nr. 2 NetzDG zu übermittelnden Informationen (Nutzernamen, zuletzt verwendete IP-Adresse einschließlich der Portnummer, Zeitpunkt des letzten Zugriffs unter Angabe der zugrunde liegenden Zeitzone) sind als „Informationen, anhand deren die Nutzer des Dienstes ermittelt werden können“ (Variante 2) einzuordnen. Für solche Informationen sieht Art. 15 Abs. 2 2. Variante ERCL vor, dass diese nur „auf Verlangen“, d.h. auf konkrete und nicht nur eine abstrakt-generelle Anforderung übermittelt werden dürfen. Die in § 3a Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 4 NetzDG vorgesehene abstrakt-generelle Übermittlungspflicht steht mit Art. 15 Abs. 2 2. Variante ECRL nicht im Einklang.
137Demgegenüber fallen die nach § 3a Abs. 4 Nr. 1 NetzDG zu übermittelnden Informationen (Inhalt sowie Zeitpunkt, zu dem der Inhalt geteilt oder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist, unter Angabe der zugrunde liegenden Zeitzone) unter den Begriff der Unterrichtung über „mutmaßliche rechtswidrige Aktivitäten oder Informationen der Nutzer“. Art. 15 Abs. 2 1. Variante ECRL lässt sich auch nicht entnehmen, dass die Verpflichtung zur Unterrichtung auf behördliche Einzelmaßnahmen beschränkt und nicht aufgrund abstrakt-genereller Regelungen zulässig wäre.
138Dennoch kann sich der Antragsgegnerin in Bezug auf die Meldepflicht nach § 3a NetzDG auch nicht teilweise auf eine Befugnis nach Art. 15 Abs. 2 ECRL stützen. Einer Aufspaltung der Meldepflicht in einen unionsrechtskonformen (§ 3a Abs. 4 Nr. 1 NetzDG) und einen unionsrechtswidrigen (§ 3a Abs. 4 Nr. 2 NetzDG) Teil steht entgegen, dass die Übermittlung nach § 3a Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 4 Nr. 1 und 2 NetzDG nach dem Willen des Gesetzgebers als untrennbare Gesamtmaßnahme anzusehen sein dürfte. Denn die Übermittlung des Inhalts eines Beitrags zusammen mit den Daten, die eine Identifikation des Nutzers zulassen, war von Anfang an das Kernstück der Gesetzesnovelle. Die Möglichkeit einer auf den Inhalt des Beitrags beschränkten Übermittlung der Daten an das Bundeskriminalamt ist ausdrücklich vom Gesetzgeber nicht gewählt worden. Daher kann nicht angenommen werden, dass eine um die Nutzerdaten gekürzte Meldepflicht noch vom Willen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers getragen wäre.
139(3) Ob die Meldepflicht aus § 3a NetzDG auf einen Ausnahmetatbestand nach Art. 3 Abs. 4 ECRL (bzw. § 3 Abs. 5 TMG) gestützt werden kann, bedarf keiner abschließenden Entscheidung (hierzu (a)). Jedenfalls ist das in diesem Fall erforderliche Verfahren nicht eingehalten worden (hierzu (b)).
140(a) Gemäß Art. 3 Abs. 4 ECRL können die Mitgliedstaaten Maßnahmen ergreifen, die im Hinblick auf einen bestimmten Dienst der Informationsgesellschaft von Absatz 2 abweichen, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind:
141a) Die Maßnahmen
142i) sind aus einem der folgenden Gründe erforderlich:
143- Schutz der öffentlichen Ordnung, insbesondere Verhütung, Ermittlung, Aufklärung und Verfolgung von Straftaten, einschließlich des Jugendschutzes und der Bekämpfung der Hetze aus Gründen der Rasse, des Geschlechts, des Glaubens oder der Nationalität, sowie von Verletzungen der Menschenwürde einzelner Personen
144ii) betreffen einen bestimmten Dienst der Informationsgesellschaft, der die unter Ziffer i) genannten Schutzziele beeinträchtigt oder eine ernsthafte und schwerwiegende Gefahr einer Beeinträchtigung dieser Ziele darstellt
145iii) stehen in einem angemessenen Verhältnissen zu diesen Schutzzielen.
146b) Der Mitgliedstaat hat vor Ergreifen der betreffenden Maßnahmen unbeschadet etwaiger Gerichtsverfahren, einschließlich Vorverfahren und Schritten im Rahmen einer strafrechtlichen Ermittlung
147- den in Absatz 1 genannten Mitgliedstaat aufgefordert, Maßnahmen zu ergreifen, und dieser hat dem nicht Folge geleistet oder die von ihm getroffenen Maßnahmen sind unzulänglich
148- die Kommission und den in Absatz 1 genannten Mitgliedstaat über seine Absicht, derartige Maßnahmen zu ergreifen, unterrichten.
149§ 3a NetzDG dient offensichtlich (vgl. § 3a Abs. 2 NetzDG: „zum Zwecke der Ermöglichung der Verfolgung von Straftaten“) dem Schutz der öffentlichen Ordnung, insbesondere der Ermittlung, Aufklärung und Verfolgung von Straftaten, einschließlich der Bekämpfung der Hetze aus Gründen der Rasse, des Geschlechts, des Glaubens oder der Nationalität, sowie von Verletzungen der Menschenwürde einzelner Personen sowie von Verletzungen der Menschenwürde einzelner Personen. Auf Grundlage der im Rahmen des vorliegenden Eilverfahrens nur möglichen, aber auch nur gebotenen summarischen Prüfung ist ferner davon auszugehen, dass die von § 3a NetzDG vorgesehenen Maßnahmen erforderlich sind.
150Die Erforderlichkeit ist nach allgemeinen verwaltungsrechtlichen Maßstäben nur dann abzulehnen, wenn es eine Alternative gibt, die weniger eingriffsintensiv, aber gleich effektiv ist.
