Urteil vom Verwaltungsgericht Schwerin (4. Kammer) - 4 A 4074/15 SN

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

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Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer Entziehung der Fahrerlaubnis der Klassen B, L, M (seit 19. Januar 2013 AM) und T.

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Am 03. Dezember 2010 verwarnte der Landrat des Landkreises B-Stadt den Kläger wegen des Erreichens von neun Punkten im Verkehrszentralregister (nachfolgend VZR) nach damaligem Punktesystem (nach dem Straßenverkehrsgesetz [StVG] a.F.).

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Am 14. Oktober 2013 ordnete der Beklagte gegenüber dem Kläger die Teilnahme an einem Aufbauseminar wegen des Erreichens von 14 Punkten im VZR an. Am 14 Januar 2014 legte der Kläger eine entsprechende Teilnahmebescheinigung vor.

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Die für den Kläger im VZR erfassten 14 Punkte rechnete das Kraftfahrtbundesamt (nachfolgend KBA) im Rahmen der Novellierung des StVG gemäß § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG (n.F.) zum 01. Mai 2014 in sechs Punkte im Fahreignungsregister (nachfolgend FAER) nach dem neuen Fahreignungs-Bewertungssystem um.

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Am 11. Juni 2015 teilte das KBA dem Beklagten mit, dass der Kläger einen Punktestand von neun Punkten (neu) erreicht habe. Der Beklagte kam jedoch bei Überprüfung der vom KBA vorgenommenen unverbindlichen Punktebewertung zu dem Ergebnis, dass der Kläger lediglich 8 Punkte erreicht habe.

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Nach Anhörung entzog der Beklagte mit Bescheid vom 30.07.2015 dem Kläger die Fahrerlaubnis und ordnete die sofortige Vollziehung an. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus: Rechtsgrundlage sei § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 3 StVG. Der Kläger sei wegen des Erreichens von acht oder mehr Punkten ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen. Da bereits eine Verwarnung und die Anordnung der Teilnahme am Aufbauseminar erfolgt seien, sei nunmehr die Fahrerlaubnis zu entziehen. Der Entziehungsbescheid enthielt folgende Punkteübersicht:

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Hiergegen erhob der Kläger am 04. August 2015 Widerspruch. Zur Begründung führte er an, dass gem. § 4 Abs. 6 S. 1 StVG vor der Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 5 Nr. 3 StVG eine Verwarnung als Maßnahme der davorliegenden Stufe nach § 4 Abs. 5 Nr. 2 StVG zu erfolgen habe. Es sei weder nach der im Rahmen der Novellierung des StVG erfolgten Umrechnung des im VZR erfassten Punktestandes auf den im FAER erfassten eine erneute Verwarnung erfolgt noch bei erneutem Erreichen der Punktestufe von sechs bis sieben Punkten durch Tilgung, was zweimal der Fall gewesen sei. Daher reduziere sich sein Punktestand gem. § 4 Abs. 6 S. 3 Nr. 2 StVG auf sieben Punkte.

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Den Widerspruch wies das Landesamt für Straßenbau und Verkehr Mecklenburg-Vorpommern mit Widerspruchsbescheid vom 08. Oktober 2015 zurück. Zur Begründung führte es aus, dass bei Erreichen von acht oder mehr Punkten eine bindende unwiderlegbare Vermutung für die fehlende Kraftfahreignung bestehe. Gemäß § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG müssten die ersten beiden Eingriffsstufen nach § 4 Abs. 5 Nr. 1, 2 StVG nicht erneut durchlaufen werden, da die entsprechenden Maßnahmestufen bereits nach StVG a.F. durchlaufen worden seien. Die ergriffenen Maßnahmen hätten dennoch keine Wirkung gezeigt, wie die Begehung weiterer Ordnungswidrigkeiten zeige. Eigentlich ergebe sich für den Kläger sogar ein Punktestand von neun Punkten, wie das KBA auch richtig mitgeteilt habe. Denn aufgrund der unterschiedlichen Wertigkeit der Punkte nach altem und neuem Punktesystem führe die Tilgung einer Tat, die nach StVG a.F. mit einem Punkt bewertet worden sei, nicht immer zu einer Verringerung des Punktestandes nach StVG n.F. Bei der Abwägung müssten die persönlichen Interessen des Klägers wegen des weitreichenden Risikos für die Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs und dem Schutz vor Gefahren für Leib und Leben anderer Verkehrsteilnehmer zurücktreten. Der Widerspruchsbescheid ist am 12. Oktober 2015 zugestellt worden.

