Urteil vom Verwaltungsgericht Münster - 2 K 2764/19
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Hinterlegung oder Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des beitreibbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung ihrerseits Sicherheit in entsprechender Höhe leistet.
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T a t b e s t a n d :
2Die Klägerin wendet sich als Nachbarin gegen eine den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung der Beklagten zur Errichtung eines Einfamilienhauses mit Garage.
3Die Klägerin ist Miteigentümerin des Grundstückes Gemarkung N. Flur 70 Flurstück 753 (W.----straße 14 in N. ), welches mit einem Einfamilienhaus nebst Einliegerwohnung und Garage bebaut ist. An das Grundstück grenzt in nordöstlicher Richtung das Grundstück der Beigeladenen Gemarkung N. Flur 70 Flurstück 752 (W.----straße 16) an. Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 293 „W.----straße /X.------straße /P. -Ring/T. Straße“ der Beklagten, der seit dem 9. Juli 1993 rechtwirksam ist. Der Bebauungsplan setzt in diesem Bereich ein reines Wohngebiet in offener 1-geschossiger Bauweise fest. Das zulässige Maß der baulichen Nutzung wird durch eine Grundflächenzahl (GRZ) von 0,3 und eine Geschoßflächenzahl (GFZ) von 0,5 bestimmt. Ferner bestimmt der Bebauungsplan teilweise die Firstrichtung des Daches von Norden nach Süden. Hinsichtlich der einzelnen Belegenheiten wird auf die nachfolgenden Ausschnitte aus dem Bebauungsplan Nr. 293 und dem Liegenschaftskataster der Beklagten verwiesen:
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Unter dem 1. April 2019 wandten sich die Beigeladenen mit einem Bauantrag an die Beklagte zwecks Errichtung des Neubaus eines Einfamilienhauses auf dem Flurstück 752. Nach den eingereichten Bauvorlagen soll das Neubauvorhaben in einer L-Form auf dem Grundstück angeordnet werden. An der südwestlichen Grundstücksgrenze soll auf einem Werkraum im Untergeschoss eine Garage gebaut werden. Die hintere Baugrenze soll mit einem Maß von 3,5 m auf einer Länge von 7,45 m im Erdgeschoss und im Obergeschoss auf einer Länge von 8 m überschritten werden. Dies führt zu einer Überschreitung der GFZ von 0,02. Der First soll diagonal von Nordwesten nach Südosten verlaufen.
6Mit Baugenehmigung vom 2. Oktober 2019 erteilte die Beklagte den Beigeladenen eine Baugenehmigung zur Errichtung eines Einfamilienhauses und Garage auf dem Grundstück W.----straße 16. Gleichzeitig genehmigte die Beklagte den Beigeladenen eine Befreiung und Ausnahme von den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 293 hinsichtlich der Baugrenze und der für das Dach festgesetzten Firstrichtung.
7Hiergegen hat die Klägerin unter dem 11. November 2019 die vorliegende Klage erhoben.
8Ihren am 9. Dezember 2020 gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage lehnte das erkennende Gericht durch Beschluss vom 23. Dezember 2020 – 2 L 1050/20 – als unbegründet ab. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) durch Beschluss vom 20. September 2021 – 7 B 2051/20 - zurück. Wegen der Einzelheiten wird auf die Gründe in den Beschlüssen verwiesen.
9Im weiteren Verlauf der verwaltungsgerichtlichen Verfahren haben die Beigeladenen ergänzende Bauvorlagen eingereicht, mit der eine fehlerhafte Berechnung der Geschossflächenzahl durch Veränderungen der Grundfläche des Erdgeschosses, des Dachgeschosses und des Kellergeschosses auf nunmehr 0,49 korrigiert wurde. Ein erforderlicher 2. Stellplatz wurde an die nördliche Grundstücksgrenze verlegt. Diese Änderungen genehmigte die Beklagte durch Baugenehmigung vom 15. September 2020 und stellte bei Einhaltung der GRZ und der GFZ die Eingeschossigkeit des Bauvorhabens fest. Mit Nachtragsgenehmigung vom 17./18. März 2021 genehmigte die Beklagte den Beigeladenen einen geänderten konstruktiven Wandaufbau der an der Grundstücksgrenze der Klägerin genehmigten Garage. Durch eine Aufkantung für das geplante Gründach der Grenzgarage ergab sich eine Erhöhung der mittleren Wandhöhe auf 3,00 m. Diese geänderte Bauausführung genehmigte die Beklagte durch Baugenehmigung vom 28. September 2021.