151Bei den Regelungen in § 3a NetzDG erscheint insbesondere diskussionswürdig, dass der Anbieter eines sozialen Netzwerks zum einen das Vorliegen von konkreten Anhaltspunkten für die nicht gerechtfertigte Erfüllung näher bezeichneter Strafvorschriften zu prüfen und zum anderen auf der Grundlage dieser eigenen Prüfung Nutzerdaten direkt an das Bundeskriminalamt auszuleiten hat.
152Zwar spricht nicht Weniges dafür, dass das im Gesetzgebungsverfahren u.a. diskutierte zweistufige Ausleitungsverfahren, bei dem zunächst nur die URL des beanstandeten Inhalts an das Bundeskriminalamt oder an Schwerpunktstaatsanwaltschaften wie die ZAC (Zentrale Ansprechstelle Cybercrime) oder ZIT (Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität) übersandt wird und erst nach dortiger Bejahung eines Anfangsverdachts die relevanten Nutzungsdaten übermittelt werden, die dogmatisch unbedenklichste Lösung darstellen dürfte. Allerdings ist dieses Verfahren nicht gleich effektiv, da mit dem damit einhergehenden Zeitverlust die Gefahr verbunden ist, dass die Feststellung des Erstellers der beanstandeten Inhalte nicht mehr möglich ist.
153Ähnliches gilt wegen des Zwischenschritts und dem daraus folgenden Zeitverlust in Bezug auf die Alternative, dass das Bundeskriminalamt nach Erhalt der Meldung des beanstandeten Inhalts anlassbezogen beim Internet-Provider die Speicherung der betroffenen IP-Adresse beantragt und während dieser Speicherzeit die Staatsanwaltschaft das Vorliegen eines Anfangsverdachts prüft.
154Zwar sprechen auch gute Gründe für die ebenfalls im Gesetzgebungsverfahren diskutierte Alternative, dass der Anbieter eines sozialen Netzwerks die zur Feststellung eines Tatverdächtigen erforderlichen Nutzungsdaten direkt an den jeweiligen Telekommunikationsanbieter weiterleitet, der Telekommunikationsanbieter daraufhin verpflichtet ist, anhand der übermittelten Nutzungsdaten unverzüglich die Zuordnung zu einer Person vorzunehmen und dem Bundeskriminalamt dieses Bestandsdatum erst nach Bejahung eines Anfangsverdachts auf entsprechende Aufforderung übermittelt. Insbesondere hinsichtlich der Eingriffsintensität in Bezug auf die betroffenen Nutzer sozialer Netzwerke könnte sich diese Alternative gegenüber dem in § 3a NetzDG gewählten Verfahren als vorteilhaft erweisen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass diese Vorgehensweise eine Übermittlungsinfrastruktur zwischen den Telemedien- und Telekommunikationsanbietern erfordert und es zu einem Datenabfluss an ein nicht unmittelbar grundrechtsgebundenes Privatunternehmen, nämlich dem Telekommunikationsanbieter, kommen würde. Der Anbieter des sozialen Netzwerks müsste im Rahmen der Meldepflicht zudem zwei Empfänger adressieren, was generell fehleranfälliger ist als die Ansteuerung eines Empfängers. Außerdem müssten Vorkehrungen getroffen werden, die beiden Übermittlungsvorgänge später fehlerfrei wieder einem Vorgang zuordnen zu können. Im Gegensatz zu den zuvor erwähnten Alternativmöglichkeiten kommt es bei dieser Variante jedoch nicht zu einem Zeitverlust. Vielmehr dürfte bei der in § 3a NetzDG gewählten Variante, bei der nach der Datenübermittlung seitens des Anbieters des sozialen Netzwerks an das Bundeskriminalamt noch ein weiterer Zwischenschritt, nämlich eine nachfolgende Bestandsdatenabfrage des Bundeskriminalamts beim Telekommunikationsanbieter erforderlich ist, unter Umständen fraglich sein, ob auf diese Weise aufgrund des mit dem Zwischenschritt einhergehenden Zeitverlusts überhaupt noch die gewünschte Identifizierung des Erstellers des rechtswidrigen Inhalts in allen Fällen möglich wäre. Zudem ermöglicht die anfangs beschriebene alternative Variante, dass Nutzerdaten nicht ohne behördlich geprüften Anfangsverdacht und eben nicht nur auf der Basis der Prüfung des Vorliegens von konkreten Anhaltspunkten für die nicht gerechtfertigte Erfüllung näher bezeichneter Straftaten durch einen privaten Anbieter eines sozialen Netzwerks an das Bundeskriminalamt ausgeleitet werden.
155So auch Gessinger, K & R 2021, 541 (546).
156Da dem Gesetzgeber bei der Beurteilung der Erforderlichkeit einer gesetzlichen Maßnahme nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedoch ein Einschätzungsspielraum zusteht,
157vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 – 1 BvR 781/21 –, juris, Rn. 204 m.w.N.,
158und auch der Europäische Gerichtshof den Mitgliedstaaten bei der Frage der Erforderlichkeit einer Ausnahme vom Herkunftslandprinzip nach Art. 3 Abs. 4 ECRL einen Wertungsspielraum zubilligt,
159vgl. EuGH, Urteil vom 1. Oktober 2020 – C-649/18 –, juris, Rn. 71 m.w.N.,
160sowie angesichts der genannten Unwägbarkeiten ist der Gesetzgeber aus Sicht der Kammer jedoch nicht eindeutig auf das genannte Alternativmodell zu verweisen, das nicht die notwendige parlamentarische Mehrheit erfahren hat.
