Urteil vom Verwaltungsgericht Magdeburg (8. Kammer) - 8 A 22/12

Gründe

I.

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Der 1967 in A. geborene Polizeimeister besuchte die Polytechnische Oberschule R. und absolvierte anschließend bis 1987 eine Ausbildung zum Instandhaltungsmechaniker, welche er mit dem Facharbeiterabschluss abschloss. Von 1987 bis 1991 war er als Schlosser im … tätig. Anschließend fand eine Umschulung zum Metallbauer statt. Am 01.09.1992 trat der Beamte in den Vorbereitungsdienst der Schutzpolizei ein und wurde zum Polizeihauptwachtmeister-Anwärter ernannt. Zum 01.09.1996 erfolgte die Ernennung zum Polizeimeister unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit. Zuletzt war er seit dem 15.11.1999 in dem Polizeirevier A. als Sachbearbeiter Streifen- und Ermittlungsdienst eingesetzt. Die letzte dienstliche Beurteilung des Beamten schloss mit 265 Punkten im oberen Bereich der Bewertungsskala für „befriedigend“, die von 200 bis 265 Punkten reicht.

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Der Beamte ist verheiratet und hat drei Kinder, welche im Zeitpunkt der Anschuldigungsschrift 18, 14 und 9 Jahre alt waren. Der Beamte lebte zur Zeit der Anschuldigungsschrift von seiner Ehefrau getrennt; mittlerweile ist er geschieden. Seine monatlichen Nettodienstbezüge belaufen sich unter Berücksichtigung des Einbehaltungssatzes von 10 % auf 2.015 Euro.

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Mit Verfügung vom 25.08.2005 wurde dem Beamten die Führung der Dienstgeschäfte entsprechend § 60 Abs. 1 Beamtengesetz Sachsen-Ahnalt (BG LSA) untersagt. Die vorläufige Dienstenthebung nach § 78 Disziplinarordnung Sachsen-Anhalt (DO LSA) erfolgte unter dem 10.10.2005. Gem. § 79 Abs. 1 DO LSA i. V. m. § 81 Abs. 4 Disziplinargesetz Sachsen-Anhalt (DG LSA) wurden mit Verfügung vom 22.07.2008 die Dienstbezüge des Beamten um 10 % gekürzt.

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Der Beamte ist bis zu dem Vorfall, der zur Disziplinarklage führte, weder disziplinarrechtlich noch strafrechtlich vorbelastet.

II.

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Mit der Anschuldigungsschrift vom 05.01.2009 wird der Beamte angeschuldigt, dadurch ein Dienstvergehen nach § 77 Abs. 1 BG LSA begangen zu haben, weil er

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am 19.05.2005, gegen 21.00 Uhr in A. eine andere Person mit Gewaltgenötigt hat, sexuelle Handlungen an sich zu dulden

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und somit ein Verbrechen, strafbar nach § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB begangen hat.

8

Aufgrund der Berufung des Beamten gegen das Urteil des Amtsgerichts A. ist er mit rechtskräftigem Urteil des Landgerichts Dessau vom 21.08.2006 zu einer Freiheitsstrafe von 11 Monaten wegen sexueller Nötigung in einem minder schweren Fall verurteilt worden. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.

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Das Strafurteil führt zum Tatvorwurf aus:

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„Am 19.05.2005 hatten der Angeklagte und sein Kollege als Beamte des Polizeireviers A. zwei Einsätze in der Straße V. in A., nachdem die dort wohnende Nebenklägerin telefonisch zweimal Anzeige wegen ruhestörenden Lärms erstattet hatte. Spätestens beim zweiten Einsatz, in dessen Verlauf der Angeklagte - im Streifenwagen - die ihm sympathisch erscheinende Nebenklägerin auf deren (versehentlich) offenen „Hosenstall“ hinwies, entschloss sich der Angeklagte zu dem Versuch, eine - auch sexuelle - Beziehung zu der Nebenklägerin aufzubauen. Er hoffte auf eine erste entsprechende Gelegenheit hierzu, als er zwischen 20.43 Uhr und 21.18 Uhr die Wohnung der Nebenklägerin - diesmal allein - aufsuchte, um sich von ihr die auf dem Revier zwischenzeitlich geschriebene Anzeige durch Unterschrift bestätigen zu lassen. Das Angebot seines Kollegen, ihn auch auf dieser Fahrt zur Wohnung der Nebenklägerin zu begleiten, hatte der Angeklagte zuvor abgelehnt.

