Beschluss vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - A 4 S 788/19

Tenor

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 30. Januar 2019 - A 4 K 9894/17 - wird abgelehnt.

Die Beklagte trägt die Kosten des - gerichtskostenfreien - Zulassungsverfahrens.

Gründe

 
Der Antrag auf Zulassung der Berufung, den die Beklagte auf Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) und auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) stützt, hat keinen Erfolg.
I.
Die Kläger, nach ihren Angaben staatenlose Palästinenser aus Syrien, hielten sich vor der Einreise in die Bundesrepublik im Januar 2016 rund 15 Monate in Zypern auf, wo ihnen internationaler Schutz zuerkannt wurde, die Versorgung aber sehr schlecht gewesen sei. Mit Bescheid vom 24.10.2017 lehnte das Bundesamt die Asylanträge der Kläger als unzulässig ab (Ziffer 1) und stellte fest, dass keine Abschiebungshindernisse gemäß § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorlägen (Ziffer 2), setzte ihnen - statt der gesetzlichen Wochenfrist des § 36 Abs. 1 AsylG zur Verhinderung einer eventuellen Unwirksamkeit des Bescheides gemäß § 37 Abs. 1 Satz 1 AsylG - eine 30-tägige Ausreisefrist entsprechend §§ 38 Abs. 1, 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG und drohte ihnen die Abschiebung nach Zypern an (Ziffer 3) sowie befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab Abschiebung (Ziffer 4).
Mit Urteil vom 30.01.2019 - A 4 K 9894/17 - (Juris) stellte das Verwaltungsgericht Freiburg die Unwirksamkeit der Ziffern 1 und 3 des angefochtenen Bescheids fest und hob dessen Ziffern 2 und 4 auf. Zur Begründung führte es aus, dass, wenn das Bundesamt, wie hier, die gesetzlich angeordnete sofortige Vollziehung des Bescheids nicht gemäß § 80 Abs. 4 VwGO aussetzen durfte, § 37 Abs. 1 AsylG analog anwendbar sei, falls entgegen der zwingenden Regelung des § 36 Abs. 1 AsylG zur Umgehung von § 37 Abs. 1 AsylG die Ausreisefrist entsprechend §§ 38 Abs. 1, 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG auf 30 Tage nach Bestandskraft des Bescheides festgesetzt worden sei. Eine Aussetzung bei Entscheidungen über die Unzulässigkeit des Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 oder 4 AsylG sei jedenfalls dann rechtsmissbräuchlich, wenn das Bundesamt den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt habe und ein Eilantrag deshalb erfolgreich gewesen wäre. Im vorliegenden Fall habe das Bundesamt die Situation in Zypern bei einer Abschiebung der Familie hinsichtlich Art. 3 EMRK auch nicht ansatzweise aufgeklärt und diese Arbeit gewissermaßen durch seinen „30-Tage-Trick“, der gemäß §§ 38 Abs. 1, 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG einen Eilantrag und damit die mögliche Unwirksamkeit des Bescheids nach § 37 Abs. 1 AsylG verhindere, willkürlich auf das Verwaltungsgericht abwälzen wollen. Offenkundig habe das Bundesamt selbst ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebung der Kläger nach Zypern gehabt und deshalb mittels des „30-Tage-Tricks“ verhindern wollen, dass das Verwaltungsgericht einem Eilantrag mit der Unwirksamkeitsfolge des § 37 Abs. 1 AsylG stattgeben könne, d.h. auf diese Weise erreichen wollen, dass das Verwaltungsgericht den Sachverhalt im Hauptsacheverfahren selbst umfassend aufkläre und damit die Arbeit des Bundesamtes mache. Der Rückgriff auf die 30-Tagesfrist des §§ 38 Abs. 1, 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG erweise sich mithin im konkreten Einzelfall als rechtsmissbräuchlich; das Bundesamt müsse sich deshalb so behandeln lassen, als wäre einem Eilantrag gemäß § 37 Abs. 1 AsylG stattgegeben worden.