161Es mag hier dahinstehen, ob Art. 3 Abs. 4 ECRL, der vorgibt, dass die Maßnahme einen bestimmten Dienst der Informationsgesellschaft betreffen muss, nur für einzelne behördliche Maßnahmen gilt und demnach auf abstrakt-generelle Regelungen keine Anwendung findet.
162So die wohl überwiegende Mehrheit des Schrifttums, beispielsweise Hoven/Gersdorf, in: BeckOK Informations- und Medienrecht, Gersdorf/Paal, 33. Edition, Stand: 1. Mai 2021, § 1 NetzDG, Rn. 9 m.w.N. Ebenso für Ausnahmen vom Herkunftslandprinzip nach § 3 Abs. 5 TMG Nordmeier, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 4. Aufl. 2019, § 3 TMG, Rn. 27 m.w.N.
163Diese Ansicht dürfte nach den Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs in seinen Urteilen vom 1. Oktober 2020 – C-649/18 – und vom 19. Dezember 2019 – C-390/18 – jedenfalls zweifelhaft sein.
164Denn der erstgenannten Entscheidung zur Werbung und zum Online-Verkauf von Arzneimitteln lag eine französische Rechtsvorschrift zugrunde, wonach für Werbung und Verkauf von Arzneimitteln bestimmte Einschränkungen gelten. Der Europäische Gerichtshof hatte die Vereinbarkeit dieser innerstaatlichen Regelungen mit der ECRL zu beurteilen. Er hat dies für sämtliche zur Überprüfung gestellte Rechtsvorschriften (mit Einschränkungen) bejaht, ohne in Frage zu stellen, ob die als Prüfungsmaßstab herangezogene Ausnahmevorschrift des Art. 3 Abs. 4 ECRL überhaupt auf abstrakt-generelle Regelungen Anwendung finden kann.
165Vgl. EuGH, Urteil vom 1. Oktober 2020 – C-649/18 –, juris.
166Auch in der zweitgenannten Entscheidung (Airbnb-Entscheidung) hat der EuGH sich nicht darauf zurückgezogen, die Anwendbarkeit der Ausnahmevorschrift des Art. 3 Abs. 4 ECRL mit Blick auf die dortige abstrakt-generelle Regelung Frankreichs (Loi Hoguet) auch nur in Frage zu stellen. Vielmehr hat er für die Beantwortung der Vorlagefrage darauf abgestellt, dass Frankreich den anderen Mitgliedstaat (Irland) nicht über das entsprechende Gesetz unterrichtet hat.
167Vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019 – C-390/18 – , juris, Rn. 99.
168Ebenfalls keiner Entscheidung bedarf hier, ob die streitgegenständliche Maßnahme in einem angemessenen Verhältnis zum Schutzziel steht (vgl. auch § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 TMG).
169(b) Denn die Antragsgegnerin hat jedenfalls die gemäß Artikel 3 Absatz 4 lit. b und Absatz 5 ECRL erforderlichen Verfahren nicht eingehalten.
170Um den Anforderungen an die Ausnahme vom Herkunftslandprinzip in verfahrensrechtlicher Hinsicht zu genügen, muss der betreffende Mitgliedstaat gemäß Art. 3 Abs. 4 lit. b zweiter Gedankenstrich ECRL vor Ergreifen der betreffenden Maßnahmen – unbeschadet etwaiger Gerichtsverfahren, einschließlich Vorverfahren und Schritten im Rahmen einer strafrechtlichen Ermittlung – die Kommission und den Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet der Erbringer der genannten Dienstleistung ansässig ist, über seine Absicht, die betreffenden restriktiven Maßnahmen zu ergreifen, unterrichtet haben. Nach Art. 3 Abs. 4 lit. b erster Gedankenstrich ECRL muss der Mitgliedstaat zuvor den Sitzmitgliedstaat erfolglos zum Handeln seinerseits aufgefordert haben.
171Dass die Antragsgegnerin diese Verfahrensvorgaben gewahrt hat, ist für die Kammer nicht ersichtlich. Die insoweit übermittelten Mitteilungen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland an die Europäische Kommission betreffen offenkundig nur das Dringlichkeitsverfahren nach Art. 3 Abs. 5 ECRL (dazu gleich). Anhaltspunkte für eine konkrete Aufforderung an Irland oder eine entsprechende Unterrichtung nach diesen Bestimmungen fehlen. Sie werden auch im gerichtlichen Verfahren nicht aufgezeigt. Vielmehr beruft sich die Antragsgegnerin zuletzt (nur noch) auf das Vorliegen einer Dringlichkeit nach Art. 3 Abs. 5 ECRL. Ohnehin obläge der Antragsgegnerin der dezidierte Nachweis, dass sie die erforderlichen Handlungen gegenüber Irland und der Europäischen Kommission in Bezug auf sämtliche Gesetzgebungsvorhaben vorgenommen hat, die zur Einführung der §§ 3a und 3b NetzDG geführt haben.
172Die Tatbestandsvoraussetzungen des Dringlichkeitsverfahrens nach Art. 3 Abs. 5 ECRL sind nicht eingehalten.
173Nach Art. 3 Abs. 5 Satz 1 ECRL können die Mitgliedstaaten in dringlichen Fällen von den in Absatz 4 lit. b ECRL genannten Bedingungen abweichen.
174Eine Dringlichkeit in diesem Sinne ist nur bei einer – unvorhersehbaren, sofortiges Handeln erfordernden –
175vgl. hierzu Nordmeier, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 4. Aufl. 2019, § 3 TMG, Rn. 29 m.w.N.,
176Situation anzunehmen, in der die Einhaltung des nach Art. 3 Abs. 4 lit. b ECRL vorgesehenen Verfahrens nicht möglich ist, ohne den Zweck der Maßnahme zu gefährden. Dies folgt schon daraus, dass Art. 3 Abs. 5 ECRL gerade von der Einhaltung des in Art. 3 Abs. 4 lit. b ECRL vorgesehenen Verfahrens suspendiert, aber zugleich in Art. 3 Abs. 5 Satz 2 ECRL verlangt, dass sowohl die Maßnahme selbst als auch die Gründe für das Absehen des vorgesehenen Aufforderungs- und Unterrichtungsverfahrens so bald wie möglich dem Sitzungsmitgliedstaat und der Kommission mitgeteilt werden.
