Beschluss vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - 11 S 2771/03

Tenor

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 29. Oktober 2003 - 7 K 777/03 - wird abgelehnt.

Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 4.000,-- EUR festgesetzt.

Gründe

 
Die am 10.12.2003 beim Verwaltungsgericht Karlsruhe rechtzeitig beantragte Zulassung der Berufung ist abzulehnen, weil der Kläger nicht innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils die Gründe dargelegt hat, aus denen die Berufung zuzulassen ist (vgl. § 124a Abs. 4 S. 4 VwGO).
Für die nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO gebotene Darlegung ist erforderlich, dass ein die Entscheidung des Verwaltungsgerichts tragender Rechtssatz, auf welchen es für deren Richtigkeit ankommt, oder eine dafür erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.6.2000 - 1 BvR 803/00 -, VBlBW 2000, 392 = NVwZ 2000, 1163 = DVBl. 2000, 1458). Das kann regelmäßig nur dadurch erfolgen, dass sich die Antragsbegründung konkret mit der angegriffenen Entscheidung inhaltlich auseinandersetzt und aufzeigt, was im einzelnen und warum dies als fehlerhaft erachtet wird. Des weiteren muss die Entscheidungserheblichkeit des behaupteten Rechtsverstoßes dargetan werden.
Daran fehlt es vorliegend: Der Kläger weist in seiner Zulassungsbegründung lediglich darauf hin, dass nach § 12 Abs. 4 AufenthG/EWG die Tatsache einer strafrechtlichen Beurteilung nicht genüge, um seine Ausweisung zu begründen. Die Ausweisung sei unter Berücksichtigung seiner persönlichen Belange unverhältnismäßig. Seine Ehefrau und sein vierjähriger Sohn lebten im Bundesgebiet. Vor der Inhaftierung habe eine eheliche Lebensgemeinschaft bestanden und er habe entscheidend zur Erziehung seines Sohnes beigetragen. Diese Lebensgemeinschaft habe sich während der Haft fortgesetzt durch regelmäßige Besuche im Beisein des Kindes. Die Entscheidung verstoße somit gegen § 12 Abs. 4 AufenthG/EWG und Art. 8 EMRK.
Dieses Vorbringen hat bereits das Verwaltungsgericht im Einzelnen gewürdigt und dabei ausführlich begründet, dass die Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Ausländerbehörde dadurch nicht in Frage gestellt wird. Der Zulassungsantrag hält den einschlägigen Ausführungen keine schlüssigen Gegenargumente entgegen und setzt sich mit dem Urteil nicht auseinander.
Allerdings begründet der Kläger den am 21.10.2004 gestellten, wegen der zu diesem Zeitpunkt unmittelbar bevorstehenden Abschiebung auf Abschiebungsschutz gerichteten Antrag nach § 123 VwGO (vgl. 11 S 2473/04) sinngemäß damit, dass nach der jüngst bekannt gewordenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 3.8.2004 - 1 C 30.02 -) freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger wie er nur noch auf der Grundlage einer ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung ausgewiesen werden dürften, während seine Ausweisung auf der Grundlage von § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG als sog. Ist-Ausweisung verfügt worden sei. Dieses Vorbringen kann jedoch - auch wenn man es als gleichermaßen für das Zulassungsverfahren vorgetragen betrachtet - vorliegend deshalb nicht mehr berücksichtigt werden, weil es nicht innerhalb der Antragsbegründungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO - auch nicht andeutungsweise - geltend gemacht worden ist (vgl. - für den Fall einer Rechtsänderung nach Fristablauf - BVerwG, Beschluss vom 15.12.2003 - 7 AV 2/03 -, NVwZ 2004, 744).
Gleichwohl kann nicht übersehen werden, dass sich die Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 14.2.2003 nach der genannten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts wegen der fehlenden Ermessenserwägungen als offenkundig rechtswidrig darstellt. Es muss außerdem berücksichtigt werden, dass die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, mit der es seine bisherige ständige Rechtsprechung im Hinblick auf das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 29.4.2004 in den Rechtssachen Orfanopoulos und Oliveri (C-482/01 und C-493/01, DVBl 2004, 876) geändert hat, erst nach Ablauf der Zulassungsbegründungsfrist im vorliegenden Verfahren ergangen ist.