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Nachdem die Nebenklägerin den Angeklagten in ihre Wohnung hereingelassen und ihm einen Kaffee angeboten hatte, kam es in der Küche dazu, dass der Angeklagte die ihm gegenüberstehende Nebenklägerin plötzlich und unvermittelt an den Armen ergriff, sie zu sich herzog und ihr einen Kuss auf den Mund gab, den - als solchen - die völlig überraschte Nebenklägerin nicht verhindern konnte. Den vom Angeklagten unternommenen Versuch, auch seine Zunge in den Mund der Nebenklägerin einzuführen, konnte diese jedoch erfolgreich abwehren, indem sie sich losriss und sich ins Wohnzimmer begab, wo ihre damals 7 Jahre alte Tochter ... noch spielte.

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Von hier aus stellte die Nebenklägerin fest, dass der Angeklagte nunmehr das Kinderzimmer betrat, und folgte ihm, weil sie darüber empört war. Sie fragte den Angeklagten, was er hier zu suchen habe, woraufhin der Angeklagte - wortlos - die Nebenklägerin erneut ergriff, sie dergestalt an sich zog, dass sie mit dem Rücken vor seinem Bauch zu stehen kam und der Angeklagte nach Loslassen beider Arme die Nebenklägerin dieser von hinten mit beiden Händen unter dem T-Shirt die Brüste über dem BH berührte, was der Nebenklägerin Schmerzen bereitete. Als sie nach der Tochter rief, die jedoch nicht reagierte, fasste der Angeklagte noch kräftiger zu. Erst als er erneut - vergeblich - versuchte, die Nebenklägerin zu küssen, gelang es dieser, den Angeklagten wegzustoßen und das Kinderzimmer zu verlassen.

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Ihrer Aufforderung, nunmehr sofort ihre Wohnung zu verlassen, folgte der Angeklagte, wobei er sich noch für den ihm angebotenen Kaffee bedankte.“

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Mit Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 01.04.2008 wurde die Revision gegen das Urteil des Landgerichts Dessau vom 21.08.2006 als unbegründet verworfen.

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Das Disziplinargericht hat mit Beschluss vom 14.09.2009 das gerichtliche Disziplinarverfahren ausgesetzt. Denn gegen den in dem Verfahren gegen den Beamten mitwirkenden Vorsitzenden Richter am Landgericht wurde als Mitglied der 3. kleinen Strafkammer Anklage wegen Urkundenfälschung und Rechtsbeugung erhoben. Mit Beschluss vom 17.10.2012 hat die Kammer das Verfahren wieder aufgenommen. Der Richter ist durch Urteil vom 10.10.2012 freigesprochen worden. Das Urteil ist nicht rechtskräftig.

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Die Einleitungsbehörde führt aus, dass die tatsächlichen Feststellungen des rechtskräftigen Urteils nach § 17 Abs. 1 Satz 1 DO LSA für das Disziplinarverfahren bindend seien. Der Beamte habe zudem eingeräumt, Anrufe und SMS-Nachrichten gegenüber der Geschädigten getätigt zu haben. Allerdings habe er nicht bemerkt, dass sich die Geschädigte dadurch belästigt gefühlt habe. Der Beamte verteidigte sich damit, dass sich die Geschädigte und er am 19.05.2005 gegenseitig umarmt und geküsst hätten, er dann das Haus verlassen habe. Der Beamte ließ sich weiter dahingehend ein, der Geschädigten am Samstag und Sonntag noch einmal eine SMS oder zwei geschickt zu haben, dass sie sich mal bei ihm melden solle. Er betonte, dass „das Ganze von Beiden ausging“.

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Danach habe der Beamte schuldhaft ein Dienstvergehen im Sinne des § 77 Abs. 1 BG LSA begangen. Er habe die ihm in § 54 Satz 1 BG LSA normierte Pflicht, sich mit voller Hingabe seinem Beruf zu widmen sowie seine Pflicht zum achtungs- und vertrauenswürdigem Verhalten innerhalb des Dienstes nach § 54 Satz 3 BG LSA schuldhaft verletzt.

III.