177Dass eine solche Situation bei der Einführung von § 3a NetzDG vorgelegen hätte, hat die Antragsgegnerin nicht nachgewiesen.
178Vgl. zur Forderung eines ordnungsgemäßen Nachweises: EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019 – C- 390/18 – , juris, Rn. 93.
179Die Kammer verkennt nicht, dass das Ziel der Gesetzesinitiativen der Erfüllung einer gewichtigen Aufgabe dient, nämlich dem Schutz des öffentlichen Meinungsaustauschs vor den schädigenden Auswirkungen von Beiträgen mit strafbaren Inhalten.
180Vgl. BT-Drs. 19/17741, S. 45.
181Allerdings ist die hohe Bedeutung einer Maßnahme nicht generell mit der Dringlichkeit ihrer Umsetzung gleichzusetzen. Zudem ist die Annahme einer Dringlichkeit bei einem – regelmäßig nicht zur sofortigen Bewältigung drängender Probleme tauglichen – alle Verfahrensschritte durchlaufenden Gesetzgebungsverfahren aus Sicht der Kammer wenig plausibel. Dies mag bei behördlichen Einzelmaßnahmen gegenüber Netzwerkanbietern anders sein. Ein solcher Fall steht hier indes nicht zur Beurteilung.
182Der Verstoß gegen die Verfahrensbestimmungen des Art. 3 Abs. 5 und 4 ECRL hat zur Folge, dass § 3a Abs. 1, 2, 3 und 4 NetzDG und die durch diese Normen der Antragstellerin auferlegten Pflichten ihr nicht entgegengehalten werden können,
183vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019 – C-390/18 – , juris, Rn. 96,
184auf sie – die Antragstellerin – mit anderen Worten keine Anwendung finden. Wegen des Zusammenhangs der in § 3a Abs. 5, 6 und 7 NetzDG getroffenen Regelungen mit den Regelungen in § 3a Abs. 1, 2, 3 und 4 NetzDG ist § 3a NetzDG im Ganzen auf die Antragstellerin unanwendbar.
185Nach dem Vorstehenden kommt es weder auf die weiter geltend gemachten datenschutzrechtlichen Bedenken, die geltend gemachte formelle Verfassungswidrigkeit und den Verstoß gegen Grundfreiheiten und Grundrechte der Antragstellerin und ihrer Nutzer an.
186b. Die Regelungen in § 3b Abs. 1 Sätze 1, 3 und 4 und Abs. 2 NetzDG verstoßen entgegen der Auffassung der Antragstellerin aber nicht gegen höherrangiges oder vorrangig anwendbares Recht.
187Denn die gegenüber den Regelungen in Art. 3 ECRL in Bezug auf die Verantwortlichkeit des Diensteanbieters speziellere Regelung des Art. 14 ECRL lautet folgendermaßen:
188Art. 14 ECRL
189Hosting
190(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass im Fall eines Dienstes der Informationsgesellschaft, der in der Speicherung von durch einen Nutzer eingegebenen Informationen besteht, der Diensteanbieter nicht für die im Auftrag eines Nutzers gespeicherten Informationen verantwortlich ist, sofern folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
191a) Der Anbieter hat keine tatsächliche Kenntnis von der rechtswidrigen Tätigkeit oder Information, und, in bezug auf Schadensersatzansprüche, ist er sich auch keiner Tatsachen oder Umstände bewusst, aus denen die rechtswidrige Tätigkeit oder Information offensichtlich wird, oder
192b) der Anbieter wird, sobald er diese Kenntnis oder dieses Bewusstsein erlangt, unverzüglich tätig, um die Information zu entfernen oder den Zugang zu ihr zu sperren.
193(2) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Nutzer dem Diensteanbieter untersteht oder von ihm beaufsichtigt wird.
194(3) Dieser Artikel lässt die Möglichkeit unberührt, dass ein Gericht oder eine Verwaltungsbehörde nach den Rechtssystem der Mitgliedstaaten vom Diensteanbieter verlangt, die Rechtsverletzung abzustellen oder zu verhindern, oder dass die Mitgliedstaaten Verfahren für die Entfernung einer Information oder die Sperrung des Zugangs zu ihr festlegen.
195Soweit Art. 14 Abs. 3 ECRL vorsieht, dass die Mitgliedstaaten Verfahren für die Entfernung einer Information oder die Sperrung des Zugangs zu ihr festlegen dürfen, umfasst dies auch die Befugnis der Mitgliedstaaten zur Einrichtung eines Gegenvorstellungsverfahrens. Denn dieses steht mit der Entfernung oder der Sperrung des Inhalts in einem unmittelbaren Zusammenhang. Da die Einrichtung eines Gegenvorstellungsverfahrens nach der Maßgabe der spezielleren Vorschrift des Art. 14 Abs. 3 ECRL zulässig ist, kommt es auf die Einhaltung der Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 4 ECRL nicht an.
196Die Regelungen in § 3b Abs. 1 Sätze 1, 3 und 4 und Abs. 2 NetzDG verstoßen überdies nicht gegen Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: GrCH).
197Zwar findet Art. 16 GrCH bei der Überprüfung des § 3b NetzDG nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GrCH Anwendung. Denn nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GrCH gilt die Charta für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union.
198Eine Durchführung des Rechts der Union liegt (nur) „in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen“ vor, also wenn ein ausreichend spezifischer Bezug („sufficiently specific link“) zwischen der nationalen Maßnahme und der einschlägigen EU-Norm besteht.