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Der Kläger hat am 28. Oktober 2015 Klage erhoben, zu deren Begründung er im Wesentlichen vorträgt: Nach § 65 Abs. 3 Nr. 6 StVG hätte die Punktereduzierungen wegen des 1. und 2. Verstoßes nach altem Recht erfolgen müssen, also erst auf 14 „alte“ Punkte und sodann entsprechend der Tabelle in § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG bei nunmehr 12 Punkten auf 5 Punkte nach neuem Recht umgerechnet werden müssen. Durch die nachfolgenden Taten sei er wieder in den Verwarnungsbereich „von unten gekommen“, weshalb eine Verwarnung erforderlich gewesen sei. Zudem solle das Stufensystem des § 4 Abs. 5 StVG dem Betroffenen auch zu Gute kommen, wenn es durch tatmehrheitliche Begehung zu einer Ansammlung von sehr vielen Punkten auf einmal komme und er durch eine Entscheidung eine Maßnahmestufe überspringen würde. Dies sei vorliegend bei der im Entziehungsbescheid aufgestellten Punktechronologie nicht berücksichtigt worden. Durch die zweimalige Reduzierung des Punktestandes durch Tilgung und dem jeweils zwischenzeitlichen Wiederanstieg des Punktestandes durch Begehung neuer Ordnungswidrigkeiten hätte er jedes Mal bei Erreichen eines Punktestandes der Maßnahmestufe zwei erneut verwarnt werden müssen. Es sei nicht einzusehen, warum eine erneute Warnmaßnahme nur bei einem Punktanstieg „von unten“ und dadurch bedingtes erneutes Erreichen einer Maßnahmestufe und nicht bei erneutem Erreichen durch Punktereduzierung „von oben“ zu ergreifen sei. Er habe sich eine erneute Warnung vorliegend zumindest deshalb „verdient“, weil er den aktuellen Punktestand aufgrund der unübersichtlichen Punktesituation nicht mehr habe nachvollziehen können.

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Der Kläger beantragt,

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1. den Bescheid des Beklagten vom 30. Juli 2015 und den Widerspruchsbescheid des Landesamtes für Straßenbau und Verkehr vom 8. Oktober 2015 aufzuheben.

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2. die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Der Beklagte trägt im Wesentlichen unter Wiederholung seiner Begründung aus dem Verwaltungsverfahren vertiefend vor: Der Beklagte habe alle Maßnahmen des Katalogs nach § 4 Abs. 5 S. 1 StVG ordnungsgemäß durchgeführt. Allein durch die Umstellung auf das Fahreignungs-Bewertungssystem nach StVG n.F. werde keine Maßnahme nach dieser Norm erforderlich. Nach einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 21. Juni 2006 (Az. 1 M 10/06) sei eine erneute Maßnahme nur bei einer Unterschreitung des Punktestandes der jeweiligen Eingriffsstufe und erneutem Erreichen dieser zu ergreifen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten des vorliegenden Verfahrens und des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes 4 B 3007/15 SN nebst den beigezogenen Verwaltungsvorgängen des Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der angegriffene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung [VwGO]).