18

Bei Gesamtwürdigung der tatsächlichen Feststellungen, der Bewertung des Aktenmaterials sowie der Einlassung des Beamten und der durchgeführten Hauptverhandlung kommt die Disziplinarkammer zu der Überzeugung, dass der Beamte vorsätzlich und schuldhaft gegen seine beamtenrechtlichen Pflichten aus 54 BG LSA; § 34 Beamtenstatusgesetz (BeamtStG) verstoßen hat. Danach hat er sich mit voller Hingabe seinem Beruf zu widmen und sein Verhalten muss innerhalb und außerhalb des Dienstes der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden, die sein Beruf erfordert. Der Beamte hat ein solch schweres innerdienstliches Dienstvergehen (§ 77 Abs. 1 Satz 1 BG LSA; § 47 Abs. 1 Satz 1 BeamtStG) begangen, dass seine Weiterbeschäftigung für den Dienstherrn, aber auch für die Öffentlichkeit untragbar geworden ist. Das Vertrauensverhältnis zwischen Dienstherrn und Beamten ist unwiderruflich zerstört. Zudem ist das Verhalten des Beamten geeignet, einen erheblichen Ansehensverlust in der Öffentlichkeit herbeizuführen. Demnach kommt nur die Entfernung aus dem Dienst in Betracht (§ 5 Abs. 1 Nr. 5, § 11 DO LSA; § 5 Abs. 1 Nr. 5; § 10 DG LSA).

IV.

19

Das Disziplinarverfahren ist nach bisherigem Recht, d. h. nach der DO LSA fortzuführen (§ 81 Abs. 4 und 6 DG LSA). Denn die Einleitungsverfügung für das förmliche Disziplinarverfahren ist vor dem Inkrafttreten des Disziplinargesetzes Sachsen-Anhalt (DG LSA) ergangen.

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1.) Nach § 17 Abs. 1 Satz 1 DO LSA ist die Disziplinarkammer an die tatsächlichen Feststellungen in dem rechtskräftigen Urteil des Landgerichts Dessau vom 21.08.2006 gebunden. Die Bindung der Disziplinargerichte an tatsächlichen Feststellungen in Urteilen, die in einem sachgleichen Strafverfahren ergangen sind, ist eine die Nutzung besserer Ermittlungsmöglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden sichernde und zugleich das Auseinanderfallen von Entscheidungen verschiedener Gerichtsbarkeiten in ein und derselben Sache zu hindern, bestimmte Ausnahme von der grundsätzlichen Freiheit der Gerichte bei der Feststellung des von ihnen unter bestimmten rechtlichen Gesichtspunkten zu beurteilenden Sachverhalts (BVerwG, U. v. 08.04.1986, 1 D 145.85; juris).

21

Eine Lösung von den tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils ist nur ausnahmsweise, unter eng begrenzten Voraussetzungen möglich. Die Disziplinargerichte dürfen die eigene Entscheidungsfreiheit nicht an die Stelle der Entscheidung des Strafgerichtes setzen. Strafgerichtliche Feststellungen, die auf einer nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungswerte verstoßenden Beweiswürdigung beruhen, sind daher auch dann für die Disziplinargerichte bindend, wenn diese aufgrund eigener Würdigung abweichende Feststellungen für möglich halten. Nur erhebliche Zweifel können daher zu einer nochmaligen Prüfung veranlassen (vgl. BVerwG, U. v. 05.09.1990, 1 D 78.89; v. 07.10.1986, 1 D 46.86; OVG NRW, U. v. 29.10.1991, 1 V 10/89; VGH Baden-Württemberg, U. v. 18.06.2001, D 17 S 2/01; VG Regensburg, U. v. 09.12.2009, RO 10A DK 09.1074; VG Meiningen, U. v. 19.04.2010, 6 D 60014/09 Me; alle juris).

22

Unter Zugrundelegung dieser Rechtsprechung hat die Disziplinarkammer keine Zweifel an der Richtigkeit der strafrichterlichen Feststellungen zum Tathergang. Allein das Bestreiten des Beamten und der aus seiner Sicht andere Tathergang reichen nicht aus um einen Lösungsbeschluss nach § 17 Abs. 1 Satz 2 DO LSA herbeizuführen. Es ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die strafgerichtlichen Feststellung auf einer gegen Denkgesetze und Erfahrungswerte verstoßenden Beweiswürdigung beruhen, zumal der Beamte die ihm zur Last gelegten objektiven Verhaltensweisen im Kern einräumt, jedoch andere rechtliche Schlüsse daraus zieht, nämlich der einvernehmlichen sexuellen Betätigung. Auch die schriftsätzlich angebotene Zeugin F., die aussagen soll, dass die Geschädigte Küster einen „leichten Lebenswandel“ geführt habe und sie dafür bekannt sei, dass sie eine emotionale Betroffenheit spielen könne, reicht dazu nicht aus. Letzteres hat das Landgericht Dessau im Urteil innerhalb der Beweiswürdigung hinsichtlich der Geschädigten verneint. Auch allein ein „leichter Lebenswandel“ spricht weder zwingend gegen die Feststellung des Landgerichts Dessau noch lässt er die Taten rechtfertigen.