199Vgl. Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 4. Aufl. 2021, Art. 51 Rn. 23.
200Diese Voraussetzungen sind hier wegen des Bezugs zur AVMD-RL und der ECRL erfüllt.
201Nach Art. 16 GrCH wird die unternehmerische Freiheit nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt.
202Art. 16 GrCH setzt ein „Unternehmen“ („business“/ „entreprise“), eine unternehmerische Betätigung, also eine Wirtschafts- oder Geschäftstätigkeit voraus. Darunter fällt, ähnlich wie beim Unternehmensbegriff des Art. 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), jede Einheit, unabhängig von Rechtsform und Finanzierungsart, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, also Güter und Dienstleistungen auf einem Markt anbietet.
203Vgl. Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 4. Aufl. 2021, Art. 16 Rn. 8.
204Hierunter fällt auch der Betrieb von Plattformen für soziale Netzwerke, wie sie die Antragstellerin betreibt.
205Vgl. EuGH, Urteile vom 16. Februar 2012 – C-360/10 –, juris, Rn. 44, und vom 24. November 2011 – C-70/10 –, juris, Rn. 46.
206Der durch Art. 16 GrCH gewährte Schutz umfasst die Freiheit, eine Wirtschafts- oder Geschäftstätigkeit auszuüben, insbesondere den freien Wettbewerb. Geschützt werden daher die Aufnahme und die Beendigung der unternehmerischen Betätigung sowie alle Aspekte ihrer Durchführung. Gleiches gilt für die Art und Weise, wie man sein Unternehmen führt und betreibt, insbesondere für die Verfügung über die wirtschaftlichen, technischen und finanziellen Ressourcen. In den Schutzbereich fällt zudem die Vertragsfreiheit der Unternehmen, etwa die freie Wahl des Vertragspartners und die Gestaltung und Änderung der Vertragsinhalte.
207Vgl. Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 4. Aufl. 2021, Art. 16 Rn. 10.
208Vom Eingriffsbegriff umfasst werden alle Maßnahmen, die hinreichend direkte und bedeutsame Auswirkungen auf die freie Berufsausübung haben.
209Vgl. Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 4. Aufl. 2021, Art. 16 Rn. 13.
210Ein Eingriff kann auch in der Beschränkung des Rechts des Unternehmens gesehen werden, frei über seine wirtschaftlichen, technischen und finanziellen Ressourcen verfügen zu können.
211Gemessen daran liegt ein Eingriff in das von Art. 16 GrCH gewährleistete Recht vor. Denn § 3b Abs. 1 Sätze 1, 3 und 4 und Abs. 2 NetzDG verpflichtet die Diensteanbieter, ein im Einzelnen beschriebenes Gegenvorstellungsverfahren einzurichten und zu unterhalten. Angesichts dieser Verpflichtung ist die Antragstellerin nicht mehr frei in ihrer Entscheidung, wie sie ihre wirtschaftlichen, technischen und finanziellen Ressourcen einsetzt.
212Dieser Eingriff ist jedoch gerechtfertigt.
213Nach Art. 52 Abs. 1 GrCH muss jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
214Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
215Der Eingriff in die unternehmerische Freiheit der Antragstellerin beruht zunächst auf § 3b Abs. 1 Sätze 1, 3 und 4 und Abs. 2 NetzDG und damit einer gesetzlichen Grundlage. Ein Verstoß gegen Unionsrecht liegt – wie festgestellt – nicht vor.
216Die Vorschrift verstößt auch nicht gegen nationales Verfassungsrecht.
217Dem Bund stand für den Erlass von § 3b Abs. 1 und Abs. 2 NetzDG die erforderliche Gesetzgebungskompetenz zu. Die Zuständigkeit des Bundes ergibt sich aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 i.V.m. Art. 72 Abs. 2 GG. Nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG besteht eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Recht der Wirtschaft. Der Begriff „Recht der Wirtschaft“ ist in einem weiten Sinn zu verstehen und umfasst nicht nur Vorschriften, die sich in irgendeiner Form auf die Erzeugung, Herstellung und Verbreitung von Gütern des wirtschaftlichen Bedarfs beziehen, sondern auch alle anderen das wirtschaftliche Leben und die wirtschaftliche Betätigung als solche regelnden Normen. Die Einordnung eines Gesetzes in diesen Zuständigkeitsbereich hängt davon ab, welchen Zweck es aufgrund objektiver Auslegung seiner Normen verfolgt.
218Vgl. BVerwG, Vorlagebeschluss vom 25. Februar 2009 – 6 C 47.07 –, juris, Rn. 17 m.w.N.
219Die Verfolgung weiterer Zwecke steht einer Zuordnung zu wirtschaftlichen Zwecken nicht entgegen, wenn im Hauptzweck wirtschaftliche Zielsetzungen verfolgt werden.
220Vgl. BVerwG, Vorlagebeschluss vom 25. Februar 2009 – 6 C 47.07 –, juris, Rn. 19 m.w.N.
221Gemessen daran verfolgt der Gesetzgeber mit § 3b Abs. 1 und 2 NetzDG hauptsächlich eine wirtschaftliche Zielsetzung. Denn die vorgenannte Regelung regelt besondere Verhaltenspflichten für soziale Netzwerke, die als eigener Wirtschaftszweig spezifische Merkmale aufweisen, auf die der Gesetzgeber regelnd einwirkt. So ist das Geschäftsmodell der Anbieter sozialer Netzwerke u.a. darauf ausgerichtet, den Nutzern eine Plattform zur Meinungsäußerung und zum Meinungsaustausch zu bieten und ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs zu ermöglichen. Aus den Besonderheiten der sozialen Netzwerke, nämlich der möglichen Vernetzung mit einer Vielzahl von Nutzern bzw. der enormen Reichweite von in sozialen Netzwerken eingestellten Informationen resultieren spezifische Verantwortungen der Netzwerkanbieter für das betroffene Kommunikationsgrundrecht der Nutzer. Die Anbieter solcher mit Gewinnerzielungsabsicht betriebener Plattformen im Internet (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 NetzDG) zur Wahrnehmung ihrer spezifischen Verantwortung anzuhalten und diese in konkrete, wirtschaftszweigbezogene Pflichten einzukleiden, ist die wirtschaftsrechtliche Zielsetzung auch der Normierung eines Gegenvorstellungsverfahrens für NetzDG-Beschwerden. Soweit damit die wirtschaftliche Betätigung von Anbietern sozialer Netzwerke – wie die Antragstellerin – geregelt wird, handelt der Bund in seiner von Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG vermittelten Kompetenz.
