Beschluss vom Verwaltungsgericht Münster - 3 L 93/21
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 3 K 392/21 der Antragsteller gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 15. 1. 2021 wird hinsichtlich der Ziffern 6 und 7 angeordnet; im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 12500 Euro festgesetzt.
1
G r ü n d e
2Der Antrag der Antragsteller,
3die aufschiebende Wirkung ihrer Klage 3 K 392/21 gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 15. 1. 2021 anzuordnen,
4ist gemäß § 80 Abs. 5 zulässig, aber nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
5Die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO gebotene Interessenabwägung fällt im Wesentlichen zu Lasten der Antragsteller aus.
6Ihr privates Aussetzungsinteresse überwiegt nur hinsichtlich der Ziffern 6 und 7 der Ordnungsverfügung vom 15. 1. 2021 ausnahmsweise das nach der gesetzlichen Wertung des § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i. V. m. § 112 JustG NRW bzw. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG grundsätzlich vorrangige öffentliche Interesse an der Vollziehung. Die Abschiebungsandrohung und das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot mit einer Befristung auf 24 Monate ab dem Tag der Abschiebung sind offensichtlich rechtswidrig.
7Hinsichtlich der übrigen Regelungen in der Ordnungsverfügung überwiegt das Aussetzungsinteresse der Antragsteller nicht das nach der gesetzlichen Wertung des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG grundsätzlich vorrangige öffentliche Interesse an der Vollziehung. Die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnisse ist offensichtlich rechtmäßig.
8Die Antragsteller haben keinen Anspruch auf Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnisse oder auf Neuerteilung von Aufenthaltserlaubnissen.
9Der Antragsteller zu 1) hat keinen Anspruch auf Verlängerung aus § 38 a AufenthG, die Antragstellerin zu 2) keinen Anspruch aus § 30 Abs. 1 AufenthG und die Antragstellerin zu 3) keinen Anspruch aus § 32 Abs. 1 AufenthG.
10Die Verlängerungsansprüche scheitern bei allen drei Antragstellern daran, dass sie die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nicht erfüllen.
11Nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Gemäß § 2 Abs. 3 AufenthG ist der Lebensunterhalt eines Ausländers gesichert, wenn er ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann.
12Das ist derzeit nicht der Fall, auch wenn die Antragsteller in der Vergangenheit zeitweise ihren Lebensunterhalt gesichert hatten. Die Antragsteller zu 1) und 2) haben in den letzten Jahren aber häufig ihre Arbeitsstelle gewechselt und teilweise auch ergänzende öffentliche Leistungen bezogen. Ob sie aktuell noch ergänzende Leistungen aus öffentlichen Mitteln beziehen, seit die Antragsteller zu 1) und 2) ab 1. 10. 2020 neue Stellen angetreten haben, ist nicht bekannt. Auf den tatsächlichen Bezug öffentlicher Leistungen kommt es letztlich aber auch nicht an, sondern allein darauf, ob mangels eigenen Einkommens ein Anspruch darauf besteht.
13Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. 4. 2007 – 12 B 19.06 –, juris, Rdn. 24; Zeitler in: HTK-AuslR, Stand: 16. 11. 2017, § 5 AufenthG, zu Abs. 1 Nr. 1, Nr. 1.
14Die Prognose, ob der Ausländer den Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann, erfordert einen Vergleich des voraussichtlichen Unterhaltsbedarfs mit dem tatsächlich zur Verfügung stehenden Einkommen. Der Unterhaltsbedarf der Bedarfsgemeinschaft, die im vorliegenden Fall aus den fünf Antragstellern besteht, setzt sich aus der Summe der auf die Familie entfallenden Regelsätze nach dem SGB II, den Kosten für die Unterkunft und möglicherweise Beiträgen für die Kranken- und Pflegeversicherung zusammen. Daraus ergibt sich der von der Antragsgegnerin zutreffend ermittelte Bedarf von monatlich 2412 Euro.
15Dieser Bedarf wird durch das Einkommen der Antragsteller zu 1) und 2) nicht gedeckt. Inklusive des Kindergelds für die Antragsteller zu 3), 4) und 5) und des Kinderzuschlags ergibt sich nach der zutreffenden Berechnung der Antragsgegnerin ein anrechenbares Einkommen vom 2402,20 Euro, wenn man von den Vereinbarungen in den Arbeitsverträgen ausgeht. Auch wenn der Bedarf hierdurch nur knapp verfehlt wird, ergibt sich aufgrund der Gehaltsabrechnungen der Monate September und Oktober 2020 mit durchschnittlich 2238,13 Euro sogar ein noch deutlich geringeres Monatseinkommen. Die Antragsteller zu 1) und 2) haben mitgeteilt, dass es sich bei den Tätigkeiten für die O. V. , von der die Gehaltsabrechnungen stammen, um die einzigen Arbeitsverhältnisse handelt. Vor diesem Hintergrund ist auch nicht die Prognose gerechtfertigt, dass die Antragsteller kurzfristig den Lebensunterhalt wieder sicherstellen werden können.
16Anhaltspunkte für einen Ausnahmefall von der Regel liegen nicht vor. Die Möglichkeit eines Absehens von der Regelerteilungsvoraussetzung nach Ermessen nach § 5 Abs. 3 AufenthG ist nicht gegeben.
17Der Antragsteller zu 1) erfüllt zudem nicht die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Es besteht ein Ausweisungsinteresse im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Die Voraussetzungen für ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG sind erfüllt. Der Antragsteller zu 1) hat einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen. Ein Rechtsverstoß ist danach immer beachtlich, wenn er vereinzelt, aber nicht geringfügig oder geringfügig, aber nicht vereinzelt ist.
