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I. Die Antragsteller sind Eigentümer des Grundstücks Vogelsangstr. 8 in Oberboihingen, die Beigeladenen Eigentümer des nach Südosten angrenzenden Grundstücks Vogelsangstr. 8/1. Beide Grundstücke sind mit je einer - an der gemeinsamen Grenze um 2,30 m versetzten - Doppelhaushälfte bebaut. Auf dem Grundstück der Beigeladenen befindet sich ferner ein sich an die Außenwand des Gebäudes der Antragsteller anschließendes ca. 1,75 m hohes und 2,5 m langes Sichtschutzelement im Bereich der dort vorhandenen Terrasse.
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Die Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans „In der langen Steige/Warnenberg/Haugennest“ der Gemeinde Oberboihingen vom 16.12.1971, der in seinem Textteil auch bauordnungsrechtliche Regelungen enthält. Nach Ziff. II 2.3 dieser Regelungen sind Hecken und Zäune im Plangebiet nur bis max. 1,00 m Höhe zulässig.
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Mit Schreiben vom 10.3.2005 teilten die Beigeladenen dem Landratsamt Esslingen ihre Absicht mit, entlang der Grenze zum Grundstück der Antragsteller einen 1,6 m hohen (Sichtschutz-) Zaun zu errichten, und beantragten, für dieses Vorhaben eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans zu erteilen. Mit Bescheid vom 28.6.2005 gab das Landratsamt dem Antrag mit der Maßgabe statt, dass der bestehende Sichtschutz im Bereich der Terrasse auf einer Länge von 3,90 m mit einer Höhe von 1,50 m verlängert werden dürfe; im Übrigen dürfe die Einfriedigung entsprechend den Regelungen des Bebauungsplans höchstens 1,00 m betragen. Gegen diese Entscheidung legten die Antragsteller am 11.7.2005 Widerspruch ein, über den bisher nicht entschieden wurde.
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Mit ihren am 21.7.2005 gestellten Anträgen begehren die Antragsteller, die aufschiebende Wirkung ihrer Widersprüche anzuordnen. Sie halten die den Beigeladenen erteilte Befreiung für rechtswidrig, weil die Errichtung einer insgesamt 6,4 m langen Sichtschutzwand Grundzüge der Planung berühre. Von einer derartigen Einfriedigung gehe außerdem eine erdrückende Wirkung aus. Der Antragsgegner und die Beigeladenen sind den Anträgen entgegen getreten.
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II. Die Anträge sind zulässig. Nach § 212 a BauGB haben Widerspruch und Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens keine aufschiebende Wirkung. Den Begriff der bauaufsichtlichen Zulassung ist nach Sinn und Zweck der Vorschrift als Oberbegriff für alle präventiven baurechtlichen Kontrollerlaubnisse zu verstehen. § 212 a BauGB findet daher auch auf isolierte Ausnahmen und Befreiungen Anwendung, die für genehmigungsfreie Vorhaben erteilt werden (VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 9.3.1995 - 3 S 3321/94 - NVwZ-RR 1995, 489 zu § 10 Abs. 2 BauGBMaßnahmenG; Kalb in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, § 212a Rn. 26; Jäde in Jäde/Dirnberger/Weiß, BauGB, 4. Aufl., § 212a Rn. 2).
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Die Anträge haben auch in der Sache Erfolg. Ob das Gericht in den Fällen des § 212 a BauGB von der Möglichkeit, die aufschiebende Wirkung des von dem Dritten eingelegten Rechtsbehelfs anzuordnen, Gebrauch macht, hängt von dem Ergebnis einer Abwägung ab, bei der das Interesse des Dritten, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern, dem Interesse des Bauherrn, mit seinem Vorhaben schon vor einer Entscheidung über den eingelegten Rechtsbehelf beginnen zu können, gegenüber zu stellen ist. Dem Interesse der Antragsteller kommt dabei im vorliegenden Fall der Vorrang zu, da die Erfolgsaussichten der von ihnen eingelegten Widersprüche zum gegenwärtigen Zeitpunkt als offen erscheinen und den Beigeladenen durch ein Zuwarten mit der Durchführung ihres Vorhabens keine wesentlichen Nachteile drohen.