23

Schließlich rechtfertigt das gegen den im Strafverfahren des Beamten mitwirkenden Vorsitzenden Richters, geführte Strafverfahren nicht die Lösung von den tatsächlichen Feststellungen. Auf die Ausführungen des Disziplinargerichts in dem Beschluss vom 17.10.2012 zur Wiederaufnahme des Verfahrens wird verwiesen.

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2.) Die vom Beamten begangene Straftat der sexuellen Nötigung ist als innerdienstliche Pflichtenverletzung anzusehen. Nach der gebotenen materiellen Betrachtung richtet sich die Bewertung eines Verhaltens als inner- oder außerdienstlich danach, ob es dem dienstlichen Aufgabenbereich des Beamten oder dem Bereich privater Lebensgestaltung zuzuordnen ist. Außerdienstlich ist ein Verhalten, das sich als dasjenige einer Privatperson darstellt (BVerwG, Beschluss v. 20.11.2012, 2 B 56.12; Urteil v. 20.02.2001, 1 D 55.99; VG Regensburg, Urteil v. 15.10.2009, RN 10A DK 09.00797; alle juris). Der Beamte hat die Straftat während seiner Dienstzeit in Uniform und unter dem Vorwand einer dienstlichen Handlung begangen. Damit ist der kausale und funktionale Zusammenhang mit dem Dienst begründet.

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3.) Welche Disziplinarmaßnahme im Einzelfall angemessen ist, richtet sich nach der Schwere des Dienstvergehens, dem Persönlichkeitsbild des Beamten sowie dem Umfang der durch das Dienstvergehen herbeigeführten Vertrauensbeeinträchtigung. Die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis ist dann auszusprechen, wenn der Beamte durch ein schweres Dienstvergehen das Vertrauen des Dienstherrn oder der Allgemeinheit endgültig verloren hat (vgl. § 13 DG LSA). Dabei weist das Disziplinargericht darauf hin, dass, obwohl die DO LSA anders als das DG LSA diese Grundsätze nicht ausdrücklich normierte, diese Bemessungsregelungen stets Ausgangspunkt der disziplinarrechtlichen Rechtsprechung war und ist. Denn im Bundesdisziplinargesetz war diese prognostische Gesamtbewertung stets in § 13 geregelt (vgl. nur: BVerwG, Urteil v. 20.10.2005, 2 C 12.04).

26

a.) Die Schwere des Dienstvergehens beurteilt sich nach objektiven Handlungsmerkmalen wie Eigenart und Bedeutung der Dienstpflichtverletzung, den besonderen Umständen der Tatbegehung sowie Häufigkeit und Dauer eines wiederholten Fehlverhaltens, nach subjektiven Handlungsmerkmalen wie Form und Gewicht des Verschuldens des Beamten, den Beweggründen für sein Verhalten sowie nach den unmittelbaren Folgen für den dienstlichen Bereich und für Dritte. Davon ausgehend kommt es darauf an, ob Erkenntnisse zum Persönlichkeitsbild und zum Umfang der Vertrauensbeeinträchtigung im Einzelfall derart ins Gewicht fallen, dass eine andere als die durch die Schwere des Dienstvergehens indizierte Maßnahme geboten ist. Eine vollständige und richtige Gesamtwürdigung setzt voraus, dass die Disziplinarkammer die im Einzelfall bemessungsrelevanten, d. h. die für die Schwere des Dienstvergehens und das Persönlichkeitsbild bedeutsamen Tatsachen ermittelt und mit dem ihnen zukommenden Gewicht in die Gesamtbewertung einbezieht. Dies entspricht dem Zweck der Disziplinarbefugnis des Disziplinargerichts als einem Mittel der Funktionssicherheit des öffentlichen Dienstes. Dabei findet der Grundsatz „in dubio pro reo“ Anwendung. Die Disziplinargerichte dürfen nur solche belastenden Tatsachen in die Gesamtwürdigung einstellen, die zur Überzeugung des Gerichts feststehen. Demgegenüber müssen entlastende (mildernde) Umstände schon dann zu Gunsten des Beamten berücksichtigt werden, wenn hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für ihr Vorliegen gegeben sind und eine weitere Sachverhaltsaufklärung nicht möglich ist (vgl. nur: VG Magdeburg, Urteil v. 27.10.2011, 8 A 2/11 mit Verweis auf BVerwG, U. v. 27.01.2011, 2 A 5.09; jüngst BVerwG, Urteil v. 29.03.2012, 2 A 11/10, OVG Lüneburg, Urteil v. 14.11.2012, 19 LD 4/11; zuletzt ausführlich; VG Magdeburg, Urteil v. 29.11.2012, 8 A 12/11; alle juris).