10Zur Begründung ihrer Klage führt die Klägerin aus: Die Baugenehmigung und der Befreiungsbescheid seien rechtswidrig. Dies betreffe zum einen die Überschreitung der hinteren Baugrenze und zum anderen die First- und Traufhöhen des Bauvorhabens sowie die Änderung der Firstrichtung. Zudem rügt sie eine 2-geschossige Bauweise des Bauvorhabens.
11Mit den Nachtragsgenehmigungen seien „völlig neue Baugenehmigungen“ erteilt worden. Eine Befreiung von nachbarschützenden Festsetzungen sei fehlerhaft und müsse zur Aufhebung der Baugenehmigung führen. Die bauplanungsrechtlichen Festsetzungen der überbaubaren Grundstücksfläche, der Baugrenze und der Firstrichtung vermittelten eine drittschützende Wirkung. Maßgeblich sei eine „maßvolle Verdichtung“ bzw. der vorhandene „Bestand“. Beides werde durch das Neubauvorhaben nicht eingehalten. Wegen der weiteren Einzelheiten ihres Vorbringens wird auf die schriftsätzlichen Ausführungen der Klägerin verwiesen.
12Die Klägerin beantragt,
13die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung der Beklagten vom 2. Oktober 2019 in der Gestalt ihrer Nachtragsbaugenehmigungen vom 15. September 2020 und vom 17./18. März 2021 sowie vom 28. September 2021 zur Errichtung eines Einfamilienhauses und Garage auf dem Grundstück Gemarkung N. Flur 70 Flurstück 752 (W.----straße 16 in N. ) sowie den Befreiungs- und Ausnahmebescheid der Beklagten vom 2. Oktober 2019 aufzuheben.
14Die Beklagte beantragt,
15die Klage abzuweisen.
16Sie tritt den Ausführungen der Klägerin wie folgt entgegen: Es fehle bereits an einer nachbarschützenden Wirkung der gerügten Festsetzungen. Die Festsetzung einer hinteren Baugrenze habe in der Regel keine drittschützende Wirkung, da sie aus städtebaulichen Gründen erfolge. Unabhängig davon überschreite das Gebäude der Klägerin ebenfalls die hintere Baugrenze, wie sich aus der Bauakte ihres Gebäudes ergebe. Die diagonale Ausrichtung des Firstes mit straßenseitig ansteigender Traufe in nördlicher Richtung sei aufgrund der in der Umgebung vorzufindenden heterogenen Höhenausformungen städtebaulich vertretbar. Im Übrigen sei der Bebauungsplan diesbezüglich nicht hinreichend deutlich. Zudem beträfen die Befreiungen keine Festsetzungen, die dem Nachbarschutz, insbesondere dem der Klägerin, dienten. Eine aus ortsgestalterischen bzw. städtebaulichen Gründen festgesetzte Firstrichtung diene nicht dem Schutz von Nachbarn. Das Bauvorhaben der Beigeladenen sei auch nicht gegenüber der Klägerin rücksichtslos. Eine erdrückende Wirkung des Bauvorhabens gegenüber dem Grundstück der Klägerin liege nicht vor. Unzumutbare Belichtungs- oder Belüftungsverhältnisse würden durch das Bauvorhaben ebenso wenig geschaffen. Die bauordnungsrechtlichen Abstandflächen zum Grundstück der Klägerin würden eingehalten.
17Die Beigeladenen haben sich weder in der Sache eingelassen noch einen Antrag gestellt.
18Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
19E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
20Die Klage gegen die Baugenehmigung der Beklagten betreffend die Errichtung eines Einfamilienhauses mit Garage auf dem Grundstück der Beigeladenen W.----straße 16 in N. ist zulässig, aber unbegründet.
21Die Klägerin wird durch die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung der Beklagten vom 2. Oktober 2019 in der Gestalt der Nachtragsbaugenehmigungen vom 15. September 2020 und vom 28. September 2020 sowie vom 18. März 2021 nicht in eigenen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).
