Beschluss vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - 10 S 2821/03

Tenor

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 08. Dezember 2003 - 2 K 1918/03 - wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 4.000,- EUR festgesetzt.

Gründe

 
Die Beschwerde ist zulässig, aber nicht begründet. Nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO ist der Prüfungsumfang des Beschwerdegerichts bei Beschwerden gegen Beschlüsse des Verwaltungsgerichts in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes beschränkt. Danach prüft der Verwaltungsgerichtshof nur die in einer rechtzeitig eingegangenen Beschwerdebegründung dargelegten Gründe. Auf dieser Grundlage hat die Beschwerde keinen Erfolg. Die in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe führen nicht dazu, dass entgegen dem Beschluss des Verwaltungsgerichts die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die kraft Gesetzes sofort vollziehbare Entscheidung des Landratsamtes Ravensburg (§ 4 Abs. 7 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG) vom 23.10.2003 anzuordnen ist. Auch bei einer Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO hat das Gericht eine Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der Verfügung und dem Interesse des Betroffenen, bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens vor Vollzugsmaßnahmen verschont zu bleiben, vorzunehmen, bei der aber die gesetzgeberische Entscheidung für den grundsätzlichen Vorrang des Vollzugsinteresses zu beachten ist (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 12. Aufl., § 80, Rn. 114, Rn. 152 m.w.Nachw.). In den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1-3 VwGO bedarf es deshalb des Vorliegens besonderer Umstände, um abweichend von der gesetzgeberischen Entscheidung für eine sofortige Vollziehung des Verwaltungsakts eine Aussetzung zu rechtfertigen. Solche liegen aber nicht vor. Die in Ziff. 1 der Entscheidung vom 23.10.2003 auf der Grundlage des § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG verfügte Entziehung der Fahrerlaubnis der Klassen 2 bis 5 ist nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung rechtmäßig. Gründe, die trotz der Annahme der Rechtmäßigkeit der Entziehungsverfügung für eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs sprechen, sind nicht ersichtlich.
Ebenso wie das Verwaltungsgericht geht der Senat davon aus, dass hinsichtlich des Antragstellers die Voraussetzungen des § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG gegeben sind, wonach bei einem Punktestand von 18 oder mehr der Betroffene als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen gilt und die Verkehrsbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen hat. Im Hinblick auf die frühere Entziehungsverfügung des Landratsamtes Ravensburg vom 05.09.2000 kommt die Anwendung der Regelung des § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG nicht in Betracht, obwohl diese Verfügung wirksam und infolge der Anordnung des Sofortvollzugs auch vollziehbar war. Nach dieser Bestimmung werden in den Fällen der Entziehung der Fahrerlaubnis oder der Anordnung einer Sperre (§ 69a Abs. 1 Satz 3 StGB) die Punkte für die vor dieser Entscheidung begangenen Zuwiderhandlungen gelöscht. Der Anwendung dieser Löschungsbestimmung im Hinblick auf die Entziehungsverfügung vom 05.09.2000 steht zunächst entgegen, dass dem Antragsteller durch diese Verfügung die Fahrerlaubnis nicht in vollem Umfang entzogen worden ist. Denn die Entziehung war auf die Fahrerlaubnis der Klasse 2 beschränkt; die Fahrerlaubnis der Klassen 3 bis 5 war hiervon ausdrücklich ausgenommen. Im Verkehrszentralregister werden die Punkte aber nicht nach den Fahrerlaubnisklassen getrennt geführt, so dass eine Löschung von Punkten im Hinblick auf die Entziehung der Fahrerlaubnis Klasse 2 ausgeschlossen ist.
Die Anwendung des § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG ist aber in erster Linie deshalb ausgeschlossen, weil diese Vorschrift nur den Fall einer tatsächlich auch vollzogenen Entziehung der Fahrerlaubnis und des Ablaufs einer Frist von sechs Monaten nach Ablieferung des Führerscheins vor Neuerteilung einer Fahrerlaubnis erfasst. Diese Voraussetzungen sind hinsichtlich der Entscheidung des Landratsamtes Ravensburg vom 05.09.2000 nicht erfüllt. Denn das Landratsamt hat diese Verfügung im Widerspruchsverfahren mit Verfügung vom 11.01.2001 wieder aufgehoben, nachdem der Antragsteller das von der Behörde geforderte medizinisch-psychologische Gutachten und einen Schulungsnachweis erbracht hatte. Die Auslegung, dass die Löschungsbestimmung des § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG nicht den hier vorliegenden Fall einer zunächst wirksamen und auch vollziehbaren, im Verwaltungsverfahren aber wieder aufgehobenen Entziehungsverfügung erfasst, ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus dem Wortlaut der Norm. Denn dieser stellt neben der Anordnung einer Sperre nach § 69a Abs. 1 Satz 3 StGB allein auf die Entziehung