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| | Streitgegenstand und Sachverhalt |
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| | Der am xx.xx.1984 in Maskanah, Syrische Arabische Republik, geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger. Er wendet sich im vorliegenden Rechtsstreit gegen eine Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt), mit welcher dieses seinen Asylfolgeantrag als unzulässig abgelehnt und die zur Begründung des Folgeantrags vorgetragenen Umstände nicht näher geprüft hat. |
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| | Der Kläger verließ sein Heimatland eigenen Angaben zufolge im Jahr 2012, verblieb bis 2017 in Libyen und reiste noch in diesem Jahr über Italien und Österreich in die Bundesrepublik Deutschland ein. Dort stellte er am 26.07.2017 einen Asylantrag. Das Bundesamt hörte den Kläger am 01.08.2017 zur Zulässigkeit seines Asylantrags und zu seinen Fluchtgründen an. Dort gab er unter anderem an, dass er zwischen 2003 und 2005 seinen Wehrdienst geleistet habe. Er habe Syrien aus Angst davor verlassen, erneut zum Militärdienst einberufen oder inhaftiert zu werden, weil er den Dienst nicht angetreten habe. Nach seiner Ausreise aus Syrien habe ihm sein Vater mitgeteilt, dass eine Einberufung für ihn, den Kläger, eingegangen sei. |
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| | Das Bundesamt erkannte dem Kläger mit Entscheidung vom 16.08.2017 den subsidiären Schutzstatus zu. Den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lehnte das Bundesamt ab. Es begründete diese Entscheidung im Wesentlichen damit, dass er aus einem Gebiet stamme, in welchem mehrere Parteien, darunter die syrische Armee, die Freie Syrische Armee und der IS gegeneinander kämpften. Es sei nicht zu erkennen, dass es sich um ein Oppositionsgebiet handle, in welchem ausschließlich die syrische Armee Bombardierungen vornehme. Insofern sei nicht anzunehmen, dass der syrische Staat ihm deshalb eine oppositionelle Haltung unterstelle. Der Kläger habe ferner nicht substantiiert darlegen können, dass er im Fall der Rückkehr nach Syrien seinen Militärdienst bei der syrischen Armee ableisten müsse. Zum Zeitpunkt der Einberufung habe er nicht mehr in Syrien gewohnt, was dem Militär auch bekannt sein müsse. Insofern gelte er nicht als fahnenflüchtig, da er nicht im Zusammenhang mit der Einberufung aus Syrien ausgereist sei. Es sei nicht anzunehmen, dass ihn der syrische Staat allein deshalb als oppositionell eingestellte Person wahrnehme. In jedem Fall sei die Einberufung nicht der Grund für die Ausreise gewesen. Im Übrigen habe sich der Kläger auf die allgemeine Gefährdungslage aufgrund des Krieges in Syrien berufen. |
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| | Der Kläger erhob gegen diesen Bescheid keinen Rechtsbehelf, sodass dieser nach den nationalen Rechtsvorschriften unanfechtbar wurde. |
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| | Am 15.01.2021 stellte der Kläger beim Bundesamt einen Asylfolgeantrag. Im Kern stützte er seinen Antrag auf das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19.11.2020 in der Sache C-238/19 („EZ“). Er führte im Wesentlichen aus, dass dieses Urteil eine „Änderung der Rechtslage“ im Sinne der nationalen Rechtsvorschriften darstelle, weshalb das Bundesamt verpflichtet sei, seinen Asylfolgeantrag in der Sache zu prüfen. Die relevante Änderung der Rechtslage bestehe darin, dass das erwähnte Urteil eine günstigere Auslegung der Beweislastregelungen bei Asylanträgen vorsehe als sie von der nationalen Rechtsprechung vertreten werde. Wenn die Voraussetzungen von Art. 9 Abs. 2 lit. e) der Richtlinie 2011/95/EU vorlägen, dann bestünde bei syrischen Asylantragstellern, die sich auf Kriegsdienstverweigerung beriefen, eine gesetzliche Vermutung dafür, dass auch eine Verknüpfung zwischen drohender Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund bestehe. Deshalb müsse ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden. |
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| | Das Bundesamt sandte dem Kläger am 25.01.2021 unter anderem ein vorgefertigtes Formular zu, in welchem er seinen Asylfolgeantrag weiter hätte begründen können. Hiervon machte der Kläger keinen Gebrauch. |
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| | Das Bundesamt lehnte mit Entscheidung vom 22.03.2021 – das ist die dem hiesigen Rechtsstreit zugrundeliegende Entscheidung – den Asylfolgeantrag des Klägers als unzulässig ab. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19.11.2020 nicht dazu führe, dass es den Asylfolgeantrag in der Sache prüfen müsse. Soweit sich der Kläger zur Begründung seines Asylfolgeantrags lediglich auf dieses Urteil berufe, seien die Vorgaben der nationalen wie auch der unionsrechtlichen Vorschriften für eine erneute Prüfung seines Asylantrags nicht erfüllt. |
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| | Der Kläger hat gegen die Entscheidung des Bundesamtes vom 22.03.2021 fristgerecht Klage beim zuständigen Verwaltungsgericht Sigmaringen erhoben. Er verfolgt das Ziel, dass die Entscheidung vom 22.03.2021 aufgehoben wird und dass das Bundesamt ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkennt. |
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| | Am 22.02.2022 hat die mündliche Verhandlung beim Verwaltungsgericht Sigmaringen stattgefunden, in welcher das Gericht den Kläger angehört, die Sache mit den Beteiligten in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht besprochen und sodann beschlossen hat, die im Tenor aufgeführten Fragen dem Gerichtshof der Europäischen Union vorzulegen und das Verfahren auszusetzen. |
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| | I. Zur Systematik der Asylfolgeanträge |