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1. Die Widersprüche der Antragsteller richten sich gegen die Entscheidung des Landratsamts Esslingen, den Beigeladenen für die geplante Errichtung eines Sichtschutzzauns an der Grenze zum Grundstück der Antragsteller eine Befreiung von der Festsetzung des Bebauungsplans zu erteilen, die die Errichtung von Hecken und Zäunen mit einer Höhe von mehr als 1,00 m verbietet. Das Landratsamt ist dabei zu Recht von der Rechtmäßigkeit dieser dem Vorhaben der Beigeladenen entgegen stehenden Festsetzung des Bebauungsplans ausgegangen.
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Bei der betreffenden Festsetzung handelt es sich um eine bauordnungsrechtliche Regelung, deren Rechtmäßigkeit an Hand des § 111 Abs. 1 LBO in ihrer Fassung durch das Gesetz vom 11.4.1972 (LBO 1972) zu beurteilen ist. Zwar hat die Gemeinde den Bebauungsplan bereits am 16.12.1971 und somit noch unter der Geltung der LBO in ihrer ursprünglichen Fassung vom 6.4.1964 als Satzung beschlossen. Der Bebauungsplan ist jedoch gemäß § 12 BBauG 1960 erst mit der am 27.4.1972 erfolgten Bekanntmachung der - am 18.4.1972 erteilten - Genehmigung in Kraft getreten. Art. 5 des Änderungsgesetzes vom 11.4.1972 bestimmte, dass diejenigen Vorschriften, die zum Erlass von Rechtsverordnungen oder Satzungen ermächtigen, bereits am Tag nach der Verkündung (14.4.1972) und nicht erst, wie die übrigen Rechtsänderungen, am 1.7.1972 in Kraft treten. Im Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Bebauungsplans galt somit § 111 LBO bereits in seiner Fassung durch das Gesetz vom 11.4.1972.
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Dieser Umstand ist deshalb von Bedeutung, weil die zuvor geltende Fassung dieser Vorschrift die Gemeinden zum Erlass örtlicher Bauvorschriften nur „im Rahmen des § 3 (LBO)“ ermächtigte. Diese Einschränkung wurde vom VGH Baden-Württemberg (vgl. Urt. v. 27.6.1974 - III 193/73 - BRS 28 Nr. 80 m.w.N.) in ständiger Rechtsprechung dahin verstanden, dass auf § 111 LBO 1964 gestützte Satzungen nur zur Abwehr von Verunstaltungen erlassen werden durften. Dieser Forderung wird mit der von der Gemeinde Oberboihingen getroffenen Festsetzung nicht genügt, da Hecken und Zäune mit einer Höhe von mehr als 1,0 m weder generell noch typischerweise eine Verunstaltung ihrer Umgebung darstellen. Mit der im Zeitpunkt des Satzungsbeschlusses noch geltenden Fassung des § 111 Abs. 1 LBO wäre die getroffene Regelung dementsprechend nicht zu vereinbaren. Mit dem Gesetz vom 11.4.1972 hat der Gesetzgeber jedoch die Worte „im Rahmen des § 3“ in § 111 LBO gestrichen und sie durch die Formulierung „im Rahmen dieses Gesetzes“ ersetzt. Er hat es den Gemeinden damit ermöglicht, auch örtliche Bauvorschriften zu erlassen, die über die bloße Abwehr von Verunstaltungen hinausgehende (positive) gestalterische Anforderungen stellen (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 4.5.1998 - 8 S 159/98 - NVwZ-RR 1998, 622; Beschl. v. 26.8.1982 - 5 S 858/82 - VBlBW 1983, 179). Gegen die Vereinbarkeit der hier in Rede stehenden Regelung mit § 111 LBO 1972 bestehen danach keine Bedenken.