Insbesondere wegen des gemeinschaftsrechtlichen Hintergrunds hat der Senat verschiedene Möglichkeiten erwogen, wie dieser - besonderen - Situation Rechnung getragen werden kann (zum sog. Effizienzgebot auf verwaltungsprozessualer Ebene, vgl. Kenntner in Bergmann/Kenntner, Deutsches Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, S. 79 Rn 26 m.w.N. und auf Verwaltungsebene: EuGH, Urteil vom 12.6.1990 - C-8/88 - , Slg. 1990, I-2321, Rn 13). Für die zur Zeit anhängigen und bis 31.1.2005 anhängig werdenden Verwaltungsstreitverfahren freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger, die im Wege der Ist- oder Regelausweisung nach § 47 Abs. 1 und 2 AuslG ausgewiesen worden sind, hat das Bundesverwaltungsgericht einen Weg gewiesen, nach dem den Ausländerbehörden im Rahmen der gerichtlichen Verfahren Gelegenheit zur Nachholung der Ermessensentscheidung zu geben ist. Sollte - woran zu zweifeln Anlass besteht - diese Maßgabe auch für das Berufungszulassungsverfahren gelten, müsste gleichwohl die Einschränkung gemacht werden, dass der Zulassungsantrag zumindest als solcher zulässig sein muss, woran es vorliegend aber - wie ausgeführt - fehlt.
Nicht weiter verfolgt hat der Senat außerdem den Gedanken einer gemeinschaftsrechtskonformen Anwendung der Berufungszulassungsvorschriften, insbesondere also der Frist und der Darlegungsanforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO, so dass wegen der Besonderheit der Umstände und insbesondere im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Prinzip der materiellen Gerechtigkeit der vorliegend verfristete Vortrag gleichwohl zu berücksichtigen wäre. Dafür sieht der Senat aber nicht zuletzt deshalb keine Notwendigkeit, weil den durch die geänderte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geschaffenen besonderen Umständen auch auf Verwaltungsebene durch ein Wiederaufgreifen des Verfahrens Rechnung getragen werden kann. Zwar stellt eine Änderung der Rechtsprechung grundsätzlich keine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG dar, so dass dem Kläger daraus vorliegend kein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens erwächst (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16.2.1993 - 9 B 241/92 -, DÖV 1993, 532). Jedoch kann die Behörde ein Verwaltungsverfahren nach pflichtgemäßem Ermessen auch dann wieder aufgreifen und über einen durch unanfechtbaren Verwaltungsakt beschiedenen materiellrechtlichen Anspruch erneut sachlich entscheiden, wenn die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen im engeren Sinne nach § 51 Abs. 1 VwVfG nicht vorliegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.9.2000 - 2 C 5/99 -, DVBl 2001, 726, stRspr; vgl. § 51 Abs. 5 LVwVfG). Ein Wechsel der höchstrichterlichen Rechtsprechung kann hierfür hinreichender Anlass für ein solches Wiederaufgreifen im weiteren Sinn sein (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16.2.1993, a.a.O.; siehe auch § 48 Abs. 2 SGB X). Insbesondere kann dabei nach § 48 Abs. 1 S. 1 LVwVfG ein rechtswidriger Verwaltungsakt, nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Diese Vorschrift räumt dem Kläger ein subjektiv-öffentliches Recht auf fehlerfreie Ermessensentscheidung der Behörde über ein Wiederaufgreifen des Verfahrens ein (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 31.1.1989 - 9 S 1141/88 -, NVwZ 1989, 882 m.w.N.). Darüber hinaus verpflichtet der in Art. 10 EG verankerte Grundsatz der Zusammenarbeit die Ausländerbehörde auf entsprechenden Antrag hin, unter bestimmten weiteren Voraussetzungen, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden muss, einen bestandskräftigen Verwaltungsakt zu überprüfen, um einer mittlerweile vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften vorgenommenen Auslegung einer einschlägigen Bestimmung Rechnung zu tragen (vgl. EuGH, Urteil vom 13.1.2004 - C-453/00 - , InfAuslR 2004, 139).
Aufgrund dieser Rechtslage erscheint es gewährleistet, dass der Kläger als - mit Rechtskraft der vorliegenden Entscheidung - bestandskräftig ausgewiesener freizügigkeitsberechtigter EU-Bürger jedenfalls innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach Bekanntwerden der Rechtsprechungsänderung eine behördliche Überprüfung und gegebenenfalls Aufhebung der Ausweisung erreichen kann. Es ist davon auszugehen, dass die Ausländerbehörden auch in den Fällen, in denen ein Anspruch des Ausländers auf Wiederaufgreifen nicht besteht, das ihnen eingeräumte Ermessen in Übereinstimmung mit den genannten Grundsätzen und ihrer gemeinschaftsrechtlich begründeten Verpflichtung ausüben werden, was regelmäßig zu einer sog. Ermessensreduzierung „auf Null“ führen dürfte.
10 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO; die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 25 Abs. 2 Satz 1, 13 Abs. 1 Satz 2, 14 Abs. 3 GKG a.F. (vgl. § 72 Nr. 1 GKG in der Fassung des Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes vom 5.5.2004, BGBl. I S. 718).
11 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

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