22Soweit die Klägerin der Auffassung ist, dass es sich bei den genehmigten nachträglichen Änderungen des Bauvorhabens um eigenständige Baugenehmigungen handelt, folgt das Verwaltungsgericht der Klägerin nicht. Im Allgemeinen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Bauherren mit der Nachtragsbaugenehmigung über eine zweite, neben die ursprüngliche Baugenehmigung tretende Baugenehmigung verfügen.
23So OVG NRW, B. v. 20. November 1987 – 7 B 2871/87 -, BauR 1988, 709 (710).
24Die nachträglichen baurechtlichen Genehmigungen der Beklagten betrafen nicht das Bauvorhaben der Beigeladenen insgesamt, sondern jeweils nur Teilaspekte des Neubauvorhabens, so dass es sich entgegen der Auffassung der Klägerin um Nachtragsgenehmigungen handelt.
25Mit einer Nachtragsgenehmigung werden (nur) kleinere, modifizierende Änderungen eines bereits genehmigten Vorhabens zugelassen, die das Gesamtvorhaben in seinen Grundzügen nicht wesentlich berühren und in seinem Wesen nicht verändern.
26Vgl. OVG NRW, B. v. 7. Mai 2019 – 2 B 1329/18 -, n.v.; Hüwelmeier, in: Spannowsky/Saurenhaus, Bauordnungsrecht Nordrhein-Westfalen, 2020, § 74 Rn. 92.
27Erst dann, wenn das Bauvorhaben derart geändert wird, dass sich die Genehmigungsfähigkeit für das Bauvorhaben insgesamt neu stellt, spricht man von einem aliud, welches einer (neuen) eigenständigen Baugenehmigung unterliegt. Demgegenüber betrifft die Nachtragsbaugenehmigung regelmäßig abgrenzbare selbständige Teile eines bereits genehmigten Vorhabens, dessen Wesen und Identität beibehalten werden und die die ursprüngliche Baugenehmigung im Übrigen unberührt lässt.
28Vgl. dazu Kerkmann/Sattler, in: BauR 2005, S. 1 ff.; Schulte, in: Böddinghaus/Hahn/Schulte u.a., Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen, Kommentar, 2020, § 74 Rn. 364; Schönenbroicher/Kamp, BauO NRW, 2012, § 75 Rn. 160.
29Nach Zustellung der Baugenehmigung der Beklagten vom 2. Oktober 2019 veränderten die Beigeladenen – nicht zuletzt vor dem Hintergrund nachbarrechtlicher Einwendungen – die Grundfläche im Erdgeschoss, die Höhe der Decke zwischen Erdgeschoß und Obergeschoß bei gleichzeitiger Senkung des Firstes um 0,10 m, die Verkleinerung des Kellerraumes sowie Verlegung eines ursprünglich in der Garage vorgesehenen 2. Stellplatz an die nördliche Grundstücksgrenze. Hierdurch wurde die Grundflächenzahl von 0,58 auf 0,49 gesenkt. Damit bezog sich die Änderung nur auf einige Teilaspekte des Bauvorhabens, ohne den Baukörper insgesamt neu zu planen oder auf den Genehmigungsprüfstand zu stellen, so dass die Beklagte die Änderungen durch nachträgliche Baugenehmigung vom 15. September 2020 legalisierte. Entsprechend hat die Beklagte die Änderung des konstruktiven Wandaufbaus der an der Grenze zum Grundstück der Klägerin errichteten Garage durch Nachtragsgenehmigung vom 17./18. März 2021 genehmigt, nachdem die Beigeladenen von einer Mischkonstruktion aus 17,5 cm bestehendem Mauerwerk mit eingestellten Drempelstützen und Ringbalken auf ein 21,5 cm breites Verblenderfertigteil als vollflächige Stahlbetonkonstruktion wechselten. Mit der dritten Nachtragsgenehmigung vom 28. September 2021 legalisierte die Beklagte abweichend von der in den ursprünglichen Bauvorlagen als mittlere Wandhöhe der Grenzgarage bezeichnete Höhe von 2,835 m durch die erforderliche Aufkantung für das als Gründach bestimmte Garagendach auf 3,00 m. Auswirkungen hierdurch auf das übrige Bauvorhaben lagen nicht vor und waren auch nicht erkennbar.