II.
Mit dieser Entscheidung weicht das Verwaltungsgericht nicht im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG von der Rechtsprechung, insbesondere dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15.01.2019 - 1 C 15.18 - (Juris), ab.
Das Bundesverwaltungsgericht hat im Urteil vom 15.01.2019 folgende Leitsätze geprägt: 1. Lehnt das Bundesamt einen Asylantrag nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig ab, weil dem Ausländer bereits in einem anderen Mitgliedstaat der EU internationaler Schutz gewährt worden ist, und droht es ihm zugleich die Abschiebung an, werden - denn der Anwendungsbereich oder die Wirkungen des § 37 Abs. 1 AsylG lassen sich bei solchen Unzulässigkeitsentscheidungen nicht im Wege einer teleologischen Reduktion beschränken - beide Entscheidungen nach § 37 Abs. 1 Satz 1 AsylG mit einer die aufschiebende Wirkung der Abschiebungsandrohung anordnenden Eilentscheidung des Verwaltungsgerichts unabhängig von den Gründen der Stattgabe kraft Gesetzes unwirksam. 2. In diesen Fällen ist das Asylverfahren nach § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG fortzuführen. Bei dieser Fortführung muss sich das Bundesamt mit den vom Verwaltungsgericht im Eilverfahren geäußerten ernstlichen Zweifeln auseinandersetzen, ist aber an dessen Bewertung nicht gebunden. Liegen die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG - einschließlich etwaiger sich aus dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts ergebender Vorgaben - weiterhin vor, muss es erneut eine Unzulässigkeitsentscheidung treffen. 3. Eine „Endlosschleife“ im Verfahren kann das Bundesamt in dieser Konstellation mit den Entscheidungsinstrumenten, die das Asylgesetz zur Verfügung stellt, vermeiden. Insbesondere kann es eine rechtsgrundsätzliche Klärung in einem gerichtlichen Hauptsacheverfahren dadurch herbeiführen, dass es entweder ausnahmsweise vom Erlass einer Abschiebungsandrohung nach § 34 Abs. 2 AsylG bis zu einer endgültigen gerichtlichen Überprüfung seiner erneuten Unzulässigkeitsentscheidung in einem Hauptsacheverfahren absieht oder eine Abschiebungsandrohung erlässt, deren Vollzug aber bis zu einer rechtsgrundsätzlichen Klärung nach § 80 Abs. 4 VwGO aussetzt. 4. Mit dem Asylgesetz objektiv nicht im Einklang steht hingegen die Praxis des Bundesamts, bei einer auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützten Unzulässigkeitsentscheidung die Abschiebungsandrohung unter Rückgriff auf § 38 Abs. 1 AsylG mit einer bei Klageerhebung erst nach der Unanfechtbarkeit laufenden 30-tägigen Ausreisefrist zu verbinden.
Mit Urteil vom 25.04.2019 - 1 C 51.18 - (Juris; hierzu Berlit in jurisPR-BVerwG 17/2019 Anm. 5) hat das Bundesverwaltungsgericht noch einmal bekräftigt, dass in der Situation des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG die dem Ausländer zu setzende Ausreisefrist gemäß § 36 Abs. 1 AsylG zwingend eine Woche beträgt. Mit dem Asylgesetz nicht im Einklang stehe deshalb die Praxis des Bundesamtes, bei Unzulässigkeitsentscheidungen nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG die Abschiebungsandrohung unter Rückgriff auf § 38 Abs. 1 AsylG mit einer 30-tägigen Ausreisefrist zu verbinden.
