Anerkenntnisurteil vom Verwaltungsgericht Münster - 9 L 433/21
Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 50.000,- Euro festgesetzt.
1
G r ü n d e
2Der sinngemäße Antrag der Antragstellerin,
3die aufschiebende Wirkung der Klage vom 28. Juni 2021 (Az.: 9 K 2096/21) gegen die Verfügung des O. vom 17. Juni 2021 wiederherzustellen,
4ist zulässig.
5Er ist nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO statthaft, denn der zwischenzeitlich erhobenen Anfechtungsklage kommt hier ausnahmsweise nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO keine aufschiebende Wirkung zu, weil der Antragsgegner in Ziffer 3 der streitgegenständlichen Verfügung die sofortige Vollziehung der Regelung aus Ziffer 1 des Bescheides, nämlich des Widerrufs der gebündelten Erlaubnis zur gewerblichen Spielvermittlung vom 5. Oktober 2018, angeordnet hat.
6Der Antrag hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist formell (dazu unter I.) und materiell rechtmäßig, ein besonderes öffentliches Vollzugsinteresse ist gegeben (dazu unter II.).
7I.
8Die Anordnung der sofortigen Vollziehung bezüglich der Ziffer 1 der Verfügung vom 17. Juni 2021 ist formell rechtmäßig. Sie entspricht insbesondere dem formalen Begründungserfordernis des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Die Ausführungen des Antragsgegners auf Seite 8 des streitbefangenen Bescheides lassen erkennen, dass dieser sich des besonderen Charakters der Ausnahmeregelung bewusst geworden ist. Denn die Begründung beschränkt sich nicht allein auf eine pauschale, floskelhafte Formulierung oder eine bloße Wiederholung der Grundverfügung. Vielmehr führt der Antragsgegner dort aus, dass das (wirtschaftliche) Interesse der Antragstellerin an der fortgesetzten Ausführung ihrer Tätigkeit – jedenfalls bis zu einem rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens – hinter dem öffentlichen Vollzugsinteresse zurücktreten muss, da sie wiederholt die Gelegenheit zur Beendigung der im Bescheid beanstandeten Kundenakquise nicht genutzt hat. Ob diese Begründung inhaltlich zutreffend ist, ist hingegen eine Frage der Begründetheit.
9II.
10Die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Ziffer 1 des Bescheides ist auch inhaltlich nicht zu beanstanden.
11Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen einen Verwaltungsakt in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO wiederherstellen, wenn zuvor die Behörde die sofortige Vollziehung des Verwaltungsaktes angeordnet hat. Dabei hat das Gericht nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO eine Interessenabwägung zwischen dem privaten Aussetzungsinteresse der Antragstellerin und dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheides vorzunehmen. Stellt sich die Ordnungsverfügung nach der im vorliegenden Verfahren einzig gebotenen summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten des späteren Hauptsacheverfahrens als offensichtlich rechtswidrig dar, so überwiegt das Interesse der Antragstellerin an der Aussetzung der Vollziehung. Denn es kann kein öffentliches Interesse an der Vollziehbarkeit einer rechtswidrigen hoheitlichen Maßnahme bestehen. Demgegenüber überwiegt das Interesse der Öffentlichkeit an der sofortigen Vollziehbarkeit das Aussetzungsinteresse, wenn die zugrunde liegende Ordnungsverfügung offensichtlich rechtmäßig ist. Ist letzteres der Fall, bedarf es ferner eines besonderen öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehung der Anordnungen. Lassen sich bei der im Eilverfahren lediglich möglichen summarischen Prüfung die Erfolgsaussichten nicht hinreichend abschätzen, ist über den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage auf der Grundlage einer allgemeinen, die weiteren Belange der Beteiligten in den Blick nehmenden Interessenabwägung zu befinden.