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Ein endgültiger Verlust des Vertrauens des Dienstherrn oder der Allgemeinheit (vgl. § 13 Abs. 2 Satz 1 DG LSA) ist anzunehmen, wenn aufgrund der prognostischen Gesamtwürdigung auf der Grundlage aller im Einzelfall bedeutsamen be- und entlastenden Gesichtspunkte der Schluss gezogen werden muss, der Beamte werde auch künftig in erheblicher Weise gegen seine Dienstpflichten verstoßen oder die durch sein Fehlverhalten herbeigeführte Schädigung des Ansehens des Berufsbeamtentums sei bei einer Fortsetzung des Beamtenverhältnisses nicht wieder gutzumachen. Unter diesen Voraussetzungen muss das Beamtenverhältnis im Interesse der Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes und der Integrität des Berufsbeamtentums beendet werden (BVerwG, Urteil v. 29.03.2012, 2 A 11.10 mit Verweis auf Urteile v. 20.10.2005, 2 C 12.04, v. 03.05.2007, 2 C 9.06 und v. 29.05.2008, 2 C 59.07; alle juris).

28

Die Feststellung dieser für das berufliche Schicksal des Beamten und die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes in gleicher Weise bedeutsamen Voraussetzungen hat der Gesetzgeber in die Hand der Disziplinargerichte gelegt. Sie haben auf der Grundlage ihrer im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung aus einem umfassend aufgeklärten Sachverhalt zu bildenden Überzeugung eine Prognose über die weitere Vertrauenswürdigkeit des Beamten abzugeben. Fällt diese negativ aus, ist der Beamte aus dem Dienst zu entfernen, denn anders als bei den übrigen Disziplinarmaßnahmen besteht insoweit kein Ermessen.

29

b.) Für das danach zu findende Disziplinarmaß können die vom Disziplinarsenat des Bundesverwaltungsgerichts für bestimmte Fallgruppen herausgearbeiteten Regeleinstufungen von Bedeutung sein (BVerwG, Urteil v. 29.03.2012, 2 A 11/10 mit Verweis auf Urteile v. 20.10.2005, 2 C 12.04 und v. 03.05.2007, 2 C 9.06, alle juris).

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a. a.) Im Bezug auf strafbares außerdienstliches Verhalten betont das Bundesverwaltungsgericht die Bedeutung der gesetzlichen Strafandrohung für die Maßnahmebemessung (BVerwG, U. v. 19.08.2010, 2 C 5.10 und 2 C 13.10, B. v. 21.12.2010, 2 B 29.10; juris). Die Anknüpfung an den Strafrahmen gewährleistet eine nachvollziehbare und gleichmäßige disziplinarrechtliche Ahndung von Dienstvergehen. Dabei hat das Bundesverwaltungsgericht bei einem Strafrahmen von bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe bei Fehlen jeglichen Dienstbezuges allenfalls eine Disziplinarmaßnahme im unteren Bereich für angemessen erachtet und bei einem Strafrahmen von bis zu zwei Jahren die Zurückstufung als Orientierungsrahmen angesehen. Kommt ein Dienstbezug hinzu, so kann der Orientierungsrahmen bei einem Strafrahmen bis zu einem Jahr ebenfalls die Zurückstufung, bei einem Strafrahmen bis zu zwei Jahren, sogar die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis sein.

31

Vorliegend beträgt der Strafrahmen nach § 177 Abs. 5 StGB auch in einem minder schweren Fall bis zu fünf Jahre, was sogar bei einem außerdienstlichen Fehlverhalten die Entfernung rechtfertigen würde.