30Die Klage der Klägerin gegen die Baugenehmigung in der Gestalt der drei Nachtragsbaugenehmigungen hat in der Sache keinen Erfolg.
31Im Rahmen einer Drittanfechtungsklage kommt dem Gericht nur ein begrenzter Prüfungsmaßstab zu. Einen Rechtsanspruch auf Aufhebung einer erteilten Baugenehmigung haben Nachbarn wie die Klägerin nicht schon dann, wenn der Bauvorbescheid objektiv rechtswidrig ist. Vielmehr setzt die Aufhebung der Baugenehmigung darüber hinaus voraus, dass der Nachbar durch die Baugenehmigung zugleich in eigenen (Nachbar-)Rechten, d.h. in einem Recht, welches zumindest auch dem Schutz des Nachbarn zu dienen bestimmt ist, verletzt ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
32Vgl. nur BVerwG, Urt. v. 15. Februar 1990 – 4 C 39/86 -, juris Rn. 13, 15; Urt. v. 6. Oktober 1989 - 4 C 14/87 -, BVerwGE 82, 343; Beschl. v. 16. August 1983 – 4 B 94.83 -, BRS 40 Nr. 190 = juris Rn. 3; Urt. v. 23. August 1974 – 4 C 29.73 -, BVerwGE 47,19 (21 ff.)..
33Eine solche Verletzung drittschützender Normen, bei denen es sich mit Blick auf den Regelungsinhalt der streitgegenständlichen Baugenehmigung allein um solche materiellen Rechte des Bauplanungsrechts handeln kann, liegt nicht vor. Diese sind von der Klägerin – auch nicht im Rahmen ihres in der mündlichen Verhandlung eingereichten umfangreichen Schriftsatzes – substantiiert dargelegt worden.
34Wie bereits vom erkennenden Gericht in seinem Beschluss vom 23. Dezember 2020 – 2 L 1050/20 – festgestellt und durch Beschluss des OVG NRW vom 20. September 2021 – 7 B 2051/20 – bestätigt wurde, begründen weder die Festsetzungen einer hinteren Baugrenze in einem Bebauungsplan noch die Festsetzungen einer bestimmten Firstrichtung des Daches einen nachbarschützenden Charakter. Dies gilt auch für den von der Klägerin gerügten Verstoß gegen eine im Bebauungsplan festgesetzte offene Bauweise gem. § 22 Abs. 2 S. 1 BauNVO (1977). Dass das Bauvorhaben diese Bauweise einhält, hat das Obergericht in seiner Beschwerdeentscheidung im Einzelnen näher dargelegt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die beiden Beschlüsse verwiesen, an denen der Einzelrichter – nach nicht nur summarischer Prüfung – festhält.
35Soweit sich die Klägerin zur weiteren Begründung ihrer Rechtsauffassung auf das Wannsee-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts bezieht, dürfte wohl
36BVerwG, Urt. v. 9. August 2018 – 4 C 7/17 –, juris
37gemeint sein, welches die Klägerin auch in ihrem Schriftsatz vom 6. Januar 2022 in Bezug genommen hat, wonach es bei der Frage, ob Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung auch dem Schutz von Nachbarn zu dienen bestimmt sind, vom Willen der Gemeinde als Plangeber abhängt.
38„Der Umstand, dass ein Plangeber die Rechtsfolge einer nachbarschützenden Wirkung der Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung zum Zeitpunkt der Planaufstellung nicht in seinen Willen aufgenommen hatte, verbietet es nicht, die Festsetzungen nachträglich subjektiv-rechtlich aufzuladen. Es entspricht allgemeiner Rechtsüberzeugung, dass das öffentliche Baurecht nicht in dem Sinne statisch aufzufassen ist, dass es einer drittschutzbezogenen Auslegung unzugänglich wäre. Baurechtlicher Nachbarschutz ist das Ergebnis einer richterrechtlichen Rechtsfortbildung, welche hierbei von einer Auslegung der dafür offenen Vorschriften ausgeht.“
39So BVerwG, a.a.O., juris Rn. 16.