222Die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG sind ebenfalls gewahrt. Eine bundesgesetzliche Regelung ist zur Wahrung der Rechtseinheit erforderlich, wenn und soweit die mit ihr erzielbare Einheitlichkeit der rechtlichen Rahmenbedingungen Voraussetzung für die Vermeidung einer Rechtszersplitterung mit problematischen Folgen ist, die im Interesse sowohl des Bundes als auch der Länder nicht hingenommen werden kann. Sie ist zur Wahrung der Wirtschaftseinheit erforderlich, wenn und soweit sie Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit des Wirtschaftsraums der Bundesrepublik ist, wenn also unterschiedliche Landesregelungen oder das Untätigbleiben der Länder erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft mit sich brächten. Die Gesichtspunkte der Wahrung der Rechts- und der Wirtschaftseinheit können sich überschneiden, weisen aber unterschiedliche Schwerpunkte auf. Während die Wahrung der Rechtseinheit in erster Linie auf die Vermeidung einer Rechtszersplitterung zielt, geht es bei der Wahrung der Wirtschaftseinheit im Schwerpunkt darum, Schranken und Hindernisse für den wirtschaftlichen Verkehr im Bundesgebiet zu beseitigen. Das Merkmal der Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung zur Erreichung der in Art. 72 Abs. 2 GG genannten Zwecke wird durch den Bezug auf das „gesamtstaatliche Interesse“ in besonderer Weise geprägt. Die Regelung durch Bundesgesetz muss danach nicht unerlässlich für die Rechts- oder Wirtschaftseinheit in dem normierten Bereich sein. Es genügt vielmehr, dass der Bundesgesetzgeber andernfalls nicht unerheblich problematische Entwicklungen in Bezug auf die Rechts- und Wirtschaftseinheit erwarten darf. Im Hinblick auf die allein zulässigen Zwecke einer bundesgesetzlichen Regelung und deren Erforderlichkeit im gesamtstaatlichen Interesse im Sinne von Art. 72 Abs. 2 GG steht dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative zu.
223Vgl. BVerfG, Urteil vom 17. Dezember 2014 – 1 BvL 21/12 –, juris, Rn. 109 ff.
224Gemessen hieran ist die Erforderlichkeit jedenfalls unter dem Gesichtspunkt der Wahrung der Rechtseinheit zu bejahen. Der Bundesgesetzgeber durfte davon ausgehen, dass mangels bundesgesetzlicher Regelung eine Rechtszersplitterung mit problematischen Folgen bei einer Vielzahl landesrechtlicher Regelungen zu den spezifischen Pflichten der Anbieter sozialer Netzwerke droht. Denn ein Anbieter eines sozialen Netzwerks, der – wie die Antragstellerin – sein Angebot bundesweit erbringt, unterläge hinsichtlich der von ihm geforderten Verhaltensweisen im Umgang mit Beschwerden über die Entfernung oder die Sperrung des Zugangs zu einem Inhalt aufgrund einer NetzDG-Beschwerde möglicherweise unterschiedlichen Regelungen. Die Einschätzung des Bundesgesetzgebers, dass durch eine bundeseinheitliche Ausgestaltung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken die Anwendung einheitlicher Maßstäbe unabhängig vom Standort der Anbieter sozialer Netzwerke gewährleistet wird,
225vgl. BT-Drs. 19/18792, S. 20,
226begegnet unter Berücksichtigung seiner Einschätzungsprärogative keinen durchgreifenden Bedenken. Dabei liegt aus Sicht der Kammer auch die Befürchtung nahe, dass – im Falle von unterschiedlichen Landesregelungen oder beim Untätigbleiben der Länder in Bezug auf das Gegenvorstellungsverfahren – ein einheitlicher (Mindest)Standard für den Schutz der Rechte der Nutzer sozialer Netzwerke vor dem sog. „Overblocking“, also dem übermäßigen Blockieren von Inhalten im Netz durch die sozialen Netzwerke, um den geltenden Regeln zweifelsfrei zu entsprechen, nicht erreicht werden kann, was angesichts der Bedeutung der sozialen Netzwerke für die öffentlichen Meinungsbildung und den gesellschaftlichen Diskurs mit problematischen Folgen verbunden ist.
227Darüber hinaus wahren die Regelungen in § 3b Abs. 1 Sätze 1, 3 und 4 und Abs. 2 NetzDG auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
228Die Einrichtung des dort geregelten Gegenvorstellungsverfahrens dient zunächst einem legitimen Zweck. Denn Ziel des Gegenvorstellungsverfahrens ist die Überprüfung der Entscheidung über die Löschung oder die Sperrung von Inhalten. Die Regelung bezweckt, dass einerseits kommunikative Inhalte nicht zu Unrecht gelöscht oder gesperrt werden und wirkt damit einem „Overblocking“ entgegen, andererseits aber auch die Anbieter ihrer aus dem allgemeinen Haftungsrecht folgenden Pflicht nachkommen, rechtswidrige kommunikative Inhalte zu löschen oder zu sperren. Sie ist damit das notwendige Korrektiv und dient der Richtigkeitsgewähr in Bezug auf die Entscheidungen der Netzwerkanbieter über die NetzDG-Beschwerden.