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I. Rechtsgrundlage der Entziehung der Fahrerlaubnis ist § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG). Danach gilt ein Fahrerlaubnisinhaber als ungeeignet zum Führen eines Kraftfahrzeuges, wenn sich aus dem FAER in der Summe ein Punktestand von acht und mehr Punkten ergibt. Die Fahrerlaubnisbehörde hat die Fahrerlaubnis zwingend zu entziehen. Maßgebend ist dabei das mittlerweile in § 4 Abs. 2 Satz 3, Abs. 5 Satz 5 StVG geregelte Tattag-Prinzip. Dabei ist der Punktestand zum Zeitpunkt der letzten Tat maßgebend, wenn die Tilgungsfrist noch nicht abgelaufen ist; spätere Tilgungen bleiben unberücksichtigt (vgl. § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG).

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II. Die Voraussetzungen liegen im Fall des Klägers im Ergebnis vor. Nach dem im Tatbestand wiedergegeben Auszug aus dem FAER waren für den Kläger Verkehrsverstöße erfasst, die nach zutreffender Berechnung, nicht nur acht, sondern neun Punkte ergaben. Eine Reduzierung der Punkte ist nach Auffassung des Gerichts nicht vorzunehmen.

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Allerdings ist dem Kläger zuzugeben, dass der Beklagte die Ermittlung der maßgebenden Punkte im Hinblick auf die am 3. Dezember 2014 und am 4. März 2015 zu tilgenden Verkehrsverstöße (jeweils einen Punkt) unzutreffend durchgeführt hat. Dies führt aber nicht dazu, dass die Entziehung seiner Fahrerlaubnis rechtswidrig ist, insbesondere, dass er erneut hätte verwarnt werden müssen.

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1. Nach der Übergangsbestimmung des § 65 Abs. 3 Nr. 6 StVG führen nachträgliche Veränderungen des Punktestandes nach § 65 Abs. 3 Nr. 2 StVG (Ablaufhebung, Tilgungen, Löschungen von Entscheidungen) oder § 65 Abs. 3 Nr. 5 StVG (Punkteabzüge, Aufbauseminare) zu einer Aktualisierung der nach der Tabelle zu § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG erreichten Stufe im Fahreignungsbewertungssystem. Der Gesetzgeber wollte damit eine rückwirkende Veränderung der Punktesumme vor der Umstellung vom VZR auf das FAER erreichen, wie aus der Begründung des Gesetzesentwurfs (Bundestags-Drucksache 17/12636, S. 51) zur Umstellung auf das Fahreignungssystem zu ersehen ist:

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„Nummer 6 regelt Änderungen des Punktestandes auf Grund von Tilgungen nach Inkrafttreten des Gesetzes oder auf Grund von noch zu gewährenden Punkterabatten. Dabei handelt es sich um Punktereduzierungen, die nachträglich vorgenommen werden müssen. Das heißt: Auch wenn für den Betroffenen die Umstellung nach der Überführungstabelle bereits vorgenommen worden ist, muss nach Vorliegen der die Punktereduzierung rückwirkend auslösenden Umstände (Tilgung, Punkterabatt) die Umrechnung erneut vorgenommen werden. Für den Betroffenen wird also die Punktereduzierung in dem vor dem Inkrafttreten des Gesetzes bestehenden Rechensystem vollzogen und erst dann erneut die Überführung nach der in Nummer 4 geregelten Überführungstabelle vorgenommen. Dies führt zur Aktualisierung der Einstufung auf der Grundlage des nach der Überführungstabelle erreichten Punktestandes.“

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Ebenso Dauer, in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl. 2015, § 4 Rn. 66.

24

Demnach ist in jedem Fall der Tilgung von vor dem 30. April 2014 begangenen Verkehrsverstößen eine gesonderte Umrechnung unter Zuhilfenahme der Tabelle in § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG vorzunehmen, ohne dass dies allein zu einer Maßnahme der Fahrerlaubnisbehörde führt (vgl. § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 2 StVG). Sodann sind angesichts des Tattag-Prinzips die bis zum Tag der Löschung zwischenzeitlich auf Grund weiterer Verkehrsverstöße aufgelaufene Punkte hinzuzurechnen und zu prüfen, ob eine Maßnahme nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 bis 3 StVG angezeigt ist.

