Beschluss vom Verwaltungsgericht Stuttgart - 10 K 2099/05

Tenor

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 28.6.2005 gegen die Verfügung des Antragsgegners vom 23.6.2005 wird angeordnet.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 2.500,-- EUR festgesetzt.

Gründe

 
Der Antragsteller begehrt sinngemäß die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs gegen die kraft Gesetzes sofort vollziehbare Verfügung des Antragsgegners vom 23.6.2005, durch die ihm die am 9.9.1993 ausgestellte Fahrerlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen der Klasse 1b und die am 24.8.1995 ausgestellte Fahrerlaubnis der Klassen 3, 4 und 5 entzogen wurden (Nr. 1) und der Antragsteller aufgefordert wurde, seinen Führerschein unverzüglich, spätestens jedoch bis zum 7.7.2005, beim Antragsgegner abzuliefern (Nr. 2).
Der Antrag ist zulässig (§ 80 Abs. 5 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO und § 4 Abs. 7 Satz 2 StVG) und begründet.
Die im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO zu treffende gerichtliche Entscheidung erfordert eine Interessenabwägung. Abzuwägen sind das private Interesse an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs und das gesetzlich vermutete besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes. Das Gewicht dieser gegenläufigen Interessen wird vor allem durch die summarisch zu prüfenden Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache, aber auch durch die voraussichtlichen Folgen des Suspensiveffekts einerseits und der sofortigen Vollziehung andererseits bestimmt. Bei der Abwägung auf Grund summarischer Erfolgsprüfung gilt nach ständiger Rechtsprechung, dass das Suspensivinteresse umso größeres Gewicht hat, je mehr der Rechtsbehelf Aussicht auf Erfolg hat, und dass umgekehrt das Vollzugsinteresse umso mehr Gewicht hat, je weniger Aussicht auf Erfolg der Rechtsbehelf hat (vgl. BVerwG, B.v. 12.11.1992, DÖV 1993, S. 432; s.a. VGH BW, B.v. 13.3.1997, VBlBW 1997, S. 390). Im vorliegenden Fall ist mit hoher Wahrscheinlichkeit vom Erfolg des Rechtsbehelfs in der Hauptsache auszugehen, da an der Rechtmäßigkeit der kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Anordnung des Antragsgegners ernstliche Zweifel bestehen.
Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG ist die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn der Inhaber der Fahrerlaubnis aufgrund des Erreichens von 18 oder mehr Punkten im Verkehrszentralregister als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen gilt. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg kommt es bei der Beurteilung, ob ein Fahrerlaubnisinhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen gilt, auf den Punktestand zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Verfügung an (vgl. B.v. 17.2.2005 -10 S 2875/04 -). Diese Voraussetzungen dürften hier nicht vorliegen.
Der Punktestand des Antragstellers dürfte zum Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung nicht 18 oder mehr Punkte betragen haben. Zwar ergeben die vom Antragsgegner in der Verfügung vom 23.6.2005 genannten und im Verkehrszentralregister eingetragenen Verkehrsverstöße einen Punktestand von 19 Punkten:
Tatzeit Rechtskraft Verkehrsverstoß Punkte
19.5.2000 5.9.2000 Missachtung eines Überholverbots 1
11.5.2000 28.9.2000 Ungenügender Sicherheitsabstand 4
21.6.2000 23.9.2000 Geschwindigkeitsüberschreitung 1
6.7.2001 30.8.2001 Geschwindigkeitsüberschreitung 3
6.8.2002 13.11.2002 Geschwindigkeitsüberschreitung 4
31.1.2004 25.2.2005 Geschwindigkeitsüberschreitung 3
13.3.2004 15.3.2005 Geschwindigkeitsüberschreitung 3