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| | Das deutsche Asylverfahrensrecht sieht für alle Asylanträge zwei Prüfungsstufen vor. Die erste Stufe betrifft die Frage der Zulässigkeit des Antrags. Ist ein Asylantrag unzulässig, so muss das Bundesamt den Antrag und die vom Asylantragsteller vorgebrachten Gründe, warum er in seinem Heimatland Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden befürchtet, nicht weiter prüfen. Das Asylverfahren ist damit – vorbehaltlich einer etwaigen Nachprüfung durch das zuständige Verwaltungsgericht – abgeschlossen. Ist ein Antrag hingegen zulässig, so muss das Bundesamt im nächsten Schritt unter anderem darüber entscheiden, ob beim Asylantragsteller die Voraussetzungen für den internationalen Schutz vorliegen. |
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| | Die im vorgelegten Fall interessierende Frage, ob das Bundesamt den Asylfolgeantrag des Klägers zu Recht als unzulässig beschieden hat, betrifft damit die erste Stufe dieses Verfahrens. |
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| | Die wesentlichen Regelungen, welche die verfahrensrechtlichen und materiellen Vorschriften des Asylrechts betreffen, sind im Asylgesetz geregelt (in der maßgeblichen Fassung der Bekanntmachung vom 02.09.2008, BGBl. I S. 1798; zuletzt geändert durch Gesetz vom 09.07.2021, BGBl. I S. 2467; im Folgenden: AsylG). |
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| | Die Vorschrift des § 13 Abs. 2 Satz 1 AsylG sieht vor, dass ein Asylantrag die Prüfung umfasst, ob der Asylantragsteller sich – neben dem hier nicht erheblichen, durch das nationale Verfassungsrecht garantierte Grundrecht auf Asyl – auf internationalen Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU berufen kann: |
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| | (2) 1Mit jedem Asylantrag wird die Anerkennung als Asylberechtigter sowie internationaler Schutz im Sinne des § 1 Absatz 1 Nummer 2 beantragt. |
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| | (1) Dieses Gesetz gilt für Ausländer, die Folgendes beantragen: |
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| | 2. internationalen Schutz nach der Richtlinie 2011/95/EU […]; der internationale Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU umfasst den Schutz vor Verfolgung nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge […] und den subsidiären Schutz im Sinne der Richtlinie; der nach Maßgabe der Richtlinie 2004/83/EG […] gewährte internationale Schutz steht dem internationalen Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU gleich […]“ |
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| | In § 71 AsylG sind diejenigen Regelungen vorgesehen, welche bei Asylfolgeanträgen zur Anwendung kommen: |
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| | (1) 1Stellt der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag (Folgeantrag), so ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen […]“ |
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| | Die Vorschrift des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG enthält nicht die Voraussetzungen, wann ein Asylfolgeantrag zulässig ist oder nicht. Die Vorschrift verweist hierfür vielmehr auf § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (in der maßgeblichen Fassung der Bekanntmachung vom 23.01.2003, BGBl. I S. 102; zuletzt geändert durch Gesetz vom 25.06.2021, BGBl. I S. 2154; im Folgenden: VwVfG). Beim Verwaltungsverfahrensgesetz handelt es sich um eine Kodifikation, welche allgemeine Vorschriften für das Verwaltungsverfahren von Behörden enthält und im Grunde immer dann zur Anwendung kommt, wenn es für die jeweilige Rechtsmaterie keine spezielleren Vorgaben gibt oder – wie hier – die speziellen Vorschriften auf die allgemeinen Regelungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes verweisen. |
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| | Die Vorschrift des § 51 VwVfG, auf welche § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG verweist, regelt die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Person verlangen kann, dass die Behörde über die Abänderung oder Aufhebung einer unanfechtbaren Verwaltungsentscheidung entscheidet: |
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| | „§ 51 Wiederaufgreifen des Verfahrens |
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| | (1) Die Behörde hat auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden, wenn |
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| | 1. sich die dem Verwaltungsakt zugrundeliegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat; |
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| | 2. neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden; |
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| | 3. Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung gegeben sind. |
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| | (2) Der Antrag ist nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen. |
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| | (3) 1Der Antrag muss binnen drei Monaten gestellt werden. 2Die Frist beginnt mit dem Tage, an dem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erhalten hat. |
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| | „§ 29 Unzulässige Anträge |
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| | Ein Asylantrag ist unzulässig, wenn |
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| | 5. im Falle eines Folgeantrags nach § 71 […] ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. |