Das Verwaltungsgericht hat im angegriffenen Urteil nichts hiervon Abweichendes entschieden. Vielmehr hält es genau wie das Bundesverwaltungsgericht die Praxis des Bundesamtes, bei Unzulässigkeitsentscheidungen nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG die Abschiebungsandrohung unter Rückgriff auf § 38 Abs. 1 AsylG mit einer 30-tägigen Ausreisefrist zu verbinden, für rechtswidrig. Auch soweit es entschieden hat, wegen Rechtsmissbrauchs sei hier § 37 Abs. 1 AsylG analog anzuwenden, weicht es nicht von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ab. Denn dieses hat entschieden, dass der Anwendungsbereich oder die Wirkungen des § 37 Abs. 1 AsylG sich bei einer Unzulässigkeitsentscheidung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht im Wege einer teleologischen Reduktion beschränken lassen. Die Eigenart der teleologischen Reduktion bestehe - als Gegenstück zur Analogie - darin, dass sie die auszulegende Vorschrift entgegen ihrem Wortlaut hinsichtlich eines Teils der von ihr erfassten Fälle für unanwendbar hält, weil Sinn und Zweck, Entstehungsgeschichte und der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen gegen eine uneingeschränkte Anwendung sprechen. Ausdrücklich weist das Bundesverwaltungsgericht ergänzend darauf hin, dass es dem Richter nicht verboten sei, „das Recht fortzuentwickeln“. Anlass zu richterlicher Rechtsfortbildung bestehe insbesondere „dort, wo Programme ausgefüllt, Lücken geschlossen, Wertungswidersprüche aufgelöst werden oder besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung getragen wird.“ Wendet das Verwaltungsgericht im angegriffenen Urteil also aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls bei mangelhafter bundesamtlicher Sachverhaltsaufklärung zur Lückenschließung § 37 Abs. 1 AsylG analog an, um eine rechtsmissbräuchliche Umgehung von dessen Wirkungen zu verhindern, fortentwickelt es das Recht im Sinne des Bundesverwaltungsgerichts und setzt sich gerade nicht zu dessen Rechtsprechung in Widerspruch. Eine Berufungszulassung wegen Divergenz scheidet damit aus.
III.
Die Berufung muss auch nicht gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zugelassen werden, weil im Rechtssinne keine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt ist. Eine solche ist nur gegeben, wenn in Bezug auf die Rechtslage oder Tatsachenfeststellungen eine konkrete Frage aufgeworfen und hierzu erläutert wird, warum sie bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht geklärte Probleme aufwirft, die über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus in einer Vielzahl von Fällen bedeutsam sind und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlich geklärt werden müssen. Es muss deshalb schon in der Antragsbegründung selbst deutlich werden, warum prinzipielle Bedenken gegen einen vom Verwaltungsgericht in einer konkreten Rechts- oder Tatsachenfrage eingenommenen Standpunkt bestehen, warum es also erforderlich ist, dass sich auch das Berufungsgericht klärend mit der aufgeworfenen Frage auseinandersetzt und entscheidet, ob die Bedenken durchgreifen. Des Weiteren muss dargelegt werden, warum die aufgeworfene konkrete Tatsachen- oder Rechtsfrage für das Verwaltungsgericht erheblich war und warum sie sich auch im Berufungsverfahren als entscheidungserheblich stellen würde (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 15.03.2000 - A 6 S 48/00 - und 13.03.2017 - A 11 S 651/17 -, beide Juris; Bergmann/Dienelt, AuslR, 12. Aufl. 2018, § 78 AsylG Rn. 11, m.w.N.). Diese Anforderungen müssen hier nicht als erfüllt angesehen werden.
Die vom Bundesamt aufgeworfenen Fragen, (a.) „ob § 37 Abs. 1 AsylG entsprechend Anwendung finden kann auf Fallgestaltungen, bei denen kein Eilantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt wurde und folglich keine hierauf stattgebende Gerichtsentscheidung erging“, und (b.) „ob der Wortlaut des § 37 Abs. 1 AsylG einer analogen Anwendung zugänglich ist und einer solchen bei Setzung einer 30-tägigen Ausreisefrist nach § 38 Abs. 1 AsylG bedarf“, haben keine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung und Auswirkungen, weil das Verwaltungsgericht entschieden hat, das Bundesamt habe konkret hier rechtsmissbräuchlich gehandelt, indem es den Sachverhalt auch nicht ansatzweise hinreichend aufgeklärt habe. Selbstredend kann nicht unterstellt werden, das Bundesamt verstoße in einer Vielzahl von Fällen gegen seine Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung und handele regelmäßig rechtsmissbräuchlich. Damit aber bedürfen die aufgeworfenen Fragen schon deshalb im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder Fortentwicklung des Rechts keiner berufungsgerichtlichen Klärung.