40„Ob der Plangeber eine Maßfestsetzung auch zum Schutze des Nachbarn trifft oder ausschließlich objektiv-rechtlich ausgestaltet, darf er regelmäßig selbst und ohne Bindung an das Eigentumsrecht des Nachbarn entscheiden:“
41So BVerwG, a.a.O., juris Rn. 17.
42Die Entscheidung des BVerwG ist im Kontext des entschiedenen Einzelfalles zu sehen, der von dem vorliegenden streitgegenständlichen Fall deutlich abweicht. „Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung (§§ 16 ff. BauNVO) sind grundsätzlich nicht kraft Bundesrechts nachbarschützend. Die im Vergleich mit den Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung unterschiedliche Behandlung begründet das BVerwG damit, dass Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung in aller Regel den Gebietscharakter unberührt lassen und lediglich Auswirkungen auf das Baugrundstück und die unmittelbar anschließenden Nachbargrundstücke haben. Nur dann, wenn – ausnahmsweise – die Größe einer baulichen Anlage auch die Art der baulichen Nutzung erfasst, also „Quantität in Qualität“ umschlägt, wird Nachbarschutz durch Bundesrecht vermittelt. Ansonsten hängt es vom Willen der Gemeinde als Planungsträger ab, ob Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung drittschützend sind.“
43So Gatz, Anmerkung zum BVerwG v. 9.08.2018, 4 –c 7/17, in: jM 2019,30
44Das Bauvorhaben der Beigeladenen geht aber in seiner Quantität – anders als das Vorhaben im Wannsee-Urteil -, also was die Geschossigkeit und Höhe des genehmigten Einfamilienhauses angeht, nicht über die Höhe der Nachbarbebauung hinaus. Wie sich aus den Bauakten der Beklagten ergibt, liegt die Oberkante des Firstes bei dem Neubauvorhaben der Beigeladenen bei 8,05 m (Beiakte zu 2 K 2641/19 – Heft 2 – S. 5), während die des Gebäudes der Klägerin bei 8,92 m (Beiakte – Heft 1 -, Schnitt AA) liegt. Soweit das Neubauvorhaben die hintere Baugrenze überschreitet, wird angesichts der Größe des Grundstücks, auch im Verhältnis zu den Nachbargrundstücken, ebenfalls keine Größenüberschreitung vorgenommen, die im Verhältnis zu den Umgebungsgrundstücken eine andere Qualität erhält. Vielmehr ist es so, dass das vom Bebauungsplan festgesetzte Baufeld sogar im nördlichen Bereich des Plangebietes einen Versprung nach Osten vorsieht, auch wenn dort die Bestandsbebauung aufgenommen wird. Südlich des Grundstücks der Klägerin überschreitet eine Nebenanlage ebenfalls das Baufeld. Angesichts dieser Umstände kann nicht angenommen werden, dass die Festsetzungen des Maßes baulicher Nutzung im Bebauungsplan Nr. 293 durch die Rechtsprechung „nachträglich subjektiv-rechtlich aufzuladen“ sind. Abgesehen davon, dass dem Plangeber zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Bebauungsplans Nr. 293 der nachbarliche Drittschutz bekannt war, sehen die getroffenen Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung nach der Konzeption des Plangebers kein wechselseitiges, die Planbetroffenen zu einer rechtlichen Schicksalsgemeinschaft verbindendes Austauschverhältnis vor, da die Art der baulichen Nutzung in diesem Baugebiet durch diese Festsetzungen des Maßes baulicher Nutzung unberührt bleibt. Letzteren kommt deshalb nach ihrem objektiven Gehalt keine Schutzfunktion zugunsten der benachbarten Grundstückseigentümer zu, so dass die Klägerin die Maßfestsetzungen nicht aus einer (objektiven) eigenen Rechtsposition im Klagewege geltend machen kann.