12Vorliegend überwiegt das Vollzugsinteresse der Öffentlichkeit, weil sich der Verwaltungsakt nach einer wegen der besonderen Eilbedürftigkeit der Entscheidung nur möglichen summarischen Prüfung unter Zugrundelegung der umfangreichen Verwaltungsvorgänge einschließlich der vorgelegten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten als offensichtlich rechtmäßig darstellt.
13Der Widerruf der Erlaubnis zur gewerblichen Spielvermittlung in Ziffer 1 des Bescheides findet seine Grundlage in § 1 NVwVfG i.V.m. § 49 Abs. 2 VwVfG. Danach darf ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft unter anderem dann widerrufen werden, wenn der Widerruf durch Rechtsvorschrift zugelassen oder im Verwaltungsakt vorbehalten ist (Nr. 1) oder wenn die Behörde aufgrund nachträglich eingetretener Tatsachen berechtigt wäre, den Verwaltungsakt nicht zu erlassen, und wenn ohne den Widerruf das öffentliche Interesse gefährdet würde (Nr. 3).
14Diese Voraussetzungen für den Widerruf der am 5. Oktober 2018 erteilten und ausweislich des Schreibens des Antragsgegners vom 12. Januar 2021 bis zum 30. Juni 2022 verlängerten Erlaubnis zur gewerblichen Spielvermittlung liegen vor. Zur Begründung wird zunächst entsprechend § 117 Abs. 5 VwGO auf die umfassende Begründung der Ordnungsverfügung vom 17. Juni 2021, die sich das Gericht nach eigener Prüfung vollumfänglich zu eigen macht, verwiesen.
15Der Vortrag der Antragstellerin im gerichtlichen Verfahren vermag weder die tatsächlichen Feststellungen des Antragsgegners noch die daraus von ihm gefolgerte glücksspielrechtliche Unzuverlässigkeit der Antragstellerin zu erschüttern. Insbesondere ergibt sich die Unzuverlässigkeit der Antragstellerin daraus, dass sie jedenfalls nicht in ausreichender Weise gegen die Handlungsweise der Callcenter eingeschritten ist, die ihr durch die Vielzahl an Beschwerden und eingeleiteten Strafverfahren – alleine in den Verwaltungsvorgängen sind 172 Strafverfahren aktenkundig – offensichtlich bekannt war. Gerade der Umstand, dass der Geschäftsführer der Antragstellerin bzw. ihrer Komplementärin im Verlauf mehrerer Jahre wiederholt zur polizeilichen Vernehmung geladen wurde und die Vorwürfe in den einzelnen Strafverfahren nahezu identisch sind, mithin deutlich ein Muster erkennen lassen, hätte sie dazu veranlassen müssen, das Konzept der Beauftragung von externen Callcentern zu überdenken und gegebenenfalls selbst rechtliche Schritte gegen diese einzuleiten. Ungeachtet dessen erscheint es bei lebensnaher Betrachtung fernliegend, dass sämtliche der beauftragten Callcenter über den Verlauf mehrerer Jahre zufällig dieselben Unzulänglichkeiten in der Gesprächsführung aufweisen. Dieser Umstand begründet eher, ohne dass es angesichts des Vorstehenden entscheidungserheblich darauf ankäme, den vom Antragsgegner geäußerten Verdacht, dass es sich hierbei um eine systematische Vorgehensweise auch der Antragstellerin selbst handelt, zumal die Antragstellerin (jedenfalls weit überwiegend) weder Aufzeichnungen zu den jeweils ersten Telefonaten noch entsprechende Gesprächsleitfäden vorgelegt hat.
16Die Jahresfrist des § 1 NVwVfG i.V.m. § 49 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 48 Abs. 4 VwVfG, die erst mit Abschluss des Anhörungsverfahrens, also mit Eingang der Stellungnahme der Antragstellerin am 14. April 2021 begonnen hat, ist gewahrt.
17Vgl. zum Fristbeginn BVerwG, Beschluss vom 19. Dezember 1984 – Gr. Sen. 1/84, NJW 1985, 819.