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Um ihr - gemäß Nr. 45 des Anhangs zu § 50 LBO genehmigungsfreies - Vorhaben verwirklichen zu können, benötigen die Beigeladenen somit eine Befreiung von der betreffenden Festsetzung des Bebauungsplans, wovon auch sie selbst sowie der Antragsgegner ausgehen. Das Landratsamt hat die Zulässigkeit einer solchen Befreiung an Hand des § 31 Abs. 2 BauGB beurteilt. Diese Vorschrift ist jedoch im vorliegenden Fall nicht anwendbar. Zwar ermächtigte § 111 LBO bereits in seiner Fassung durch das Gesetz vom 11.4.1972 die Gemeinden, örtliche Bauvorschriften zusammen mit einem Bebauungsplan zu erlassen. Die Aufnahme von örtlichen Bauvorschriften in einen Bebauungsplan lässt jedoch deren Charakter als Normen des Bauordnungsrechts unberührt (BVerwG, Urt. v. 16.3.1995 - 4 C 3.94 - NVwZ 1995, 899). Die Zulässigkeit von Ausnahmen und Befreiungen von solchen Vorschriften richtet sich daher im Grundsatz nach den entsprechenden bauordnungsrechtlichen Vorschriften (vgl. OVG NW, Urt. v. 25.8.1999 - 7 A 4459/96 -BauR 2000, 250). Nach § 9 Abs. 4 BauGB können die Länder allerdings bestimmen, dass auf die in den Bebauungsplan aufgenommenen landesrechtlichen Regelungen die Vorschriften des BauGB Anwendung finden (ebenso schon § 9 Abs. 4 BBauG 1977). Eine solche Regelung hat der Landesgesetzgeber jedoch erst mit dem Gesetz vom 21.6.1977 (GBl. S. 266) getroffen (vgl. § 111 Abs. 6 S. 2 LBO 1977). Was die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes erlassenen örtlichen Bauvorschriften betrifft, ist die Zulässigkeit von Ausnahmen und Befreiungen deshalb nicht nach § 31 BauGB, sondern nach § 56 LBO zu beurteilen. Die vom Landratsamt ausgesprochene Befreiung dürfte hiervon ausgehend rechtswidrig sein, da nach § 56 Abs. 5 LBO nur dann eine Befreiung erteilt werden kann, wenn Gründe des allgemeinen Wohls die Abweichung erfordern oder die Einhaltung der Vorschrift im Einzelfall zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führt. Für das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist im vorliegenden Fall nichts zu erkennen.
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Ob die von den Antragstellern eingelegten Widersprüche gegen die vom Landratsamt erteilte Befreiung Erfolg haben, hängt jedoch nicht allein von der objektiven Rechtswidrigkeit der Befreiung ab, sondern auch davon, ob sie durch diese Entscheidung - deren Rechtswidrigkeit unterstellt - in ihren subjektiven Rechten verletzt werden. Diese Frage erscheint derzeit offen. Für eine nachbarschützende Wirkung der betreffenden Festsetzung des Bebauungsplans sieht die Kammer allerdings keine Anhaltspunkte. Weder der Begründung des Bebauungsplans noch den vom Landratsamt vorgelegten Akten ist etwas dafür zu entnehmen, dass das Verbot, Hecken und Zäune mit einer Höhe von mehr als 1,00 m zu errichten, nicht nur aus gestalterischen Gründen sondern auch zum Schutz der jeweiligen Grundstücksnachbarn in den Bebauungsplan aufgenommen wurde. Das schließt jedoch nicht aus, dass die von der Festsetzung erteilte Befreiung die Antragsteller in ihren Rechten verletzt, da § 56 Abs. 5 LBO ebenso wie § 31 Abs. 2 BauGB eine Würdigung der nachbarlichen Interessen verlangt, und zwar unabhängig davon, ob die Vorschrift, von der befreit werden soll, dem Schutz der Nachbarn zu dienen bestimmt ist oder nur den Schutz der Allgemeinheit bezweckt (vgl. BVerwG, Urt. v. 19. 9.1986 - 4 C 8.84 - NVwZ 1987, 409 zu § 31 Abs. 2 BauGB; a. M. Sauter, LBO, 3. Aufl., § 56 Rn. 54). Mit diesem Gebot hat § 56 Abs. 5 LBO ebenso wie § 31 Abs. 2 BauGB drittschützende Wirkung. Eine Befreiung von einer als solcher nicht nachbarschützenden Vorschrift verletzt den Nachbarn folglich dann in seinen Rechten, wenn die Behörde bei ihrer Entscheidung nicht die gebotene Rücksicht auf die Interessen des Nachbarn genommen hat. Ob dies der Fall ist, ist an Hand einer Abwägung des Interesses des Bauherrn an der Erteilung der Befreiung mit dem Interesse des Nachbarn an der Einhaltung der betreffenden Vorschrift zu bestimmen (BVerwG, Urt. v. 19. 9.1986, a.a.O.). Dabei gilt, dass der Nachbar um so mehr an Rücksichtnahme verlangen kann, je empfindlicher seine Stellung durch die Abweichung von der Vorschrift berührt werden kann. Umgekehrt braucht derjenige, der die Befreiung in Anspruch nehmen will, um so weniger Rücksicht zu nehmen, je verständlicher und unabweisbarer die von ihm verfolgten Interessen sind.