45Die Klägerin hat auch nicht zur Überzeugung des Gerichts dargelegt, dass der Plangeber die Festsetzung der GRZ und der GFZ sowie der „Firstrichtung, Stellung der baulichen Anlage“ im Bebauungsplan gerade aus Gründen des Schutzes der Nachbarn erlassen hat, zumal der Bebauungsplan für das Flurstück 752 keinen Richtungspfeil festsetzt. Weder den textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans noch der Begründung desselben sind Anhaltspunkte zu entnehmen, dass neben einer allgemeinen städtebaulichen Ordnungsfunktion von dem Plangeber nachbarschützende Funktionen mit der Richtungsanzeige der Stellung der baulichen Anlagen intendiert waren. Eines solchen Willens hätte es aber auch nach der in Bezug genommenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bedurft.
46Soweit die Beklagte die Beigeladenen als Bauherren von der Einhaltung der Festsetzung der hinteren Baugrenze und der Einhaltung der Firstrichtung befreit hat, liegt ein Verstoß gegen § 31 Abs. 1 oder Abs. 2 BauGB ebenfalls nicht vor.
47Erteilt eine Bauaufsichtsbehörde, wie hier die Beklagte, bei der Vorhabenzulassung auf der Grundlage des § 31 Abs. 2 BauGB Befreiungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans, so ist einklagbarer Nachbarschutz nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Es muss ein spezifischer Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften vorliegen. Das ist dann der Fall, wenn die Behörde das Vorhaben rechtswidrig von solchen Festsetzungen des Bebauungsplans befreit hat, die nachbarschützend sind.
48Aber auch dann, wenn die Bauaufsichtsbehörde eine Befreiung von nicht nachbarschützenden Festsetzungen des Bebauungsplans vornimmt, kommt einklagbarer Nachbarschutz in Betracht. Eine derartige Abweichung vom Bebauungsplan setzt nämlich nach § 31 Abs. 2 BauGB voraus, dass sie "auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen" mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Das auf diese Weise zugelassene Vorhaben darf sich nicht gegenüber der Nachbarbebauung als "rücksichtslos" erweisen. Auf die Baunachbarklage hin ist insoweit gerichtlich zu überprüfen, ob die Behörde mit der Vorhabenzulassung unter Befreiung nicht nachbarschützender Vorschriften gegen das (nachbarschützende) Gebot der Rücksichtnahme verstoßen hat.
49Zunächst ist festzuhalten, dass die hier erteilten Befreiungen keine nachbarschützenden Festsetzungen betreffen. Die für das Vorhabengrundstück geltenden Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 293 hinsichtlich Baugrenzen, Firstrichtung, von denen die Beklagte mit Blick auf die diagonale Ausrichtung befreit hat, sind Ausdruck einer vom Plangeber geschaffenen städtebaulichen Ordnung, die allein öffentlichen Belangen dient. Die klagende Nachbarin kann die behördliche Einhaltung dieser Festsetzungen mangels Nachbarschutzes in aller Regel und so auch hier nicht zur gerichtlichen Überprüfung stellen.
50Dabei übersieht das Gericht nicht, dass eine Kommune den Inhalt ihrer Bebauungspläne auch in der Weise erlassen kann, dass sie den damit getroffenen Festsetzungen über die städtebauliche Ordnung im Einzelfall nachbarschützenden Charakter verleiht. Das ist hier aber – wie ausgeführt - nicht geschehen. Den Festsetzungen über die Baugrenzen und der Stellung des Baukörpers im Bebauungsplan Nr. 293 kommt kein nachbarschützender Charakter zu. Auch das OVG NRW hat in seiner Beschwerdeentscheidung keinen Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot erkannt. Insoweit nimmt der Einzelrichter wiederum Bezug auf die Gründe der vorgenannten Beschlüsse, die – nach nicht nur summarischer Prüfung – auch im Hinblick auf das Vorbringen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung fortgelten.