Die im Zeitraum vom 11.5.2000 bis 6.8.2002 begangenen Ordnungswidrigkeiten dürften dem Antragsteller aber zum Zeitpunkt des Erlasses der Entziehungsverfügung nicht mehr entgegengehalten werden können, da diese Ordnungswidrigkeiten im Dezember 2004 tilgungsreif gewesen sein dürften und durch die im Januar und März 2004 begangenen neuen Ordnungswidrigkeiten die Ablaufhemmung in Bezug auf die Tilgungsfristen für die ersten fünf Ordnungswidrigkeiten nicht erneut in Gang gesetzt worden sein dürfte.
Gemäß § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StVG beträgt die Tilgungsfrist für eine Ordnungswidrigkeit grundsätzlich 2 Jahre. Diese beginnt nach § 29 Abs. 4 Nr. 3 StVG bei gerichtlichen und verwaltungsbehördlichen Bußgeldentscheidungen sowie bei anderen Verwaltungsentscheidungen mit dem Tag der Rechtskraft oder Unanfechtbarkeit der beschwerenden Entscheidung. Der Ablauf der Tilgungsfrist wird in der Regel durch das Hinzutreten weiterer gemäß § 28 Abs. 3 Nr. 1 bis 9 StVG in das Register einzutragender Entscheidungen gehemmt (vgl. § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG).
Bei den vom Antragsgegner in der Verfügung vom 23.6.2005 genannten Eintragungen handelt es sich um rechtskräftige Entscheidungen wegen Ordnungswidrigkeiten, die jeweils mit einer Geldbuße von mindestens 40,-- EUR geahndet worden sind und in einem Fall zur Anordnung eines Fahrverbotes geführt haben (vgl. 28 Abs. 3 Nr. 3 StVG). Die Eintragungen bis einschließlich der Entscheidung vom 23.10.2001, die am 13.11.2002 rechtkräftig geworden ist, dürften auch die Hemmung der Tilgung der vorangegangenen Ordnungswidrigkeiten bewirkt haben, da die Rechtskraft der Entscheidungen jeweils innerhalb der zweijährigen Tilgungsfrist der vorangegangen Tat eingetreten sein dürfte.
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Dagegen dürften die Entscheidungen über die letzten beiden Ordnungswidrigkeiten vom 31.1.2004 und 13.3.2004 getilgt sein, da sie erst nach Ablauf der Tilgungsfrist der Ordnungswidrigkeit vom 6.8.2002 rechtkräftig geworden sein dürften. Die Tilgungsfrist der am 6.8.2002 begangenen Ordnungswidrigkeit dürfte am 12.11.2004 abgelaufen sein, da die Rechtskraft der beiden letzten im Bescheid des Antragsgegners genannten Ordnungswidrigkeiten erst am 25.2.2005 bzw. 15.3.2005 eingetreten ist.
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Nach § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG in der seit dem 1.2.2005 geltenden Fassung (Art. 11 und 14 des 1. Justizmodernisierungsgesetzes vom 24.8.2004, BGBl. S. 2198 ff) würden die weiteren Ordnungswidrigkeiten, die der Antragsteller am 31.1.2004 und 13.3.2004 begangen hat, zwar dazu führen, dass die Tilgung der im Zeitraum 2000 bis 2002 rechtskräftig gewordenen Entscheidungen weiter gehemmt würde. Diese Vorschrift bestimmt nämlich, dass die Ablaufhemmung auch dann eintritt, wenn eine neue Tat vor dem Ablauf der in Absatz 1 bestimmten Tilgungsfrist begangen wird und bis zum Ablauf der in Absatz 7 geregelten Überliegefrist zu einer weiteren Eintragung führt. Diese Voraussetzungen lägen hier vor. Die neuen Ordnungswidrigkeiten vom 31.1.2004 und 13.3.2004 sind vor Ablauf der Tilgungsfrist für die ersten fünf Ordnungswidrigkeiten begangen worden, da Tilgungsreife - erst - am 13.11.2004 eingetreten wäre (Rechtskraft der letzten Entscheidung am 13.11.2002). Zudem führten die Ordnungswidrigkeiten aus dem Jahr 2004 im März 2005 zu Eintragungen ins Verkehrszentralregister. Dieser Zeitpunkt läge innerhalb der nach neuer Fassung des § 29 Abs. 7 StVG geltenden einjährigen Überliegefrist; diese würde am 13.11.2005 ablaufen.