229Die Einrichtung des Gegenvorstellungsverfahrens erscheint zudem geeignet, das Ziel der gesetzlichen Regelung zu fördern.
230Entgegen der Ansicht der Antragstellerin ist die Regelung auch erforderlich.
231Das Gegenvorstellungsverfahren wurde in § 3b Abs. 1 Sätze 1, 3 und 4 und Abs. 2 NetzDG grundrechtsschonend ausgestaltet. So erfolgt die mit der Überprüfung abgesicherte erhöhte Richtigkeitsgewähr in einem der Erstentscheidung der Anbieter nachgelagerten Verfahren nur auf begründeten Antrag hin, sodass es auf Entscheidungen begrenzt ist, in denen der Antragsteller neu einen eigenen Gesichtspunkt oder ergänzende Informationen einführt. Ferner sind die in § 3b Abs. 2 NetzDG vorgesehenen wechselseitigen Benachrichtigungen von Beschwerdeführer und Nutzer auf Abhilfeentscheidungen beschränkt und betreffen nur Nutzer und Beschwerdeführer, die bereits am Gegenvorstellungsverfahren beteiligt gewesen sind. Die Pflicht zur Überprüfung durch eine mit der ursprünglichen Entscheidung nicht befasste Person gewährleistet eine möglichst unvoreingenommene Prüfung. Ein weniger belastendes Verfahren, das in gleichem Maße eine vollständige Grundlage für die Entscheidung sowie eine nicht voreingenommene Entscheidungsperson sichern würde, ist nicht ersichtlich. Die Kammer verkennt nicht, dass die Begründung zum Gesetzesentwurf selbst keine Anhaltspunkte dafür sieht, dass das bisherige NetzDG „Overblocking“ befördert hätte.
232Vgl. BT-Drs. 19/18792, S. 17.
233Allerdings nimmt der Gesetzgeber mit § 3b Abs. 1 NetzDG ausweislich der Gesetzesbegründung die im Zusammenhang mit der NetzDG-Beschwerde nach § 3 Abs. 1 NetzDG vielfach geäußerte Sorge vor dem „Overblocking“ ernst und schafft ein Instrumentarium, um diesem entgegenzuwirken.
234Vgl. BT-Drs. 19/18792, S. 17.
235Schließlich erweist sich § 3b Abs. 1 Sätze 1, 3 und 4 und Abs. 2 NetzDG auch als angemessen.
236Es ist zwar anzunehmen, dass die Einrichtung des normierten Gegenvorstellungsverfahrens zu einem erheblichen Aufwand für die Antragstellerin führen und in einer erheblichen Anzahl einschlägig sein wird. Gleichwohl steht dieser Aufwand in Ansehung des hohen Schutzguts der Meinungsfreiheit nicht außer Verhältnis. Demgegenüber ist der von der Antragstellerin angeführte mögliche Missbrauch des Gegenvorstellungsverfahrens eher als gering einzustufen. So ist aus Sicht der Kammer bereits die Begründungspflicht eine Hürde, die verhindert, dass reflexartig gegen jede Maßnahme der Netzwerkanbieter aufgrund einer NetzDG-Beschwerde ein Gegenvorstellungsverfahren eingeleitet wird. Da auch Kommentare der Nutzer der Meinungsfreiheit unterfallen, ist es trotz ihrer erheblichen Anzahl und mit Blick darauf, dass es auch nicht bei jeder Entfernung bzw. Sperrung zu einem Antrag kommen wird, geboten, diese ebenfalls in das Gegenvorstellungsverfahren einzubeziehen. Soweit die Antragstellerin auf bereits bei ihr implementierte freiwillige Verfahren der Beschwerdemöglichkeit verweist, greift dies nicht durch. Denn zum einen fehlt es freiwilligen Lösungen an der den betroffenen Grundrechte der Nutzer angemessenen Verbindlichkeit, und zum anderen muss bei der Umsetzung der in § 3b Abs. 1 NetzDG statuierten Pflicht zum Vorhalten eines Gegenvorstellungsverfahrens die Beschwerdemöglichkeit betroffener Nutzer nicht erstmalig geschaffen, sondern kann mit Blick das bestehende System an die neuen Verfahrensvorgaben angepasst werden.
237Die obenstehenden Ausführungen gelten für die von der Antragstellerin geltend gemachte Verletzung in ihrer Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG entsprechend.
238Schließlich verstößt § 3b Abs. 1 NetzDG auch nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG mit Blick darauf, dass das NetzDG in § 3e Abs. 3 Satz 1 für Anbieter von Videosharingplattform-Diensten mit Sitz in einem anderen EU-Mitgliedstaat im Hinblick auf die dort bezeichneten Inhalte vorsieht, dass § 3b NetzDG „nur auf der Grundlage und im Umfang einer Anordnung“ des Bundesamtes für Justiz gilt. Auf diese Ungleichbehandlung kann sich die Antragstellerin nicht mit Erfolg berufen. Denn es fehlt an der wesentlichen Gleichheit der Sachverhalte. Der maßgebliche Unterschied liegt in dem Umstand, dass auf die Anbieter von Videosharingplattform-Diensten zusätzlich das europäische Sekundärrecht in Gestalt der Richtlinie 2010/13/EU zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedschaften über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste) – AVMD-RL –, geändert durch die Richtlinie (EU) 2018/1808, Anwendung findet. Das in § 3b Abs. 1 NetzDG vorgesehene Gegenvorstellungsverfahren wird in seinen Grundzügen von Art. 28b Abs. 3 UAbs. 3 lit. i AVMD-RL ebenfalls geregelt und unterfällt insoweit dem harmonisierten Bereich. Der Gesetzgeber durfte daher davon ausgehen, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union für alle ihrer Rechtshoheit unterworfenen Videosharingplattform-Anbieter in Erfüllung ihrer Verpflichtung aus Art. 28b Abs. 3 UAbs. 2 Satz 1 AVMD-RL das Vorhalten eines Gegenvorstellungsverfahrens vorschreiben, und damit ein gewisses Schutzniveau im Sinne eines europaweiten Mindeststandards gewährleistet ist. Soweit dies im Einzelfall nicht zutrifft, greift die Anordnungsbefugnis des Bundesamtes für Justiz nach § 3e Abs. 3 NetzDG unter den dort genannten Voraussetzungen. Mit Blick darauf, dass für die Diensteanbieter wie die Antragstellerin das für sie geltende europäische Regelwerk mit der ECRL eine vergleichbare Mindestharmonisierung in Bezug auf die einzelnen Verpflichtungen des NetzDG nicht enthält, fehlt es an einer Vergleichbarkeit von Videosharingplattform-Diensten und der Antragstellerin im hier interessierenden Kontext.