51Die von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung gestellten „Beweisanträge“
52„wir bitten um Nachrechnung/Beleg zur GRZ u. GFZ (elektronische Fassung) sowie Statiknachweis zur Baugenehmigung vom 15/9/2020“,
53gibt keinen Anlass zur weiteren Sachaufklärung. Für einen zulässigen Beweisantrag fehlt es schon an der Behauptung von konkreten Beweistatsachen (Beweisthema). Unabhängig davon fehlt es auch an der Benennung eines konkreten Beweismittels zur Verifizierung der hier unterbliebenen Tatsachenbehauptung. Darüber hinaus ist der Antrag auch in sich unsubstanziiert. Soweit die Klägerin möchte, dass die der Baugenehmigung zugrunde gelegte Grundflächenzahl und Geschossflächenzahl nachgerechnet werden, ist auf die §§ 19 Abs. 1, 20 Abs. 2 BauNVO (1990) hinzuweisen. Die Berechnung von den in der zur Baugenehmigung gehörenden Bauvorlagen enthaltenen Quadratmeter Grundfläche zur Grundstücksfläche bzw. Quadratmeter Geschoßfläche je Quadratmeter Grundstücksfläche ist auch ohne Beweiserhebung möglich. Eines gerichtlich überprüften Nachweises der Statik bedarf es ohne substanziierte Behauptung nicht. Die Bauherren haben nach § 68 Abs. 2 Nr. 2 BauO NRW (2018) ohnehin spätestens mit der Anzeige des Baubeginns einen Standsicherheitsnachweis eines staatlich anerkannten Sachverständigen beizubringen, anderenfalls müssten sie mit bauordnungsrechtlichen Verfügungen rechnen. Der Nachbar hat keinen unmittelbaren Anspruch auf Übermittlung des Standsicherheitsnachweises, da dieser zum Schutz der Allgemeinheit, aber auch im Interesse der Bewohner gefordert wird. Die Unbestimmtheit der hilfsweise gestellten Anträge kommt damit Beweisermittlungsanträgen gleich, denen das Gericht nicht nachgehen muss.
54Soweit die Klägerin einen Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot aus der Kumulation der Befreiung von den v.g. Festsetzungen herleiten will, ist nicht dargelegt, warum die Klägerin in unzumutbarer Weise verletzt sein sollte. Nach dem Lageplan in den Bauvorlagen, die Gegenstand der Baugenehmigung sind, tritt das Bauvorhaben zwar im nördlichen Bereich des Baugrundstückes mit 3,50 m über die hintere Baugrenze hervor. Dass hierdurch das Grundstück der Klägerin unzumutbar belichtet oder belüftet würde, ist nicht ersichtlich. Soweit die Klägerin Einsichtnahmen durch die nach Süden ausgerichteten bodentiefen Balkonfenster und –türen des abgewinkelten Gebäudeteils befürchtet, ist ein Verstoß ebenso wenig anzunehmen. In dicht bebauten innerörtlichen Bereichen – wie hier – muss damit gerechnet werden, dass Nachbargrundstücke innerhalb des durch das Bauplanungsrecht und das Bauordnungsrecht (mit seinen Abstandsflächen) vorgegebenen Rahmens baulich ausgenutzt werden und es durch eine Bebauung zu einer Verschattung des eigenen Grundstücks kommt. Entsprechendes gilt auch für Einsichtsmöglichkeiten, die in einem bebauten Gebiet üblich sind und regelmäßig hingenommen werden müssen.
55Soweit sich die Klägerin gegen die Grenzgarage innerhalb der 3 m – Abstandfläche zu ihrer Grundstücksgrenze wendet, liegt ein Verstoß ebenfalls nicht vor. Abgesehen davon, dass die Klägerin auf ihrer Grundstücksseite an der Grenze zum Grundstück der Beigeladenen ebenfalls eine grenzständige Garage errichtet hat, hält sich die genehmigte Garage der Beigeladenen, deren Selbständigkeit das OVG NRW in seiner Beschwerdeentscheidung deutlich hervorgehoben hat, innerhalb der von § 6 Abs. 8 S. 1 Nr. 1 BauO NRW 2018 vorgegebenen Voraussetzungen. Die mittlere Wandhöhe von 3,00 m wird entsprechend der Nachtragsgenehmigung vom 28. September 2021 nicht überschritten.
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Referenzen
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- § 6 Abs. 8 S. 1 Nr. 1 BauO 1x (nicht zugeordnet)
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- 2 L 1050/20 2x (nicht zugeordnet)
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- 2 K 2641/19 1x (nicht zugeordnet)
- BauNVO § 19 Grundflächenzahl, zulässige Grundfläche 1x
- 7 B 2051/20 2x (nicht zugeordnet)
- § 31 Abs. 1 oder Abs. 2 BauGB 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 113 2x
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