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| | Kommt das Bundesamt dagegen zum Ergebnis, dass die Voraussetzungen von § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG und § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG erfüllt sind, so prüft es ausgehend von den Gründen, die der Asylantragsteller vorgebracht hat, ob es die zuvor erlassene Entscheidung über den Asylantrag abändern muss. Das Bundesamt kann in diesem Fall durchaus zu dem Ergebnis kommen, dass die frühere Entscheidung trotz Berücksichtigung dieser Gründe nicht abgeändert wird. Das Bundesamt kann aber auch entscheiden, dass es die frühere Entscheidung abändert, was bezogen auf den hiesigen Fall bedeuten würde, dass es dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuerkennen würde. |
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| | In verfahrensrechtlicher Hinsicht verlangen die Vorschriften der § 29 Abs. 2 Satz 2, § 71 Abs. 3 AsylG, dass das Bundesamt dem Folgeantragsteller vor einer Entscheidung über die Zulässigkeit seines Folgeantrags Gelegenheit zur Stellungnahme gibt. Eine obligatorische mündliche Anhörung wie im Erstverfahren ist nicht vorgesehen. Vielmehr entscheidet das Bundesamt nach pflichtgemäßem Ermessen, ob eine solche mündliche Anhörung erforderlich ist. |
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| | „§ 29 Unzulässige Anträge |
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| | (2) […] 2Zu den Gründen nach Absatz 1 Nummer 5 gibt [das Bundesamt] dem Ausländer Gelegenheit zur Stellungnahme nach § 71 Absatz 3. |
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| | (3) 1In dem Folgeantrag hat der Ausländer seine Anschrift sowie die Tatsachen und Beweismittel anzugeben, aus denen sich das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes ergibt. 2Auf Verlangen hat der Ausländer diese Angaben schriftlich zu machen. 3Von einer Anhörung kann abgesehen werden. |
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| | II. Zur Auslegung der wesentlichen Vorschriften |
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| | Die überwiegende Rechtsprechung und das Schrifttum legt den Begriff der „Sachlage“ im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG dahingehend aus, dass darunter nur die tatsächlichen Grundlagen und Fakten einer Entscheidung fallen. Der Begriff der „Rechtslage“ wird dahingehend ausgelegt, dass hierunter nur Änderungen von Rechtsvorschriften fallen, also staatliche Akte, die eine verbindliche Regelung gegenüber einem unbestimmten Personenkreis aufweisen. Eine Änderung der einschlägigen Rechtsprechung – auch eine solche der obersten Gerichte, der Verfassungsgerichte, des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – soll nach dieser Auslegung unter keinen dieser Begriffe fallen. Dies wird damit begründet, dass gerichtliche Entscheidungen sich darin beschränken, die maßgeblichen Rechtsvorschriften in einem Rechtsstreit zwischen zwei Parteien anzuwenden. Eine Rechtsprechungsänderung bedeute lediglich, dass das Recht von Anfang an falsch angewandt worden sei. Das Recht als solches werde dadurch aber nicht verändert – auch wenn die Rechtspraxis sich faktisch an der Auslegung insbesondere durch die obergerichtliche Rechtsprechung orientiere (statt vieler BVerwG, Urteil vom 20.11.2018 – 1 C 23.17 [ECLI:DE:BVerwG:2018:201118U1C23.17.0] – Rn. 13; Kopp/Ramsauer, Kommentar zum VwVfG, 20. Auflage 2019, § 51 Rn. 29 ff.). |
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| | Im Bereich des Asylrechts gibt es eine besondere Fallkonstellation, in der eine Gerichtsentscheidung ausnahmsweise als „Änderung der Rechtslage“ anerkannt wird. |
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| | Hintergrund ist eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 08.10.1990 – 2 BvR 643/90 – juris). Der Fall hatte zum Gegenstand, dass der Betroffene nach erfolglosem Asylverfahren einen Asylfolgeantrag stellte. Die Behörde entschied, dass die Voraussetzungen für eine weitere Prüfung nicht vorlägen. Im gerichtlichen Verfahren berief sich der Betroffene unter anderem auf eine neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum nationalen Asylgrundrecht, die noch vor Erlass der behördlichen Entscheidung ergangen ist und möglicherweise zu seinen Gunsten hätte berücksichtigt werden können. |
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| | Hierzu ist anzumerken, dass nach der damaligen Rechtslage in Deutschland die asylrechtlichen Gewährleistungen ausschließlich über das Asylgrundrecht des damaligen Art. 16 des Grundgesetzes garantiert wurden. Das Bundesverfassungsgericht ist allein befugt, über den Umfang der Gewährleistungen des Asylgrundrechts zu entscheiden. Eine solche Entscheidung ist für alle staatlichen Organe bindend. |
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| | Das Verwaltungsgericht wies die Klage als „offensichtlich unbegründet“ ab, was unter anderem zur Folge hatte, dass es gegen die gerichtliche Entscheidung keinen ordentlichen Rechtsbehelf mehr gab. In seiner Begründung ging das Verwaltungsgericht nicht auf die vom Kläger ins Feld geführte Änderung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein. |
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| | Der betroffene Kläger erhob gegen das Urteil Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht. Dieses gab der Verfassungsbeschwerde mit der Begründung statt, dass das Verwaltungsgericht eine Ablehnung als „offensichtlich unbegründet“ nur dann hätte annehmen dürfen, wenn es sich mit der schon damals im Schrifttum vertretenen Ansicht auseinandergesetzt hätte, ob eine Änderung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch eine „Änderung der Rechtslage“ im Sinne der asylrechtlichen Vorschriften darstelle. Die vom Kläger in Bezug genommene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hätte vor diesem Hintergrund zu Gunsten des Klägers berücksichtigt werden können und einen Grund für einen Folgeantrag darstellen können. |