18Vgl. Neidhardt in: HTK-AuslR, § 54 AufenthG, zu Abs. 2 Nr. 9, 1/2016, Nr. 2.2.
19Der Antragsteller zu 1) ist durch Strafbefehl vom 10. 11. 2017, abgeändert am 15. 2. 2018, zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort und wegen Verstoßes gegen das Pflichtversicherungsgesetz und durch Urteil des Amtsgerichts N. vom 10. 9. 2019 erneut wegen Verstoßes gegen das Pflichtversicherungsgesetz zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen verurteilt worden. Jedenfalls der zweifache Verstoß gegen das Pflichtversicherungsgesetz führt dazu, dass der Tatbestand des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG erfüllt ist, weil der Rechtsverstoß nicht vereinzelt war.
20Für eine einschränkende Auslegung der Vorschrift, die sich an den Strafmaßen anderer Nummern des § 54 Abs. 2 AufenthG orientiert, bleibt unter diesen Voraussetzungen kein Raum, zumal es sich nach dem Willen des Gesetzgebers wie bei § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG a. F. weiterhin um eine Auffangvorschrift handelt.
21Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 11. 1. 2019 – 18 A 4750/18 –, juris, Rdn. 6.
22Ein Ausnahmefall von der Regelerteilungsvoraussetzung liegt nicht vor. Sofern Bleibeinteressen nach § 55 AufenthG in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen sind,
23vgl. OVG NRW, Beschluss vom 11. 1. 2019 – 18 A 4750/18 –, juris, Rdn. 12,
24ist dafür nach dem Vorbringen der Antragsteller nichts ersichtlich.
25Die Antragsteller zu 1) und 2) haben auch keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus § 25 b Abs. 1 AufenthG, weil hierfür weder der tatsächliche Schulbesuch der Antragstellerin zu 3) als Kind der Antragsteller zu 1) und 2) (§ 25 b Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 AufenthG) noch die Sprachkenntnisse der Antragstellerin zu 2) (§ 25 b Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AufenthG) nachgewiesen worden sind. Zudem steht der Erteilung an den Antragsteller zu 1) auch in diesem Fall die nicht erfüllte Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegen. Dass insofern ein Ausnahmefall von der Regel vorliegt oder die Antragsgegnerin gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG von der Voraussetzung absehen müsste, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
26Da den Antragstellern zu 1) und 2) weder die bisherigen Aufenthaltserlaubnisse verlängert werden können noch ein Anspruch auf Neuerteilung besteht, haben auch die Antragsteller zu 4) und 5) keinen Anspruch auf die Verlängerung ihrer nach § 33 Satz 2 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnisse nach dem insofern allein in Betracht kommenden § 34 Abs. 1 AufenthG, da kein personensorgeberechtigtes Elternteil mehr eine Aufenthaltserlaubnis besitzt.
27Ein Anspruch der Antragsteller zu 3), 4) und 5) auf Neuerteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25 b Abs. 4 AufenthG scheitert daran, dass die Antragsteller zu 1) und 2) als Eltern der Antragsteller zu 3) bis 5) keine Begünstigten nach § 25 b Abs. 1 AufenthG sind, wie sich aus dem oben Gesagten ergibt.
28Die Abschiebungsandrohung in Ziffer 6 der Ordnungsverfügung ist hingegen offensichtlich rechtswidrig, weil der Zielstaat falsch bezeichnet ist. Da der Antragsteller zu 1) in Italien im Besitz einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU war, ist die Abschiebungsandrohung in den Herkunftsstaat, hier nach Nepal, grundsätzlich unzulässig. Zulässig wäre nur die Androhung der Rückführung nach Italien als den Staat, der die Aufenthaltsberechtigung-EU ausgestellt hat.
29Vgl. Dienelt in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, Kommentar, 12. Auflage, 2018, § 38 a AufenthG, Rdn. 72; Müller in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl., 2016, § 38 a AufenthG, Rdn. 39.
30Art. 22 Abs. 2 der Richtlinie 2003/109/EG (Daueraufenthaltsrichtlinie) sieht vor, dass der erste Mitgliedstaat den langfristig Aufenthaltsberechtigten und seine Familienangehörigen zurücknimmt, wenn der zweite Mitgliedstaat aufenthaltsbeendende Maßnahmen trifft. Nach Art. 22 Abs. 3 der Richtlinie ist die Rückführung aus dem Gebiet der Union in den Herkunftsstaat nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit möglich. Dementsprechend erklärt auch § 58 Abs. 1b AufenthG, dass ein Ausländer, der eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU besitzt, außer in den Fällen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG nur in den schutzgewährenden Mitgliedstaat abgeschoben werden darf. Weder hat die Antragsgegnerin für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG etwas vorgetragen, noch ist sonst etwas dafür ersichtlich.
31Hinsichtlich der Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist die aufschiebende Wirkung ebenfalls anzuordnen, nachdem die aufschiebende Wirkung hinsichtlich der Abschiebungsandrohung angeordnet worden ist, die wiederum Voraussetzung für eine Abschiebung ist, die erst das Einreise- und Aufenthaltsverbot auslöst.
32Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Die Kosten werden den Antragstellern trotz ihres Teilerfolgs vollständig auferlegt, weil sie nur zu einem geringen Teil gewinnen. Ihr Erfolg bezieht sich mit der Abschiebungsandrohung und der Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ausschließlich auf Teile der Ordnungsverfügung, die sich in Bezug auf den Streitwert nicht auswirken.
33Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG, § 5 1. Halbsatz ZPO.
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