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Ob die angefochtene Befreiung die Rechte der Antragsteller verletzt, lässt sich danach zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht abschließend beurteilen. Entgegen der Ansicht des Landratsamts lässt sich ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot nicht schon mit der Begründung verneinen, dass das Vorhaben der Beigeladenen in bauordnungsrechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden ist. Zwar scheidet ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebots regelmäßig aus, soweit die durch dieses Gebot geschützten Belange auch durch spezielle bauordnungsrechtliche Vorschriften geschützt werden und das konkrete Vorhaben den Anforderungen dieser Vorschriften genügt (BVerwG, Urt. v. 7.12.2000 - 4 C 3.00 -NVwZ 2001, 813; Beschl. v. 11.1.1999 - 4 B 128.98 - NVwZ 1999, 879). Diese Regel ist jedoch gegenüber Abweichungen im Einzelfall offen. In Betracht zu ziehen ist eine solche Ausnahme insbesondere für bauliche Anlagen, die nach den Vorschriften der LBO zulässigerweise an der Grenze errichtet werden dürfen, da auch solche Anlagen im Einzelfall zu unzumutbaren Ergebnissen führen können, nämlich etwa dann, wenn sie in dem besonders sensiblen Gartenbereich einer Reihen- oder Doppelhausbebauung errichtet werden sollen (VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 2.3.1998 - 8 S 535/98 - NVwZ-RR 1998, 551; Beschl. v. 14.8.1997 - 5 S 1252/96 - BauR 1998, 517). Ein solcher Fall könnte hier gegeben sein.
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Zusammen mit dem bereits vorhandenen Sichtschutzelement erreicht der geplante, 1,5 m hohe Sichtschutzzaun eine Länge von 6,4 m und erstreckt sich damit aus der Sicht der Antragsteller auf mehr als drei Viertel der gemeinsamen Grenze im rückwärtigen Bereich ihres Grundstücks, das über eine Breite von nur 8,88 m verfügt. Von dem Vorhaben der Beigeladenen geht daher eine nicht unerhebliche einengende Wirkung auf das Grundstück der Antragsteller aus. Auf der anderen Seite ist gerade bei mit Reihen- oder Doppelhäusern bebauten Grundstücken ein berechtigtes Interesse des Grundstückseigentümers anzuerkennen, sich gegen unerwünschte Einsichtsmöglichkeiten zu schützen, soweit hiervon die dem Wohnen dienenden Räume oder die diesen vorgelagerten oder zugeordneten Außenwohnbereiche wie Terrassen oder Balkone betroffen sind. Da die Gebäude der Antragsteller und der Beigeladenen versetzt zueinander angeordnet sind, ist jedoch nicht auszuschließen, dass ein insgesamt 6,4 m langer, 1,5 m hoher Sichtschutzzaun über das hinausgeht, was von den Beigeladenen unter diesem Aspekt im Interesse eines ungestörten Aufenthalts auf der im rückwärtigen Bereich ihres Wohnhauses befindlichen Terrasse auch mit Rücksicht auf ihre Nachbarn billigerweise beansprucht werden kann. Eine verlässliche Beurteilung dieser Frage ist jedoch ohne eine eigene Anschauung der örtlichen Situation nicht möglich und muss daher einem sich ggf. anschließenden Hauptsacheverfahren vorbehalten werden.
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2. Ein dringendes Interesse der Beigeladenen, ihr Vorhaben schon vor einer Entscheidung über die Widersprüche der Antragsteller durchzuführen, ist weder geltend gemacht noch sonst zu erkennen. Angesichts der offenen Erfolgsaussichten der Widersprüche hält die Kammer es daher den Beigeladenen für eher zumutbar, mit der Verwirklichung ihres Vorhabens zuzuwarten, als den Antragsteller eine vorläufige Hinnahme der mit dem Vorhaben verbundenen nachteiligen Auswirkungen anzusinnen.
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