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| | Rechtsprechung und Schrifttum haben diese Entscheidung dahingehend rezipiert, dass Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Bedeutungsgehalt des verfassungsrechtlich garantierten Asylgrundrechts als „Änderung der Rechtslage“ gelten können (BVerwG, Beschluss vom 24.05.1995 – 1 B 60.95 – juris Rn. 5; Funke-Kaiser, in: Fritz/Vormeier, Gemeinschaftskommentar zum Asylgesetz, § 71 Rn. 228 ff.; Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Kommentar zum Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 71 AsylG Rn. 25; Dickten, in: Beck’scher Onlinekommentar zum Ausländerrecht, 31. Edition Stand 01.10.2021, § 71 AsylG Rn. 19). |
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| | III. Zum gerichtlichen Rechtsschutz gegen Unzulässigkeitsentscheidungen |
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| | 1. Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts |
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| | Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stellt eine Unzulässigkeitsentscheidung einen belastenden Verwaltungsakt dar, welcher mit einer verwaltungsgerichtlichen Anfechtungsklage anzugreifen ist (§ 42 Abs. 1 VwGO). Gibt das Verwaltungsgericht einer solchen Anfechtungsklage statt, dann führt das dazu, dass die angegriffene Behördenentscheidung aufgehoben wird (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). |
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| | (1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts (Anfechtungsklage) sowie die Verurteilung zum Erlass eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts (Verpflichtungsklage) begehrt werden. |
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| | (1) 1Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt […] auf. |
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| | Das Bundesverwaltungsgericht begründet seine Rechtsprechung im Wesentlichen damit, dass die Richtlinien 2005/85/EG und 2013/32/EU das behördliche Asylverfahren stärker betonten, dass diese Richtlinien spezielle Verfahrensgarantien und eine eigene Kategorie von unzulässigen Asylanträgen vorsähen, sodass sich hieraus eine mehrstufige Prüfung von Asylanträgen ergebe und sich dies im gerichtlichen Verfahren niederschlagen müsse (BVerwG, Urteil vom 14.12.2016 – 1 C 4.16 [ECLI:DE:BVerwG:2016:141216U1C4.16.0] – Rn. 16 ff.). Die Nachholung einer möglicherweise erforderlichen mündlichen Anhörung im gerichtlichen Verfahren könne die in der Richtlinie 2013/32/EU vorgesehenen Verfahrensgarantien nicht oder nur unzulänglich gewährleisten. Schwierigkeiten ergäben sich insbesondere daraus, dass das gerichtliche Verfahren grundsätzlich öffentlich stattfinde und der Grundsatz des gesetzlichen Richters es ausschließe, eine bestimmte Person mit bestimmten Eigenschaften als Richter zu bestimmen (in diesem Sinne BVerwG, Urteil vom 11.07.2018 – 1 C 18.17 [ECLI:DE:BVerwG:2018:110718U1C18.17.0] – Rn. 48 ff.). |
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| | Eine erfolgreiche Anfechtungsklage führt dazu, dass das Bundesamt das Verfahren automatisch – also ohne weiteren gerichtlichen Ausspruch – fortführen und eine neue Entscheidung treffen muss. Allein diese Prüfung ist mit zeitlichen Verzögerungen für den Asylfolgeantragsteller verbunden. Im Übrigen kann das Bundesamt zum Ergebnis kommen, dass auch im Fall einer Prüfung des Antrags in der Sache eine Änderung der ursprünglichen Entscheidung nicht in Betracht kommt. Diese Entscheidung kann der Asylfolgeantragsteller selbstverständlich erneut vom Verwaltungsgericht überprüfen lassen. Erst dann dürfte das Verwaltungsgericht prüfen, ob der Asylantragsteller Anspruch auf Zuerkennung internationalen Schutzes hat. |
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| | Vor diesem Hintergrund wäre es für einen Asylfolgeantragsteller effektiver, wenn er nicht nur die Unzulässigkeitsentscheidung aufheben lassen könnte, sondern wenn das Verwaltungsgericht die Behörde im Wege einer Verpflichtungsklage dazu verpflichten würde, dass die Behörde die vom Antragsteller begehrte Entscheidung – in diesem Beispiel die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – vornehmen müsste (§ 113 Abs. 5 VwGO). |
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| | (5) 1Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen […]“ |
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| | Eine solche Vorgehensweise ist den Verwaltungsgerichten ausgehend von der oben dargestellten Auslegung der Vorschriften des Prozess- und Asylrechts indes verwehrt. Konkret bedeutet das: Das Verwaltungsgericht darf die Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts nur darauf überprüfen, ob die Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG und § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Selbst wenn das Verwaltungsgericht überzeugt davon wäre, dass auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung internationalen Schutzes vorlägen, wäre es nach dem oben dargelegten Verständnis des Prozessrechts an einem solchen Ausspruch gehindert. |
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| | Unionsrechtlicher Rechtsrahmen |
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| | Die Richtlinie 2013/32/EU enthält in ihrem Art. 2 lit. q) eine Legaldefinition für den Begriff des Asylfolgeantrags. In ihren Art. 33, 34 und 40 bis 42 enthält sie verfahrensrechtliche und materiell-rechtliche Vorgaben, wie Folgeanträge zu behandeln sind. Art. 46 Abs. 1 lit. a) Nr. ii) der Richtlinie sieht vor, dass gegen Entscheidungen, einen Folgeantrag als unzulässig zu betrachten, ein wirksamer Rechtsbehelf vor einem Gericht zur Verfügung stehen muss. |
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| | II. Rechtsprechung des Gerichtshofs |
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| | Was die Auslegung der Begriffe „neue Elemente oder Erkenntnisse“ angeht, hat der Gerichtshof der Europäischen Union in der Rechtssache C-921/19 („Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid“) bereits ausgeführt, dass diese nicht näher von Art. 40 der Richtlinie 2013/32/EU präzisiert werden. |