18Ein besonderes Eilbedürfnis bzw. öffentliches Vollzugsinteresse ist vorliegend gegeben, denn es soll verhindert werden, dass die Antragstellerin, die – wie ausgeführt – als unzuverlässig anzusehen ist und daher nach §§ 4 Abs. 1 Nr. 5, 7 Abs. 1 NGlüSpG nicht (mehr) die Voraussetzungen für die Erlaubniserteilung erfüllt, weiterhin auf dem Gebiet der gewerblichen Spielevermittlung tätig wird, um so dem Spieler- und damit dem Verbraucherschutz umfassend Rechnung zu tragen. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass sich die Antragstellerin bis zum Abschluss des möglicherweise langwierigen Hauptsacheverfahrens gegenüber Verbrauchern in Wirklichkeit nicht bestehender zivilrechtlicher Zahlungsansprüche berühmt. Insbesondere ist – anders als die Antragstellerin meint – nicht davon auszugehen, dass auch im Falle der aufschiebenden Wirkung der Klage bei niemandem ein Schaden entstünde. Vielmehr ist anzunehmen, dass die Antragstellerin in diesem Fall ihre bisherigen Tätigkeiten unverändert fortsetzen wird und dadurch weiteren Verbrauchern ein finanzieller Schaden erwachsen könnte. Etwaige zivilrechtliche Ansprüche der Verbraucher können selbstverständlich ein ordnungsbehördliches Einschreiten nicht verhindern; eine unbillige Härte ist auch deshalb nicht zu erkennen, weil es allein im Verantwortungsbereich der Antragstellerin lag, ihre Tätigkeit verantwortungsbewusst auszuüben und jedenfalls aktiv und konsequent gegen die benannten Vorgehensweisen der Callcenter einzuschreiten. Zudem soll sich die Antragstellerin nicht dauerhaft Vorteile im Vergleich zu einem zuverlässigen Spielevermittler durch Einlegung eines Rechtsbehelfs verschaffen können. Dahinter müssen die erheblichen wirtschaftlichen Interessen der Antragstellerin zurücktreten.
19Unabhängig vom Vorstehenden überwiegt auch im Rahmen einer rechtmäßigkeitsunabhängigen Interessenabwägung (Folgeabwägung) bei – zugunsten der Antragstellerin unterstellten – offenen Erfolgsaussichten das öffentliche Vollzugsinteresse. Dies zeigt sich schon anhand des in § 1 GlüStV zum Ausdruck kommenden Willens des Gesetzgebers, das Glücksspielwesen in geordnete und überwachte Bahnen zu lenken, insbesondere soll sichergestellt werden, dass Glücksspiele ordnungsgemäß durchgeführt werden, die Spieler vor betrügerischen Machenschaften geschützt und die mit Glücksspielen verbundene Folge- und Begleitkriminalität abgewehrt werden. Dahinter muss das Recht der Antragstellerin aus Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 19 Abs. 3 GG vor dem Hintergrund der Vielzahl der strafrechtlichen Ermittlungsverfahren und Beschwerden von Verbrauchern zurücktreten.
20Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziff. 1.5, 54.2.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Angesichts des von der Antragstellerin vorgetragenen Jahresumsatzes von 3,5 Millionen Euro schätzt das Gericht den jährlichen Gewinn auf mindestens 100.000,- Euro.
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Referenzen
- VwVfG § 48 Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes 1x
- VwGO § 80 6x
- § 1 NVwVfG 2x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 117 1x
- VwGO § 154 1x
- § 1 GlüStV 1x (nicht zugeordnet)
- §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG 2x (nicht zugeordnet)
- 9 K 2096/21 1x (nicht zugeordnet)
- VwVfG § 49 Widerruf eines rechtmäßigen Verwaltungsaktes 1x
- §§ 4 Abs. 1 Nr. 5, 7 Abs. 1 NGlüSpG 2x (nicht zugeordnet)