Beschluss vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - 1 S 254/05

Gründe

 
Bei Würdigung des Vorbringens des Antragsgegners im Beschwerdeverfahren (§ 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO) ist der Senat anders als das Verwaltungsgericht der Auffassung, dass dem Antragsteller der begehrte vorläufige Rechtsschutz nur zu einem geringen Teil gewährt werden kann.
Allerdings hat das Verwaltungsgericht das Rechtsschutzbegehren jedenfalls im Ergebnis in sachdienlicher Auslegung (§ 88 VwGO) zu Recht als einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO behandelt.
Voraussetzung der Statthaftigkeit eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO ist grundsätzlich das Vorliegen eines Verwaltungsaktes; diese Frage kann demnach auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht offen gelassen werden (vgl. nur VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 20.8.1987 - 8 S 1001/87 -, VBlBW 1988, 146). Ausnahmslos gilt dies aber nur für die rechtliche Einordnung einer Maßnahme als Verwaltungsakt i. S. v. § 35 Abs. 1 VwVfG. Anders verhält es sich indessen bei der Frage, ob eine Maßnahme, die - wie hier die streitige Verfügung - ohne weiteres die Merkmale eines Verwaltungsaktes erfüllt, ordnungsgemäß bekannt gegeben und folglich rechtlich existent geworden ist. Behauptet der Antragsteller, dass die Bekanntgabe fehlgeschlagen ist, sind oft Tatsachenfragen aufgeworfen, die sich mit den beschränkten Erkenntnismöglichkeiten eines gerichtlichen Eilverfahrens nicht klären lassen. Im Interesse des Gebots effektiven Rechtsschutzes, das der dienenden Funktion des Verwaltungsprozessrechts Rechnung trägt, ist vor-läufiger Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO zu gewähren, auch wenn nach dem Vortrag des Antragstellers ein Nicht-Verwaltungsakt vorliegt; mit dieser verfahrensrechtlichen Einordnung kann auch weiteres Vorbringen, das sich auf die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bezieht, ohne prozessuale Schwierigkeiten geprüft werden (vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 20.8.1980 - IX R 3/80 -, ESVGH 34, 144 <145 f.>; P. Stelkens/U. Stelkens in: Stelkens u.a. , VwVfG, 6. Aufl. 2001, § 41 Rn. 28a; a.A. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 7.12.1990 - 10 S 2466/90 -, NVwZ 1991, 1195 f.).
Im Rahmen der bei § 80 Abs. 5 VwGO geforderten Abwägung der gegenläufigen Interessen überwiegt das Interesse des Antragstellers, vor der endgültigen Klärung der Rechtslage vom Vollzug der angefochtenen Verfügung verschont zu bleiben, nur hinsichtlich der Zahnbehandlung der Stute „Vireusina“ das gegenläufige öffentliche, nach § 80 Abs. 3 VwGO ordnungsgemäß begründete Interesse an der baldigen Verwirklichung einer beanstandungsfreien Tierhaltung. Dem stehen die vom Verwaltungsgericht - vor dem Hintergrund der in der Vergangenheit wiederholt diagnostizierten psychischen Erkrankungen des Antragstellers und auf Wahnvorstellungen hindeutenden Äußerungen in seinen Schriftsätzen - zutreffend aufgezeigten Zweifel an der passiven Handlungsfähigkeit des Antragstellers (§ 12 Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG) im Zeitpunkt der Zustellung der Verfügung nicht entgegen.
Die Frage, ob der Antragsteller damals von seinen geistigen Fähigkeiten her in der Lage war, jedenfalls die den Rechtskreis der Pferdehaltung betreffenden Angelegenheiten eigenverantwortlich zu erledigen, ist nicht infolge der Bestellung eines Prozesspflegers rechtlich unerheblich geworden; denn es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Kenntnisnahme der tier-schutzrechtlichen Anordnung durch den Antragsteller jedenfalls damit als erfolgt gilt und der Verwaltungsakt existent geworden ist.