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2. Im Falle des Klägers ergibt sich demnach folgende Berechnung des maßgebenden Punktestandes:

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a) Bei der Berücksichtigung der ersten Tilgung (Tat vom 28. September 2009) am 3. Dezember 2014 ergab sich nach der genannten Tabelle bei (14-1 =) 13 Punkten im VZR ein Punktestand von 5 Punkten im FAER. Nunmehr waren die Verkehrsverstöße vom 22. März 2014 (ein Punkt) und vom 8. September 2014 (ein Punkt) hinzuzurechnen. Damit waren für den Kläger zum Zeitpunkt der ersten Löschung (5+2 =) 7 Punkte zu berücksichtigen, womit er im Bereich der Verwarnung nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG verblieb.

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b) Bei der Löschung der zweiten Tat (vom 17. November 2009) sank der Punktestand am 30. April 2014 von 13 auf 12 Punkte im VZR, was ebenfalls einem Punktestand von 5 Punkten im FAER entspricht. Hinzuzurechnen ist sodann neben den bereits aufgeführten beiden Punkten ein Punkt für den vor der Löschung am 21. Februar 2015 begangenen Verkehrsverstoß. Damit waren für den Kläger am 4. März 2015 Verkehrsverstöße mit einer Gesamtpunktzahl von (5+1+1+1 =) 8 Punkten registriert und bereits die Stufe der Entziehung der Fahrerlaubnis erreicht. Am 5. März 2015 beging der Kläger eine weitere mit einem Punkt bewertete Verkehrsordnungswidrigkeit, womit die Punktesumme sich von 8 auf 9 erhöhte.

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c) Die Rückrechnung wegen der beiden Löschungen nach Maßgabe des § 65 Abs. 3 Nr. 6 StVG konnte dem Kläger nach den geschilderten gesetzlichen Vorgaben nicht in der Weise zu Gute kommen, dass er - wie er meint - beim erneuten Punkteanstieg nochmals hätte verwarnt werden müssen. Vielmehr ist nach dem Tattag-Prinzip auf den Zeitpunkt der Tat abzustellen, die zum Erreichen der Eingriffsschwelle führt. Die Eingriffsschwelle des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG ist hier durch nachfolgende Verkehrsverstöße – wie oben ausgeführt - auch bei Rückrechnung erreicht worden, bevor die beiden Taten am 3. Dezember 2014 und 4. März 2015 getilgt worden sind.

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Vgl. zur Berechnung des Punktestandes auch Oberverwaltungsgericht für das Land Mecklenburg-Vorpommern (OVG M-V), Beschluss vom 16. Juli 2016 - 1 M 454/15, S. 3 f. im zugehörigen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes.

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Dass der Beklagte erst nach der Tat am 5. März 2015 mit der Entziehung der Fahrerlaubnis reagierte, weil er aufgrund seiner fehlerhaften Berechnung meinte, der Kläger habe erst jetzt die Schwelle überschritten, ist unschädlich, da es für diesen Fall keine den Punktestand reduzierende Sonderregelungen gibt. Demnach ist es im Zeitpunkt des hier maßgebenden Tattages (21. Februar 2015) zu keinem erneuten Durchschreiten der Verwarnungsstufe „von unten“

31

- Vgl. dazu etwa OVG M-V, Beschluss vom 21. Juni 2006 – 1 M 10/06 –, juris LS und Rn. 23 -

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gekommen, was eine Verwarnung durch den Beklagten nach neuem Recht erforderlich gemacht hätte. Solange die Maßnahmestufe nicht unterschritten wird, ist der nachfolgende Punkteanstieg für ein Ergreifen der jeweiligen Maßnahme unerheblich.

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III. Als Unterliegender hat der Kläger die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gemäß § 167 Abs. 2 VwGO sieht das Gericht von der Erklärung der vorläufigen Vollstreckbarkeit ab.

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