32

b. b.) Hinsichtlich der disziplinarrechtlichen Bewertung des dem Beamten zur Last gelegten Strafdelikts der sexuellen Nötigung (§ 177 StGB) hat die disziplinarrechtlichen Rechtsprechung keine Regeleinstufung als sog. „Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen“ entwickelt. Die Variationsbreite, in der solche Dienstvergehen denkbar sind, ist zu groß, als dass sie einheitlichen Regeln unterliegen und in ihren Auswirkungen auf das Vertrauen gleichermaßen eingestuft werden können. Stets sind die besonderen Umstände des Einzelfalls maßgebend (VG Münster, Urteil v. 03.11.2010, 13 K 871/10.O; juris).

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a. a. a.) In einer Entscheidung des Wehrdienstsenates des Bundesverwaltungsgerichts vom 27.07.2010 (2 WD 5.09; juris) wird ausgeführt, dass es der Rechtsprechung des Senates entspreche, dass beim sexuellen Missbrauch eines Kindes oder der sexuellen Nötigung eines Jugendlichen ein Soldat für die Bundeswehr im Grundsatz untragbar geworden ist (Verweis auf die Urteile vom 18.07.2001, 2 WD 51.00 und vom 29.01.1991, 2 WD 18.90; juris). Nur in minderschweren Fällen oder bei Vorliegen besonderer Milderungsgründe könne der Soldat im Dienstverhältnis verbleiben. Diese Gleichstellung der Deliktschwere des sexuellen Missbrauchs eines Kindes mit der sexuellen Nötigung eines Jugendlichen hält das Gericht jedoch mit dem vorliegenden Fall der sexuellen Nötigung eines Erwachsenen für nicht vergleichbar. Denn die Gleichstellung und der damit verbundene Grad der Vertrauensbeeinträchtigung wird mit dem Einfluss auf die sittliche Entwicklung eines jungen Menschen zur harmonischen Entwicklung zur Gesamtpersönlichkeit begründet. Diese schutzwürdige Sichtweise ist vorliegend bei einem Erwachsenen nicht gegeben. Dementsprechend hat der Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts in einem anderen Fall (Urteil vom 01.03.2007, 2 WD 4.06; juris) bei der zur Last gelegten (bloßen) sexuellen Belästigung (also kein Straftatbestand der sexuellen Nötigung) durch einen vorgesetzten Soldaten auch wegen der Einstellung der strafrechtlichen Ermittlungen wegen sexueller Nötigung die Disziplinarmaßnahme der Kürzung der Dienstbezüge als geboten angesehen.

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b. b. b.) Dem Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 09.12.2009 (RO 10 A DK 09.1074; juris) ist die Disziplinarmaßnahme der Zurückstufung zu entnehmen. Dort wurden dem Polizeibeamten mehrere sexuelle Pflichtverletzungen zur Last gelegt (Weitergabe von Informationen aus dem Polizeicomputer; Versendung einer Nacktaufnahme, die ihn nackt auf einem Ecksofa sitzend mit erigiertem Penis zeigt; Körperverletzung und sexuelle Nötigung einer Frau gegenüber). Der Beamte wurde zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Dort setzt sich das Gericht mit der im Einzelfall notwendigen Bewertung der zur sexuellen Nötigung geführten Tatumstände auseinander, wie Intensität und Dauer der Handlung und hier die Besonderheit, dass die Geschädigte trotz Übersendung der Nacktbilder den Beamten später traf. Darüber hinaus stellte dies ein außerdienstliches Verhalten dar.

35

c. c. c.) Der Verwaltungsgerichtshof Baden Württemberg (U. v. 18.06.2001, D 17 S 2/01; juris) sprach einem im Ruhestand befindlichen Lehrer das Ruhegehalt ab, weil er sich zu Zeiten seines aktiven Dienstes der sexuellen Nötigung seiner minderjährigen Tochter strafbar gemacht hat. Auch dort wurde der Beamte zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Der VGH geht hier von der disziplinarrechtlichen Höchstmaßnahme aus. Denn auch die Entfernung aus dem Dienst sei gerechtfertigt gewesen. Das Gericht führt aus, dass die Disziplinargerichte bei der Frage nach der angemessenen disziplinarrechtlichen Reaktion auf das Dienstvergehen nicht an die strafrechtlichen Zumessungserwägungen gebunden seien bzw. sich auch nicht daran zu orientieren hätten.