Nach der Rechtsprechung liegt eine wirksame Bekanntgabe eines Verwaltungsakts auch dann vor, wenn und sobald der - im Zeitpunkt des Zugangs geschäfts- und handlungsunfähig gewesene - Empfänger später wieder geschäfts- und handlungsfähig wird und in diesem Zustand von dem Verwaltungsakt Kenntnis hat oder erhält (BVerwG, Beschluss vom 11.2.1994 - 2 B 173.93 -, NJW 1994, 2633 <2634> m.w.N.). Anders ist aber die Situation zu beurteilen, wenn später ein gesetzlicher Vertreter bestellt wird; dessen bloße Kenntnisnahme von dem an den Handlungsunfähigen gerichteten Schreiben reicht aus Gründen der Verfahrensklarheit nicht aus (vgl. BayVGH, Urteil vom 25.10.1983 - 11 B 83 A. 496 -, NJW 1984, 2845; P. Stelkens/U. Stelkens, a.a.O., § 41 Rn. 30a, 56a). Hier kommt nur die Genehmigung der gegenüber dem Handlungsunfähigen erfolgten Bekanntgabe in Betracht. Der Prozesspfleger des Antragstellers hat die von ihm erteilte Genehmigung jedoch auf die Erhebung des Widerspruchs sowie die Stellung des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO beschränkt. Der Zulässigkeit dieses Vorgehens steht die in der Rechtsprechung einhellig vertretene Auffassung nicht entgegen, wonach sich die Genehmigung fehlerhafter Prozesshandlungen nicht auf einzelne Teilhandlungen in dem Verfahren beschränken darf, sondern die gesamte Prozessführung umfassen muss (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.4.1978 - II C 5.74 -, Buchholz 237.2 § 79 LBG Berlin Nr. 2; BGH, Beschluss vom 19.7.1984 - X ZB 20/83 -, BGHZ 92, 137 <140 f.>). Denn im vorliegenden Fall geht es um die Unterscheidung zwischen dem Bescheid als Auslöser des Rechtsstreits und dem nachfolgenden Rechtsbehelfsverfahren. Insoweit muss auch dem Handlungsunfähigen die Möglichkeit eröffnet werden, die daraus folgende Unwirksamkeit des Verwaltungsakts geltend zu machen. Hier kann letztlich nichts anderes gelten als in sonstigen Fällen von Bekanntgabefehlern, die der Adressat vor Gericht nur bei „rügeloser Einlassung“ nicht geltend machen kann (vgl. P. Stelkens/U. Stelkens, a.a.O., § 41 Rn. 31).
Im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes kann die Frage, ob der Antragsteller partiell geschäfts- und handlungsunfähig war, nicht abschließend geklärt werden. Daraus folgt aber nicht, dass der Antragsgegner sich so behandeln lassen müsste, als sei die angefochtene Verfügung als Grundlage für die beabsichtigte Vollstreckung nicht existent.
 
Die Frage nach den Rechtsfolgen von Zweifeln an der Wirksamkeit eines Verwaltungsakts lässt sich nicht einheitlich beantworten; vielmehr ist hier maßgeblich auch darauf abzustellen, welche Seite hinsichtlich der geltend gemachten Umstände, die zu einer fehlerhaften Bekanntgabe geführt haben sollen, materiell beweisbelastet ist. Beruft sich der Adressat einer belastenden Verfügung auf seine Handlungsunfähigkeit, liegt die Beweislast - anders als bei der Frage des Zugangs des Bescheids (siehe § 4 Abs. 1 2. Hs. VwZG; § 41 Abs. 2 2. Hs. VwVfG, vgl. hierzu Hess. VGH, Beschluss vom 20.8.1980 - IX R 3/80 -, ESVGH 34, 144 <146>) - nicht bei der Behörde, sondern beim Empfänger, der einen Ausnahmetatbestand für sich in Anspruch nimmt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 11.2.1994 - 2 B 173.93 -, NJW 1994, 2633 f. m.w.N.). In dieser Situation ist dem Gericht bei der Interessenabwägung eine Berücksichtigung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts nicht verwehrt. Die Unsicherheit über dessen rechtliche Existenz ist dann ein Gesichtspunkt unter mehreren, der bei der gerichtlichen Entscheidung in Rechnung zu stellen ist; ihm kommt um so größere Bedeutung zu, je schwerwiegender und endgültiger die mit dem Verwaltungsakt verbundene Belastung für den Adressaten ist.