2392. Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Dieser ergibt sich aus dem Umstand, dass die Antragstellerin durch die streitgegenständlichen Regelungen des NetzDG als Betreiberin der sozialen Netzwerke G. und J. 1. seit dem 1. Februar 2022 der Meldepflicht nach § 3a NetzDG unterliegen würde und 2. seit dem 1. Oktober 2021 ein Gegenvorstellungsverfahren nach § 3b Abs. 1 Sätze 1, 3 und 4 und Abs. 2 NetzDG vorhalten müsste. Der Verweis der Antragstellerin auf den rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens würde die zu sichernden Rechte der Antragstellerin und auch der betroffenen Nutzer daher jedenfalls teilweise irreversibel vereiteln.
240Vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 22. Juni 2017 – 13 B 238/17 –, juris, Rn. 132.
241Der Inhalt der getroffenen einstweiligen Anordnung beruht auf § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO. Hiernach bestimmt das Gericht nach freiem Ermessen, welche Anordnungen zur Erreichung des Zweckes der einstweiligen Anordnung erforderlich sind. Unter den vorliegenden Umständen ist es zur Sicherung der Rechte der Antragstellerin geboten, aber auch hinreichend, vorläufig bis zum rechtskräftigen Abschluss des zugehörigen Hauptsacheverfahrens des Verwaltungsgerichts festzustellen, dass die Antragstellerin den Verpflichtungen aus § 3a NetzDG nicht unterliegt. Durch diese vorläufige Feststellung ist das streitige Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten für die Zeit bis zum rechtskräftigen Abschluss des verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheverfahrens geklärt. Eine über den rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens hinausgehende Erstreckung der vorläufigen Feststellung trifft das Gericht nach seinem freien Ermessen nicht. Dabei berücksichtigt das Gericht insbesondere, dass es der Antragstellerin, sollte sie nach Abschluss der Rechtsstreitigkeiten den streitgegenständlichen Verpflichtungen unterliegen, selbst in Ansehung etwaiger Maßnahmen der Antragsgegnerin zur Durchsetzung der NetzDG-Verpflichtungen im Rahmen der dortigen Verfahren möglich wäre, sich auf einen benötigten Umsetzungszeitraum zu berufen und die Ergreifung sämtlicher ihr zumutbaren Umsetzungsanstrengungen bei Bedarf nachzuweisen. Aus diesem Grund war auch dem Hilfsantrag zu 3.b) nicht zu entsprechen.
242Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Dabei berücksichtigt das Gericht, dass die Antragstellerin nicht nur hinsichtlich der Verpflichtung aus § 3b Abs. 1 und 2 NetzDG, sondern insbesondere hinsichtlich der Verpflichtung aus § 3b Abs. 3 NetzDG unterlegen ist, die – jedenfalls hinsichtlich des geltend gemachten Umsetzungsaufwandes – besonders ins Gewicht fällt.
243Die Streitwertfestsetzung, zu der die Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme hatten, beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes. Dabei hat das Gericht im Ausgangpunkt das wirtschaftliche Interesse der Antragstellerin an der Nichtbefolgung der Verpflichtungen aus § 3a und § 3b NetzDG zugrunde gelegt. Das wirtschaftliche Interesse liegt aus Sicht die Kammer am ehesten in der Vermeidung des Umsetzungsaufwandes. Hierzu hat die Antragstellerin nachvollziehbar dargelegt, welcher finanzielle Aufwand sowohl für die erstmalige Implementierung der Pflichten als auch in Form laufender Kosten schätzungsweise mit dem neuen NetzDG für sie verbunden wäre. Die Kammer ist sich auch unter Berücksichtigung der hiergegen von der Antragsgegnerin vorgebrachten Einwände darüber im Klaren, dass die Kalkulation der Antragstellerin eine auf zahlreichen ungewissen Faktoren beruhende Schätzung darstellt. Allerdings beruht die Schätzung auf nachvollziehbar erläuterten Grundannahmen, denen das Gericht eine durchgängig zu negative Erwartungshaltung der Antragstellerin nicht entnehmen kann. In Ermangelung anderer Anhaltspunkte beträgt der Streitwert hier daher die Hälfte des in der Hauptsache anzusetzenden Wertes von 12.403.000 Euro, nämlich 6.201.500 Euro festzusetzen.
244Rechtsmittelbelehrung
245Gegen Ziffer 1 dieses Beschlusses kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.
246Die Beschwerdefrist wird auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, eingeht.
247Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht schriftlich einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinander setzen.
248Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.
249Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen; dies gilt auch für die Einlegung der Beschwerde und für die Begründung. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
250Gegen Ziffer 2 dieses Beschlusses kann innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde eingelegt werden. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
251Die Beschwerde ist schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen.
252Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.
253Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
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