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Diese seit dem 1.2.2005 geltende neue Fassung des § 29 Abs. 6 Satz 2 und Abs. 7 StVG dürfte jedoch auf den vorliegenden Fall keine Anwendung finden (vgl. hierzu auch OVG Lüneburg, B.v. 6.7.2005 - 12 ME 221/05 -, BeckRS 2005 28363). Denn zum Zeitpunkt des Eintritts der Tilgungsreife der am 6.8.2002 begangenen Ordnungswidrigkeit, im Dezember 2004, war die Neuregelung noch nicht in Kraft getreten. Deshalb dürfte zur Frage der Tilgung noch die alte Fassung des § 29 StVG anzuwenden sein. Danach begann die Ablaufhemmung ebenso wie die Tilgungsreife mit Rechtskraft oder Unanfechtbarkeit einer Bußgeldentscheidung (§ 29 Abs. 4 Nr. 3 StVG a.F.). Die Ordnungswidrigkeiten von Januar und März 2004 konnten den Ablauf der Tilgungsfrist der Ordnungswidrigkeit vom 6.8.2002 im Dezember 2004 nicht hemmen, da die Entscheidungen hierüber erst im Februar bzw. März 2005 Rechtskraft erlangten. Damit dürfte zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der neuen Fassung des § 29 Abs. 4, 6 und 7 StVG im Februar 2005 hinsichtlich der ersten fünf Ordnungswidrigkeiten bereits Tilgungsreife eingetreten sein. Da eine entsprechende Übergangsregelung fehlt, dürfte die Neufassung des Gesetzes keine rückwirkende Anwendung auf den vorliegen Fall finden mit der Folge, dass für die bereits tilgungsreifen Taten die Tilgungsfrist wieder in Gang gesetzt würde (so wohl auch VGH BW, B.v. 4.4.2005 - 10 S 69/05 -). Es liegt auch kein mit der Änderung des § 65 Abs. 9 Satz 1 StVG durch Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 19.3.2001 (BGBl. I, S. 386) vergleichbarer Sonderfall vor, wonach die Wiederverwertbarkeit getilgter Eintragungen für bestimmte Fallkonstellationen eröffnet wurde, obwohl durch die vorherige Fassung des § 65 Abs. 9 StVG die Verwertbarkeit gerade beendet wurde (vgl. hierzu VGH BW, U.v. 29.7.2003 - 10 S 2316/02 -, VBlBW 2003, 475 = VRS 105, 463). Mit dieser Neuregelung des § 65 Abs. 9 Satz 1 StVG wurde eine ausfüllungsbedürftige Gesetzeslücke geschlossen. Dagegen enthielt die Vorschrift des § 29 Abs. 4, 6 und 7 StVG a.F. eine klare Regelung (vgl. VGH BW, B.v. 4.4.2005 - 10 S 69/05 -). Durch die Neuregelung soll ein Schwachpunkt der bisherigen Regelung beseitigt werden. Es soll verhindert werden, dass Rechtsbehelfe nur zu dem Zweck eingelegt werden, das Verfahren hinauszuzögern und auf diese Weise die Tilgung von Eintragungen im Verkehrszentralregister zu erreichen bzw. Maßnahmen nach dem Punktesystem des § 4 StVG zu verhindern (vgl. BT-Drs. 15/1508, S. 15, 36 f.). Das dürfte mit der Problematik der Übergangsregelung des § 65 Abs. 9 StVG nicht vergleichbar sein und die rückwirkende Wiederverwertbarkeit getilgter Eintragungen (vgl. dazu VGH BW, U.v. 29.7.2003 - 10 S 2316/02 -, a.a.O.) nicht rechtfertigen (so auch OVG Lüneburg, B.v. 6.7.2005 - 12 ME 221/05 -, a.a.O.).
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Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der Neufassung des § 29 Abs. 4 , 6 und 7 StVG die Überliegefrist von drei Monaten (vgl. § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG a.F.) noch nicht abgelaufen war. Ob die Neufassung insoweit Anwendung findet, d.h. sich die Überliegefrist nach § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG n.F. auf ein Jahr verlängert hat, ist nicht entscheidungserheblich. Denn die Überliegefrist hat keinen Einfluss auf die Tilgungsfrist bzw. Ablaufhemmung. Sie dient lediglich dem Zweck zu verhindern, dass eine Entscheidung aus dem Register entfernt wird, obwohl vor Eintritt der Tilgungsreife ein die Tilgung hemmendes Ereignis eingetreten ist, von dem die Registerbehörde noch keine Kenntnis erhalten hat. Eine Verwertung von Eintragungen ist jedoch während der Überliegefrist nicht mehr möglich.
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Aus diesen Gründen überwiegt das Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die Verfügung des Antragsgegners vom 23.6.2005 das Interesse der Allgemeinheit an einer sofortigen Vollziehung der Verfügung.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts auf §§ 63 Abs. 2 S. 1, 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG n.F..

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