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| | Der Gerichtshof der Europäischen Union hat sich in den Rechtssachen C-453/00 („Kühne & Heitz“), C-392/04 und C-422/04 („i-21 Germany und Arcor“) sowie C-2/06 („Kempter“) unabhängig von der Richtlinie 2013/32/EU zu den Voraussetzungen geäußert, wann der Betroffene einer unanfechtbaren Verwaltungsentscheidung gegenüber einer Behörde einen Anspruch darauf hat, dass diese Entscheidung im Fall ihrer Unionsrechtswidrigkeit abgeändert werden muss. |
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| | In den Rechtssachen C-924/19 PPU und C-925/19 PPU („Ungarische Transitzone“) hat der Gerichtshof diese Rechtsprechungslinie aufgegriffen und im Kontext des Asylrechts fortentwickelt. Der Gerichtshof entschied dabei unter anderem, dass in Fällen, in denen ein Asylantrag abgelehnt und diese Entscheidung durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung bestätigt wurde, bevor ihre Unionswidrigkeit festgestellt worden ist, die Asylbehörde nicht verpflichtet sei, den Asylantrag von Amts wegen erneut zu prüfen. Die Existenz eines Urteils des Gerichtshofs, mit dem die Unvereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Unionsrecht festgestellt wird, stelle eine neue Erkenntnis im Sinne von Art. 33 Abs. 2 lit. d) der Richtlinie 2013/32/EU dar. Im Übrigen sei diese Bestimmung auf einen Folgeantrag nicht anwendbar, wenn die Asylbehörde feststelle, dass die bestandskräftige Ablehnung des früheren Antrags unionsrechtswidrig sei. Dies gelte zwingend, wenn sich die Unionsrechtswidrigkeit der Ablehnung des früheren Antrags aus einem Urteil des Gerichtshofs ergebe oder von einem nationalen Gericht inzident festgestellt worden sei. |
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| | Der vorgelegte Fall unterscheidet sich von dem Fall in den Rechtssachen C-924/19 PPU und C-925/19 PPU dahingehend, dass der Kläger sich zur Begründung seines Asylfolgeantrags im Wesentlichen auf die Entscheidung des Gerichtshofs in der Sache C-238/19 beruft. Der Gerichtshof hat dort unter anderem ausgeführt, dass eine starke Vermutung dafür spreche, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 lit. b) der Richtlinie 2011/95/EU genannten Voraussetzungen mit einem der in Art. 10 der Richtlinie genannten Gründe in Zusammenhang stehe. Es sei Sache der zuständigen nationalen Behörden, in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände die Plausibilität dieser Verknüpfung zu prüfen. Diese Entscheidung enthält nach dem Verständnis des vorlegenden Gerichts – anders als in den Sachen C-924/19 PPU und C-925/19 PPU – nicht die Feststellung, dass bestimmte nationale Vorschriften unionsrechtswidrig sind. |
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| | In der Rechtssache C-18/20 („XY“) hat der Gerichtshof unter anderem entschieden, dass Art. 40 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32/EU es einem Mitgliedstaat, der keine Sondernormen zur Umsetzung dieser Bestimmung erlassen hat, nicht gestattet, in Anwendung der allgemeinen Vorschriften über das nationale Verwaltungsverfahren die Prüfung eines Folgeantrags in der Sache abzulehnen, wenn die neuen Elemente oder Erkenntnisse, auf die dieser Antrag gestützt wird, zur Zeit des Verfahrens über den früheren Antrag existierten und in diesem Verfahren durch Verschulden des Antragstellers nicht vorgebracht wurden. Der vorgelegte Fall unterscheidet sich von der zitierten Entscheidung insofern, als dieser nicht die Anwendung von Vorschriften betrifft, die eine Berücksichtigung des Vorbringens nur für den Fall vorsehen, dass der Folgeantragsteller das Vorbringen ohne Verschulden im vorherigen Verfahren geltend gemacht hat. Indes könnte der pauschale Verweis in § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG auf die Wiederaufnahmegründe in der allgemeinen Vorschrift in § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG mit Art. 40 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2013/32/EU unvereinbar sein, wenn die in Bezug genommenen Wiederaufnahmegründe in § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG im Verhältnis zu Art. 33 Abs. 2 lit. d) der Richtlinie 2013/32/EU zu eng gefasst sind. |
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| | 2. Gerichtlicher Rechtsschutz gegen Unzulässigkeitsentscheidungen |
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| | In der Rechtssache C-585/16 („Alheto“) hat der Gerichtshof im Kontext der Bestimmung des Art. 12 Abs. 1 lit. a) der Richtlinie 2011/95/EU betreffend den Ausschluss von staatenlosen Palästinensern von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unter anderem ausgeführt, dass es den Mitgliedstaaten freistehe, vorzusehen, dass im Anschluss an eine gerichtliche Nichtigerklärung einer Entscheidung der Asylbehörde über einen Antrag auf internationalen Schutz die Akte zur erneuten Entscheidung an dieses Organ zurückzusenden sei. Die dem Gericht obliegende umfassende Ex-nunc-Prüfung habe nicht zwingend eine inhaltliche Prüfung des Bedürfnisses nach internationalem Schutz zum Gegenstand und könne somit die Zulässigkeit des Antrags auf internationalen Schutz betreffen, wenn das nationale Recht dies gemäß Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU erlaube. Während das Recht des Antragstellers, zur Zulässigkeit seines Antrags gehört zu werden, bevor über ihn entschieden wird, im Verfahren vor der Asylbehörde durch die in Art. 34 der Richtlinie 2013/32 vorgesehene persönliche Anhörung garantiert werde, ergebe sich dieses Recht für das in Art. 46 der Richtlinie vorgesehene Rechtsbehelfsverfahren aus Art. 47 der Charta und werde erforderlichenfalls durch eine Anhörung des Antragstellers ausgeübt. |