der Fahrerlaubnis ab. Eine solche ist aber durch die später aufgehobene Entscheidung vom 05.09.2000 im Hinblick auf die Fahrerlaubnis der Klasse 2 wirksam und vollziehbar verfügt worden. Bereits mit Bekanntgabe dieser Entscheidung und nicht erst mit dem Eintritt ihrer Bestandskraft war die Fahrerlaubnis des Antragstellers (Klasse 2) erloschen (ungenau Lütkes/Meier/Wagner/Emmerich, Straßenverkehr, § 4 StVG, Rn. 81). Die vom Senat vorgenommene Auslegung des § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG ergibt sich vielmehr aus dem systematischen Zusammenhang mit anderen Bestimmungen des § 4 StVG, insbesondere Absatz 10 Sätze 1 und 2, wonach eine neue Fahrerlaubnis frühestens sechs Monate nach Wirksamkeit der Entziehung nach Absatz 3 Satz 1 Nr. 3 erteilt werden darf und diese Frist mit der Ablieferung des Führerscheins beginnt. Diese Vorschrift bezieht sich damit ausdrücklich auf die hier gegebene Entziehung nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG. Der Regelung des § 4 Abs. 10 StVG ist zu entnehmen, dass der Gesetzgeber unter einer im Hinblick auf den Punktestand (18 oder mehr) erfolgten Entziehung der Fahrerlaubnis nur eine tatsächlich auch vollzogene und mit einer anschließenden Sperre von sechs Monaten für die Neuerteilung der Fahrerlaubnis verbundene Entziehung versteht. Nur wenn der Betreffende den Führerschein, das äußere Kennzeichen der Fahrerlaubnis, abgegeben hat und er wegen der Bestandskraft der Entziehungsverfügung zumindest für die Dauer von sechs Monaten endgültig nicht im Besitz einer Fahrerlaubnis war, soll er in den Genuss der Löschungsbestimmung kommen und ihm ein von Punkten i.S.v. § 4 StVG unbelasteter Neubeginn ermöglicht werden. Auch der von § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG erfasste Fall der Anordnung einer Sperre nach § 69a Abs. 1 Satz 3 StGB spricht dafür, dass die Löschungsbestimmung nur nach Ablauf einer wirksamen Sperrfrist von mindestens sechs Monaten Anwendung finden soll.
Auf die Gesetzesbegründung kann sich der Antragsteller zur Stützung seiner entgegengesetzten Rechtsansicht nicht berufen. Dort ist in Bezug auf § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG ausgeführt, dass diese Vorschrift die Fälle erfasst, "in denen die Fahrerlaubnis wegen Ungeeignetheit entzogen wurde, also insbesondere die Entziehung wegen Erreichens der 18 Punkte nach Absatz 3 Satz 1 Nr. 3 und die strafgerichtliche Entziehung nach § 69a des Strafgesetzbuches". § 4 StVG regelt die Grundlagen des Punktsystems des Straßenverkehrsgesetzes und trifft in § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG im Hinblick auf die Punkte eines Fahrerlaubnisinhabers eine generelle Regelung für sämtliche Fälle der Entziehung der Fahrerlaubnis (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl., § 4, Rn. 7; Lütkes/Meier/Wagner/Emmerich, a.a.O., § 4 StVG, Rn. 46). Das Wort "insbesondere" trägt dementsprechend lediglich dem Umstand Rechnung, dass das Straßenverkehrsgesetz neben dem Erreichen von 18 Punkten im Punktsystem nach § 4 StVG auch noch andere Gründe für die Fahrerlaubnisentziehung kennt, z.B. die Ungeeignetheit wegen des Konsums von illegalen Drogen (§ 3 StVG und § 46 Abs. 1 FeV). Der Umstand, dass auch andere Gründe zur Entziehung der Fahrerlaubnis führen, die gravierender sind als das Erreichen von 18 Punkten im Punktsystem nach § 4 StVG, kommt auch in § 4 Abs. 1 Satz 2 StVG zum Ausdruck.
Die Entziehung der Fahrerlaubnis erweist sich auch nicht als unverhältnismäßig. Der Antragsteller besitzt nicht die erforderliche Eignung, um ein Kraftfahrzeug im Straßenverkehr sicher zu führen. Durch ungeeignete Kraftfahrer werden hochrangige Rechtsgüter (Leben und körperliche Unversehrtheit) anderer Verkehrsteilnehmer gefährdet, die am Straßenverkehr in der Erwartung teilnehmen, die zuständigen Behörden werden ungeeignete Kraftfahrer von der Nutzung eines Kraftfahrzeugs abhalten. Diesen Rechtsgütern gebührt der Vorrang vor dem Interesse des fahrungeeigneten Antragstellers auch weiterhin rechtmäßig am Straßenverkehr mit einem Kraftfahrzeug teilnehmen zu können.
Entgegen dem Vorbringen des Antragstellers hat das Verwaltungsgericht auch die bloße teilweise Entziehung der Fahrerlaubnis mit Ausnahme der Klasse 3 als milderes Mittel geprüft. Eine solche scheidet aber aus. Die gesetzliche Fiktion der Ungeeignetheit nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG, die die Fahrerlaubnisbehörde zur Entziehung der Fahrerlaubnis zwingt, knüpft an einen Punktestand an, der nicht im Hinblick auf die verschiedenen Fahrerlaubnisklassen getrennt erfasst wird.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren findet ihre Grundlage in § 25 Abs. 2, § 14 Abs. 1 sowie § 20 Abs. 3 i.V.m. § 13 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Abschnitt I.7 und II.45.3 und II.45.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in seiner jüngsten Fassung von 1996 (NVwZ 1996, 563).
Der Beschluss ist unanfechtbar.

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