Hiernach kommt dem Umstand, dass die rechtliche Existenz der Verfügung wegen des geltend gemachten Bekanntgabefehlers durchaus fraglich erscheint, keine allein ausschlaggebende Bedeutung zu. Denn dem Antragsteller werden in der angefochtenen Verfügung lediglich für eine ordnungsgemäße Tierhaltung selbstverständliche Maßnahmen abverlangt. Schwerwiegende Auswirkungen auf seine Rechtspositionen sind damit - auch in finanzieller Hinsicht - nicht verbunden.
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Auf der Grundlage dieser Erwägungen stützt der Senat seine Interessenabwägung maßgeblich auf die Bewertung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung. Hierbei ist der Senat ebenso wie bereits das Verwaltungsgericht der Auffassung, dass die angeordneten Maßnahmen - mit Ausnahme einer Zahnbehandlung für die Stute „Vireusina“ - von Rechts wegen nicht zu beanstanden sind; der Senat nimmt insoweit Bezug auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid. Der Vortrag des Antragstellers gibt keinen Anlass für eine abweichende Bewertung; insbesondere hat er bislang nicht belegt, dass er die - jedenfalls teilweise wohl auch von ihm als erforderlich erachteten - Maßnahmen mittlerweile entsprechend seiner Ankündigung auch tatsächlich fachgerecht hat durchführen lassen.
 
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Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung dieses Widerspruchs gegen die - von Gesetzes wegen sofort vollziehbare (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 12 LVwVG) - Zwangsgeldandrohung kommt - wiederum mit Ausnahme des auf eine Zahnbehandlung für die Stute „Vireusina“ bezogenen Zwangsgeldes - gleichfalls nicht in Betracht. Denn es ist nicht ersichtlich, dass das Vollstreckungsmittel des Zwangsgeldes hier untunlich ist. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass der Antragsteller in so desolaten finanziellen Verhältnissen lebt, dass ein Zwangsgeld als Beugemittel von vornherein seinen Zweck verfehlen könnte. Dagegen spricht schon der Umstand, dass der Antragsteller sieben Pferde hält. Soweit er vorbringt, dass ihm bei Verhängung von Zwangsgeldern Mittel entzogen würden, die er für die Versorgung der Pferde benötige, verfängt dies nicht; denn diese Folge kann er schon dadurch vermeiden, dass er den Tieren die seitens sachkundiger Stellen für erforderlich erachtete medizinische Versorgung zukommen lässt.
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Im Hinblick auf die zwischenzeitlich abgelaufene Frist zur Erfüllung der Anordnung gibt der Senat zu bedenken, dass eine Zwangsgeldfestsetzung erst für den Fall des Nichtbefolgens der Anordnung nach Verstreichen eines angemessenen Zeitraums nach Zustellung dieses Beschlusses in Betracht kommen dürfte.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO.
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Die Änderung und Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 3 Nr. 2, § 63 Abs. 3 GKG. Dabei orientiert sich die Rechtsprechung des Senats (vgl. etwa den Beschluss vom 27.3.2003 - 1 S 235/03 - m.w.N.) an den Empfehlungen des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (nunmehr Fassung Juli 2004, Nr. 35.2, abgedruckt in NVwZ 2004, 1327), der bei Klageverfahren um eine gegen einen Tierhalter getroffene Anordnung die Festsetzung des Auffangstreitwerts gemäß § 52 Abs. 2 GKG vorsieht; im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ist dieser Wert zu halbieren. Die Zwangsgeldandrohung ist nach der ständigen Praxis des erkennenden Gerichtshofs (vgl. nur Beschluss vom 12.4.2002 - 14 S 315/02 m.w.N.; siehe auch Hess. VGH , Beschluss vom 23.9.1999 - 8 TE 860/93 -, ESVGH 50, 54 <55 f.> mit Nachweisen auch zur Gegenansicht) mit einem Viertel des Gesamtbetrags in die Berechnung des Streitwerts einzustellen.
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Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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