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| | Der vorgelegte Fall unterscheidet sich darin, dass sich der Gerichtshof in der zitierten Entscheidung zu Unzulässigkeitsgründen nach Art. 33 Abs. 2 lit. b) und lit. c), nicht aber zu solchen nach Art. 33 Abs. 2 lit. d) der Richtlinie 2013/32/EU geäußert hat. In verfahrensrechtlicher Hinsicht unterscheiden sich Folgeanträge ferner dadurch, dass eine Anhörung von Folgeantragstellern gemäß Art. 34 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 3 der Richtlinie 2013/32/EU nicht zwingend erforderlich ist. Käme das Gericht nach eigener Prüfung zum Ergebnis, dass die Voraussetzungen für die Ablehnung des Asylfolgeantrags als unzulässig nicht vorliegen, und dürfte es auch über den Antrag auf internationalen Schutz entscheiden, so ist fraglich, ob das Gericht eine möglicherweise fehlende oder unzureichende Anhörung selbst durchführen darf oder diese Anhörung zwingend durch die Asylbehörde durchzuführen ist. In diesem Zusammenhang stellt sich dem vorlegenden Gericht insbesondere die Frage, welche Qualität eine vom Gericht durchzuführende Anhörung aufweisen muss, und zwar ob es die in Kapitel II der Richtlinie 2013/32/EU aufgeführten Verfahrensgarantien gewährleisten muss (vgl. insoweit bereits die Ausführungen des Gerichtshofs in der Rechtssache C-517/17 „Addis“ und hierauf BVerwG, Urteil vom 30.03.2021 – 1 C 41.20 [ECLI:DE:BVerwG:2021:300321U1C41.20.0]). Das kann dem Gericht möglicherweise von Rechts wegen unmöglich oder jedenfalls wesentlich erschwert sein. In diesem Fall liegt der Gedanke nahe, dass der Folgeantragsteller zwar nicht auf eine gerichtliche Anhörung, wohl aber auf die Einhaltung der besonderen Verfahrensgarantien verzichtet, die das Gericht nicht oder nur unzureichend gewährleisten kann. Mit anderen Worten stellt sich die Frage, ob die Einhaltung der Verfahrensgarantien in Kapitel II der Richtlinie 2013/32/EU disponibel sind. |
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| | III. Zweifel an der Auslegung des Unionsrechts |
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| | 1. Grundsätzliche Fragen zu Folgeanträgen |
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| | Das Gericht hat Zweifel, ob § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG mit den Vorgaben in Art. 33 Abs. 2 lit. d) und Art. 40 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU vereinbar ist. Eine Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union fällt nach der überwiegenden nationalen Rechtsprechung nicht unter den Tatbestand der Vorschrift (vgl. OVG Bremen, Beschluss vom 06.08.2021 – 1 LA 294/21 [ECLI:DE:OVGHB:2021:0806.1LA294.21.00] – Rn. 13; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 12.04.2021 – 14 A 818/19.A [ECLI:DE:OVGNRW:2021:0412.14A818.19A.00] – Rn. 67 ff.; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.12.2020 – A 4 S 4001/20 [ECLI:DE:VGHBW:2020:1222.A4S4001.20.00] – Rn. 14). |
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| | Der Gerichtshof hat aber bereits in den Rechtssachen C-924/19 PPU und C-925/19 PPU entschieden, dass dessen Entscheidungen – freilich nur unter bestimmten Voraussetzungen – als „neue Erkenntnis“ berücksichtigt werden müssen. Wenn der Gerichtshof damit zur Annahme kommt, dass seine Entscheidungen abstrakt betrachtet eine „neue Erkenntnis“ darstellen können, dann hält das vorlegende Gericht die insoweit ergangene nationale Rechtsprechung für zweifelhaft, wenn sie pauschal darauf verweist, dass Rechtsprechungsänderungen des Gerichtshofs bei Folgeanträgen nicht berücksichtigt werden können. |
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| | Da der Gesetzgeber den Wortlaut des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG als offen angesehen hat (Bundestags-Drucksache 7/910, S. 74 f., aufrufbar unter |
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| | https://dserver.bundestag.de/btd/07/009/0700910.pdf), erscheint eine unionsrechtskonforme Auslegung der Norm als methodisch denkbar. Folgt man insoweit jedoch der herrschenden Auffassung zur restriktiven Auslegung der Norm, so könnte sich ein Asylantragsteller nach derzeitiger nationaler Rechtslage allenfalls unmittelbar auf die Richtlinie 2013/32/EU berufen, um seine aus der Richtlinie folgenden Rechte gegenüber der Asylbehörde geltend zu machen. Die Regelung des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG wird als abschließend verstanden, sodass abgesehen von den Gründen in § 51 Abs. 1 VwVfG keine sonstigen Umstände zur Zulässigkeit eines Folgeantrags führen können. In diesem Fall drängt es sich nach Auffassung des vorlegenden Gerichts auf, dass die Vorschrift des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG die Vorgaben der Richtlinie nicht hinreichend umgesetzt hat und deshalb unionsrechtswidrig ist. |
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| | 2. Berücksichtigung von Urteilen des Gerichtshofs, die lediglich eine Auslegung des Unionsrechts enthalten |
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| | Unter Berücksichtigung der Vorgaben in den Sachen C-924/19 PPU und C-925/19 PPU ist es darüber hinaus zweifelhaft, inwieweit ein Urteil des Gerichtshofs, welches Aussagen über die Auslegung des Unionsrechts, nicht aber über die Unionsrechtswidrigkeit einer Vorschrift macht, unter die Begriffe „neues Element“ bzw. „neuer Umstand“ oder „neue Erkenntnis“ im Sinne der Art. 33 Abs. 2 lit. d) und Art. 40 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU fällt. Soweit eine Entscheidung des Gerichtshofs Rückschlüsse auf die zutreffende Anwendung des Unionsrechts zulässt und die frühere Entscheidungspraxis der nationalen Behörden und Gerichte dem entgegensteht, spricht nach Ansicht des vorlegenden Gerichts Vieles dafür, dass dem Folgeantragsteller eine neue Gelegenheit gegeben werden muss, damit sein Begehren im Hinblick auf diese neuen Erkenntnisse überprüft werden kann. Denn die Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof hat bei der Rechtsanwendung durch die Mitgliedstaaten faktisch die gleiche Wirkung wie der Erlass einer allgemeingültigen Regelung durch den Gesetzgeber, welche eine bereits erlassene Norm klarstellt oder ändert und deshalb zu einer günstigeren Entscheidung führen kann. |