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d. d. d.) Das Verwaltungsgericht Karlsruhe führt in einem Urteil vom 07.12.2009 (DL 13 K 598/09; juris) im Fall einer vorläufigen Dienstenthebung (nach der dortigen Gesetzeslage als Klage ausgestaltet) aus, dass voraussichtlich eine Entfernung angebracht sei, weil der verbeamtete Lehrer Fotos von Schülern fertigte und ins Internet stellte. Zudem sprach er Schülerinnen direkt an um Fotoaufnahmen und Videoclips zu drehen. Infolgedessen kam es auch zu beleidigenden sexuellen Übergriffen. Auch dort ist entscheidend, dass es sich um einen Pädagogen handelte, der auf den Entwicklungs- und Reifeprozess seiner Schüler Einfluss nahm und daher auch nicht mit dem hier uns zu behandelnden Fall eines Erwachsenen zu vergleichen ist.

37

e. e. e.) Von der Höchstmaßnahme geht auch das Verwaltungsgericht Berlin in einer jüngeren Entscheidung vom 28.08.2012 (80 K 2.12 OL; juris) aus. Dort handelte es sich um einen Polizeibeamten, der mehrere Pflichtverletzungen begangen hat (unberechtigte Polizeiabfragen; Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung).

38

c.) Für die hier im Einzelfall vorzunehmende disziplinarrechtliche Bewertung ist für das erkennende Gericht bedeutsam, dass der Beamte die Straftat unter Ausnutzung seiner dienstlichen Tätigkeit und der in der Person eines Polizeibeamten begründeten Vertrauensstellung beging. Unter dem Vorwand einer Diensthandlung verschaffte er sich so den Zutritt zur Wohnung der Geschädigten und zwang sie in ihrer Wohnung und damit innerhalb des von ihr als geschützt angesehenen Raumes in Gegenwart eines Kindes zu den sexuellen Handlungen. Weiter spricht gegen den Beamten, dass er nach den tatbestandlichen strafrichterlichen Feststellungen, die Geschädigte zweimal durch sexuelle Übergriffe genötigt hat. Handelt es sich dabei auch straf- wie disziplinarrechtlich „nur“ um eine Handlung im Rechtssinne, so ist es disziplinarrechtlich doch beachtlich, dass er als offensichtlich erkennbarer Polizeibeamter der Geschädigte in deren Wohnung nach dem ersten erzwungenen Kuss noch nachstellte, sie an sich riss, ihre Brüste berührte und ihr somit Schmerzen zufügte. Ein solches verfehltes dienstliches Verhalten eines Polizeibeamten ist im höchsten Maße für das öffentliche Ansehen der Berufsgruppe der Polizei schädigend. Polizeibeamte haben Straftaten zu verhindern, aufzuklären und nicht zu begehen. Dabei ist das Disziplinargericht bei dieser von ihm eigens zur Festlegung der notwendigen Disziplinarmaßnahme anzustellenden Gesamtbetrachtung der Schwere des Pflichtverletzung nicht an die strafrichterliche Feststellung eines minder schweren Falls (§ 177 Abs. 5 StGB) gebunden. Die bereits eingangs beschriebene disziplinarrechtliche Bindungswirkung nach § 17 Abs. 1 Satz 1 DO LSA betrifft nur die tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils, nicht aber die strafrichterliche Wertung zum „Maß der Gewaltanwendung“. Anknüpfungspunkt für die zu verhängende Disziplinarmaßnahme ist – auch wenn insoweit abweichend vom strafrechtlichen Ansatz – allein die Sichtweise des Dienstrechts, für die auf das Gewicht und die Schwere der Verletzung der Dienstpflicht abzustellen ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 18.06.2001, D 17 S 2/01; juris).