10 
Des Weiteren ist der Senat der Auffassung, dass diese Fragen durch die zitierten Urteile des Bundesverwaltungsgerichts bereits hinreichend eindeutig entschieden wurden. Wie ausgeführt, hat das Bundesverwaltungsgericht in den Urteilen vom 15.01.2019 - 1 C 15.18 - und 25.04.2019 - 1 C 51.18 - gerade im Hinblick auf § 37 Abs. 1 AsylG zum einen ausführlich dargelegt, dass eine richterliche Rechtsfortbildung dort erforderlich sein kann, wo besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung getragen werden muss. Zum anderen hat es ausgeführt, dass § 37 Abs. 1 AsylG nur einer teleologischen Reduktion zur Eliminierung von dessen gesetzlich zwingenden Unwirksamkeitsfolgen unzugänglich ist, ausdrücklich jedoch „als Gegenstück zur Analogie“. Wendet das Verwaltungsgericht mithin in einer Situation mangelhafter bundesamtlicher Sachverhaltsaufklärung § 37 Abs. 1 AsylG analog an, um dessen gesetzlich zwingende Unwirksamkeitsfolgen nicht eliminieren zu lassen, folgt es exakt der Rechtsprechungslinie des Bundesverwaltungsgerichts, das die 30-tägige Ausreisefrist in diesem Zusammenhang ausdrücklich als objektiv rechtswidrig eingestuft hat.
11 
Das Gegenargument der Beklagten im Zulassungsantrag, einem Kläger bleibe es unbenommen, trotz objektiv rechtswidriger 30-Tagesfrist schon binnen der gesetzlichen Wochenfrist auszureisen, die längere Ausreisefrist stelle also keine Belastung für ihn dar, geht am Problem des Falles vorbei. Denn hier steht nicht die Frage der subjektiven Rechtsverletzung von Asylklägern im Zentrum, sondern der Umstand, dass das Bundesamt seine Sachverhaltsaufklärungspflicht mithilfe der 30-tägigen Ausreisefrist missbräuchlich auf das Verwaltungsgericht abwälzen wollte.
12 
Die von der Beklagten im Zulassungsantrag aufgeworfenen Fragen müssen mithin aufgrund der klaren Rechtsprechungslinie des Bundesverwaltungsgerichts weder im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung noch der Fortentwicklung des Rechts noch einmal berufungsgerichtlich geklärt werden. Dies gilt umso mehr in einer Situation, in der, was senatsbekannt ist, das Bundesamt längst von der rechtswidrigen 30-Tagespraxis Abstand genommen hat und rechtskonform gegebenenfalls entweder auf eine Abschiebungsandrohung verzichtet oder aber mit dem Instrument der Aussetzung arbeitet. Die von der Beklagten aufgeworfenen Fragen betreffen damit der Sache nach „auslaufendes Recht“, was der Annahme einer Grundsatzbedeutung ebenfalls regelmäßig entgegensteht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.12.1995 - 6 B 35/95 -, Juris). Dies gilt hier erst Recht, weil die Bundesregierung laut Entwurf des „Gesetzes zur Beschleunigung, Vereinfachung und Vereinheitlichung von Asylklageverfahren“ plant, § 37 Abs. 1 AsylG insgesamt aufzuheben, denn diese Regelung, die früher für unbeachtliche Asylanträge nach § 29 AsylG galt, beruhe „auf einem Versehen des Gesetzgebers“ (vgl. Referentenentwurf vom 22.02.2019, S. 14).
13 
Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (vgl. § 78 Abs. 5 Satz 1 AsylG).
14 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG. Damit erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe.
15 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

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