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| | 3. Im Kontext der Entscheidung in der Sache C-238/19 |
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| | Die vorgenannten Erwägungen gelten im Konkreten für das Urteil in der Rechtssache C-238/19, welches wesentliche Aussagen zur Auslegung der für syrische Wehrdienstverweigerer maßgeblichen Vorschriften in Art. 9 Abs. 2 lit. b) und Art. 10 der Richtlinie 2011/95/EU enthält. Die genannte Entscheidung hat Bedeutung gewonnen, weil syrischen Staatsangehörigen nach derzeitiger nationaler Verwaltungs- und Rechtsprechungspraxis grundsätzlich der subsidiäre Schutzstatus, aber nur in sehr seltenen Fällen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird. Nach nationalem Recht bestehen zwischen den beiden Schutzformen auch erhebliche Unterschiede, so insbesondere im Hinblick auf die Länge des damit verknüpften Aufenthaltstitels, im Hinblick auf die Verfestigung des Aufenthalts der Schutzberechtigten und im Hinblick auf die Möglichkeit des Familiennachzugs. Viele syrische Staatsangehörige sehen sich daher veranlasst, im Fall einer Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus vor den zuständigen Verwaltungsgerichten auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu klagen. |
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| | Diese Situation spitzt sich weiter zu, weil die derzeit überwiegende nationale Rechtsprechung die in der Sache C-238/19 aufgestellte „starke Vermutung“ nicht als unwiderlegliche Vermutung oder starre Beweisregel versteht und ausgehend von einer umfassenden Bewertung der aktuellen Erkenntnislage zum Ergebnis kommt, dass diese „starke Vermutung“ bei syrischen Wehrdienstverweigerern widerlegt sei, sodass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ohne Hinzutreten konkreter und individueller gefahrerhöhender Umstände abgelehnt wird (statt vieler vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 10.03.2021 – 1 B 2.21 [ECLI:DE:BVerwG:2021:100321B1B2.21.0] – Rn. 10; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 18.08.2021 – A 3 S 271/19 [ECLI:DE:VGHBW:2021:0818.A3S271.19.00] – Rn. 30 ff.; andere Ansicht OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29.01.2021 – OVG 3 B 109/18 [ECLI:DE:OVGBEBB:2021:0129.OVG3B109.18.00] – Rn. 66 ff.). Im Schrifttum wird vertreten, dass die vom Gerichtshof postulierte „starke Vermutung“ entweder eine auf der Tatsachenebene bezogene Vermutung darstelle (vgl. etwa Pettersson, Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 19.11.2020 – C-238/19, Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 2021, 84, 87 f.) oder sogar eine Umkehr der Beweislast zugunsten des Asylsuchenden bewirke (Hruschka, Am Schutz orientiert, Verfassungsblog, 20.11.2020, aufrufbar unter https://verfassungsblog.de/am-schutz-orientiert). |
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| | Vor dem Hintergrund dieser Problematik hat das Gericht Zweifel, ob nationale Vorschriften, die das Urteil in der Rechtssache C-238/19 nicht als neue Erkenntnis eines Folgeantrags berücksichtigen, mit den Regelungen der Art. 33 Abs. 2 lit. d) und Art. 40 der Richtlinie 2013/32/EU vereinbar sind. In diesem Zusammenhang hält das vorlegende Gericht es für angezeigt, dem Gerichtshof die in der genannten Rechtssache entschiedene Auslegung des Unionsrechts – freilich im Kontext von Folgeanträgen – zur ergänzenden Klärung vorzulegen (vgl. Art. 104 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs). |
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| | 4. Gerichtlicher Rechtsschutz |
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| | Das Gericht hat Zweifel, ob nationale Vorschriften des Prozessrechts, die lediglich eine Aufhebung einer Unzulässigkeitsentscheidung bei Folgeanträgen vorsehen, einen wirksamen Rechtsbehelf im Sinne des Art. 46 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU darstellen. Diese Zweifel ergeben sich daraus, dass in den meisten Fällen von Folgeanträgen bereits im Erstverfahren eine den Garantien des Kapitels II der Richtlinie genügende Anhörung stattgefunden hat und im Folgeverfahren eine ausreichende Tatsachenbasis eingeholt wurde, sodass das Gericht in der Lage wäre, nicht nur über die Zulässigkeit des Antrags, sondern über den Antrag auf internationalen Schutz zu entscheiden. Vor dem Hintergrund des Ziels der Richtlinie 2013/32/EU, dass über die Anträge auf internationalen Schutz so rasch wie möglich entschieden wird (vgl. Erwägungsgrund 18), würde es die Sache deutlich verkomplizieren, wenn das Gericht die Unzulässigkeitsentscheidung lediglich aufheben und zur erneuten Entscheidung an die Asylbehörde zurückverweisen könnte. Denn in diesem Fall wäre die Asylbehörde auch nach Prüfung des Folgeantrags in der Sache befugt, es bei der ursprünglichen Entscheidung zu belassen. In Fällen wie dem hiesigen, in welchem alle Fakten ermittelt wurden, keine Verfahrensschritte mehr nachzuholen sind und rechtlich nur ein stark begrenztes Prüfungsprogramm im Raum steht – wird dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt oder nicht – erschiene eine derartige Verfahrensgestaltung ein erhebliches Hindernis bei der Verwirklichung der materiellen Rechte des Betroffenen. |