39

d.) Von der aufgrund der Schwere des Dienstvergehens auszusprechenden disziplinarrechtlichen Höchstmaßnahme ist dann Abstand zu nehmen, wenn zu Gunsten des Beamten gewichtige Entlastungsgründe (Milderungsgründe) zu berücksichtigen sind, die den Schluss rechtfertigen, dass das dem Beamten vom Dienstherrn und der Allgemeinheit entgegengebrachte Vertrauen noch nicht endgültig verloren ist. Solche Gründe stellen zum einen die von der Rechtsprechung bezüglich der sog. Zugriffsdelikte entwickelten und anerkannten Milderungsgründe dar, die besondere menschliche Konfliktsituationen beschreiben. Hierzu zählen etwa das Handeln in einer existenziellen wirtschaftlichen Notlage oder einer körperlichen oder psychischen Ausnahmesituation oder besonderen Versuchssituationen oder eine persönlichkeitsfremde Einzelverfehlung des Beamten wie auch „Entgleisungen“ während einer negativen, inzwischen überwundenen, durch Alkohol, Drogen oder Schicksalsschlägen bedingte Lebensphase. Der Milderungsgrund der Geringwertigkeit eines verursachten Schadens oder des geldlichen Vorteils der Handlung wird bei etwa 50,00 Euro gezogen. Auch besondere die Dienstpflichtverletzung begünstigende Handlungen und mangelnde Kontrollen des Dienstherrn können im Einzelfall wie ein besonderes Nachtatverhalten die Schwere der Verfehlung mildern. Zeitlich überlange Disziplinarverfahren können wegen des disziplinarrechtlichen Beschleunigungsgebotes und der mit dem Disziplinarverfahren verbundenen persönlichen Belastungen jedenfalls bei Maßnahmen der Pflichtenmahnung berücksichtigt werden. Entlastungsgründe können sich aber zum anderen auch aus allen Besonderheiten ergeben, die es im Einzelfall wegen der persönlichkeitsbedingten an § 13 DG LSA zu orientierenden Prognoseentscheidung gebieten, von der disziplinarrechtlichen Höchstmaßnahmen Abstand zu nehmen. Die entlastenden Gründe sind nicht (mehr) allein auf den in der Rechtsprechung entwickelten Kanon der anerkannten Milderungsgründe beschränkt (BVerwG, Urteil v. 29.03.2012, 2 A 11.10, m. w. Nachw.; juris). Diese Besonderheiten müssen aber in ihrer Gesamtheit geeignet sein, die Schwere des Pflichtenverstoßes erheblich herabzusetzen. Generell gilt, dass das Gewicht der Entlastungsgründe umso größer sein muss, je schwerer das Delikt aufgrund der Schadenshöhe sowie der Tatumstände, wie Anzahl, Häufigkeit, Zeitraum, Verschiedenartigkeit und Tatausführung wiegt (im Ganzen ausführlich: VG Magdeburg, Urt. v. 31.03.2011, 8 A 2/10 MD und v. 27.10.2011, 8 A 2/11, mit Verweis auf BVerwG, Urt. v. 24.05.2007, 2 C 28.06, Urt. v. 06.06.2007, 1 D 2.06, Urt. v. 29.05.2008, 2 C 59.07; Bayr. VGH, Urt. v. 27.10.2010, 16 aD 09.2470; OVG Lüneburg, Urt. v. 08.02.2011, 6 LD 4/08; zuletzt ausführlich; VG Magdeburg, Urteil v. 29.11.2012, 8 A 12/11; alle juris).

40

Soweit das Strafgericht ausführt, dass objektive Umstände im Vorfeld der Tat (wie z. B. „offener Hosenstall der Nebenklägerin“) die Begehung der Tat begünstigt haben könnten, ändert dies nichts an der festzustellenden Ansehensschädigung der Berufsgruppe der Polizei. Andere greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen geeigneter Entlastungsgründe sind nicht ersichtlich und werden auch nicht vorgetragen.

41

e.) Die nach alledem notwendige Entfernung aus dem Dienst verstößt auch nicht gegen das Verhältnismäßigkeitsgebot. Denn diese disziplinarrechtliche Maßnahme ist die einzige Möglichkeit, dass durch den Dienstherrn sonst nicht lösbare Dienstverhältnis einseitig zu beenden. Die darin liegende Härte ist für den Betroffenen nicht unverhältnismäßig. Sie beruht vielmehr auf ein von ihm zurechenbares Verhalten (BVerwG, U. v. 21.06.2000, 1 D 49.99; juris).

42

4.) Das Gericht macht von der Möglichkeit des § 63 Abs. 1 DO LSA Gebrauch und hält die Bewilligung von 50. v. H. des erdienten Ruhegehaltes für einen Zeitraum von 6 Monaten für vertretbar.

43

5.) Die Kostenentscheidung folgt aus § 100 Abs. 1 Satz 1 HS 1 DO LSA; das Verfahren ist gemäß § 98 Abs. 1 DO LSA gerichtsgebührenfrei.


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