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| | In diesem Zusammenhang stellt sich dem vorlegenden Gericht für den Fall, dass es auch über den Antrag auf internationalen Schutz entscheiden kann, die Frage, ob eine gegebenenfalls erforderliche, aber noch nicht durchgeführte Anhörung des Betroffenen im Sinne der Art. 42 und 12 der Richtlinie 2013/32/EU im gerichtlichen Verfahren nachgeholt werden kann. Wie bereits oben ausgeführt, ist es einem Gericht nach den nationalen Vorschriften des Prozessrechts schwer bis nicht möglich, eine Anhörung so zu gestalten, dass alle der in Kapitel II der Richtlinie vorgesehenen Garantien eingehalten werden. Indes könnte ein Folgeantragsteller ein Interesse daran haben, dass im gerichtlichen Verfahren endgültig über seinen Asylantrag entschieden wird, ohne dass hierfür ein Verfahren bei der Asylbehörde durchgeführt werden müsste. Ein Verständnis der Verfahrensvorschriften, wonach eine Anhörung zwingend vor der Asylbehörde durchgeführt werden müsste, könnte demnach mit dem Grundsatz eines zügigen und effektiven gerichtlichen Rechtsbehelfs unvereinbar sein. |
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| | Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen |
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| | I. Zu Fragen 1a, 1b und 2 |
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| | Kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass Art. 33 Abs. 2 lit. d) und Art. 40 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU nationalen Regelungen nicht entgegenstehen, die einen Folgeantrag nur dann für zulässig erachten, wenn sich die der ursprünglichen Ablehnungsentscheidung zugrundeliegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zu Gunsten des Antragstellers geändert hat, so würde nach der dargestellten Auslegung der einschlägigen nationalen Vorschriften die Änderung der Rechtsprechung des Gerichtshofs, auf welche sich der Kläger allein beruft, von vornherein nicht unter den Tatbestand von § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG und § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG fallen, sodass die Klage abzuweisen wäre. |
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| | Beantwortet der Gerichtshof hingegen die Frage dahingehend, dass die genannten nationalen Vorschriften mit Art. 33 Abs. 2 lit. d) und Art. 40 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU unvereinbar sind, so würde sich dann die Frage stellen, ob Entscheidungen des Gerichtshofs, die sich lediglich zur Auslegung des Unionsrechts verhalten, grundsätzlich geeignet sind, damit ein Folgeantrag als zulässig behandelt wird. Verneint der Gerichtshof diese Frage, so würde gegebenenfalls auch eine unionsrechtskonforme Auslegung der Vorschriften der § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG und § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG dazu führen, dass der Kläger sich für die Zulässigkeit seines Folgeantrags nicht auf die Entscheidung des Gerichtshofs in der Sache C-238/19 berufen könnte. Die Klage wäre in diesem Fall abzuweisen. |
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| | Wenn der Gerichtshof die vorgenannte Frage dahingehend beantwortet, dass Entscheidungen, die sich auf eine Auslegung des Unionsrechts beschränken, grundsätzlich als neue Erkenntnis berücksichtigt werden können, so stellt sich schließlich die Frage, ob das Urteil des Gerichtshofs in der Sache C-238/19 auch im konkreten Fall eine solche neue Erkenntnis darstellt. Wird die Frage verneint, so ist die Klage entsprechend obiger Ausführungen abzuweisen. Wird die Frage bejaht, so würde sich der Folgeantrag des Klägers als zulässig erweisen, sodass der Klage jedenfalls insoweit stattzugeben wäre, als die Beklagte den Folgeantrag als unzulässig abgelehnt hat. |
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| | II. Zu Fragen 3a, 3b und 3c |
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| | Kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass Art. 46 Abs. 1 lit. a) Nr. ii) der Richtlinie 2013/32/EU dahingehend auszulegen ist, dass der gerichtliche Rechtsbehelf gegen eine Unzulässigkeitsentscheidung der Asylbehörde im Sinne der Art. 33 Abs. 2 lit. d) und Art. 40 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32/EU auf die Prüfung beschränkt ist, ob die Asylbehörde die Voraussetzungen dafür, ob der Asylfolgeantrag gemäß Art. 33 Abs. 2 lit. d) und Art. 40 Abs. 2 und Abs. 5 der Richtlinie 2013/32/EU als unzulässig betrachtet werden kann, zutreffend angenommen hat, dann müsste allein deshalb die Klage in dem Teil, in welchem die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beantragt wurde, abgewiesen werden. |
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| | Verneint der Gerichtshof diese Frage, so wäre das Gericht im Fall eines zulässigen Folgeantrags grundsätzlich nicht an einer Entscheidung gehindert, ob der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat. |
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| | Wenn der Gerichtshof in diesem Fall zum Ergebnis kommt, dass eine solche Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz voraussetzt, dass dem Kläger zuvor die besonderen Verfahrensgarantien gemäß Art. 40 Abs. 3 Satz 3 in Verbindung mit den Regelungen in Kapitel II der Richtlinie 2013/32/EU gewährt worden sein mussten und das Gericht ein solches Verfahren nicht selbst durchführen darf, so kann das vorlegende Gericht, wenn es zum Ergebnis kommt, dass ein solches Verfahren nach den Umständen des Einzelfalls erforderlich, aber unterblieben ist, die Beklagte allenfalls dazu verpflichten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts eine Entscheidung über den Asylantrag zu treffen und müsste die Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abweisen. Ist das nicht der Fall oder kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass der Kläger auf die genannten Verfahrensgarantien verzichten kann, dann kann das vorlegende Gericht unmittelbar über den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entscheiden. |
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