Beschluss vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - A 9 S 2212/20

Tenor

Auf den Antrag des Klägers wird die Berufung gegen das Urteil des Verwal-tungsgerichts Stuttgart vom 8. Juni 2020 - A 11 K 367/19 - zugelassen, soweit die Klage auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 i.V.m. Art 3 EMRK und Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgewiesen wurde.

Gründe

 
Der die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG (zum nationalen Abschiebungsschutz auf der Grundlage der Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG als einheitlichem, in sich nicht weiter teilbarem Streitgegenstand vgl. BVerwG, Urteil vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, BVerwGE 140, 319) betreffende Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung ist zulässig und begründet.
Die Berufung ist zuzulassen, da der vom Kläger hinreichend dargelegte Verfahrensmangel in Gestalt einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO i.V.m. Art. 103 Abs. 1 GG) auch in der Sache vorliegt.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör gebietet die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Allerdings gewährt Art. 103 Abs. 1 GG keinen Schutz dagegen, dass ein angebotener Beweis aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts nicht erhoben wird. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisantrags verstößt nur dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 18.06.1993 - 2 BvR 1815/92 -, NVwZ 1994, 60, vom 17.09.1999 - 1 BvR 47/99 -, NJW 2000, 1327, und vom 25.10.2002 - 1 BvR 2116/01 -, NJW 2003, 1655; StGH Bad.-Württ., Urteil vom 23.03.2015 - 2/15 -, NJW 2015, 1869; BVerwG, Beschlüsse vom 27.03.2000 - 9 B 518.99 -, InfAuslR 2000, 412, vom 29.06.2001 - 1 B 131.00 -, NVwZ-RR 2002, 311, vom 31.07.2014 - 2 B 20.14 -, NVwZ-RR 2014, 887, und vom 25.01.2016 - 2 B 34.14 -, NVwZ-RR 2016, 428; Urteil vom 11.09.2007 - 10 C 8.07 -, BVerwGE 129, 251). Das ist der Fall, wenn aus den angegebenen Gründen ein Beweisantrag schlechthin nicht abgelehnt werden darf (vgl. hierzu VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 17.06.1998 - A 14 S 1178/98 -, NVwZ 1998, 110), wenn das Gericht den ohne weiteres erkennbaren Sinn des Beweisantrags nicht erkennt oder wenn die vom Verwaltungsgericht gegebene Begründung offenkundig unrichtig oder unhaltbar ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.06.1993, a. a. O.; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 14.01.1997 - A 13 S 2325/96 -, NVwZ 1997, Beilage Nr. 9 S. 67; Hess. VGH, Beschluss vom 08.07.1999 - 9 ZO 177/98.A -, InfAuslR 2000, 128; Senatsbeschluss vom 09.01.2020 - A 9 S 3325/19 -; GK-AsylG, Stand: Dezember 2019, § 78 Rn. 355 ff.). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
1. Der Klägervertreter hatte in der mündlichen Verhandlung am 05.06.2020 beantragt, durch Einholen einer Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und des Auswärtigen Amtes Beweis darüber zu erheben, ob in Gambia die Medikamente Quetiapin, Sertralin und Lorazepam bzw. entsprechende Substitute erhältlich sind und ggf. zu welchen Kosten. Das Verwaltungsgericht lehnte den Beweisantrag mit der Begründung ab, auf die zu beweisenden Tatsachen komme es nicht an. Es sei nicht hinreichend substantiiert dargelegt, dass der Kläger die genannten Medikamente tatsächlich regelmäßig einnehme und auf diese angewiesen sei. Die Einnahme der Medikamente Quetiapin und Sertralin werde ausweislich des ärztlichen Attests vom 06.05.2020 vom Kläger im Anamnesegespräch lediglich behauptet, jedoch aktuell an keiner Stelle, z.B. durch Vorlage entsprechender Rezepte, belastbar nachgewiesen. Dagegen, dass der Kläger die Medikamente benötige, spreche im Übrigen, dass im Attest vom 06.05.2020 der Verlauf einer zwischenzeitlichen Behandlung seit dem Attest vom 06.06.2019 nicht geschildert werde. Im Übrigen halte die Berichterstatterin die Diagnose im Attest vom 16.08.2018, in dem der Arzt Dr. C. erstmalig die Behandlung mit Sertralin, Quetiapin und Lorazepam verordnet habe, nicht für tragfähig, da nicht dargelegt sei, auf welchem traumatisierenden Ereignis sie beruhe. Damit sei dem medizinischen Befund die tatsächliche Basis entzogen und die Notwendigkeit der Verschreibung der genannten Medikamente zweifelhaft.
Nach Anhörung des Klägers und dessen ehrenamtlicher Betreuerin wiederholte der Klägervertreter den Beweisantrag mit dem Hinweis, der Kläger sei auf die Medikamente angewiesen, sie seien verschreibungspflichtig. Ein Nachweis für eine regelmäßige Medikation könne bis kommenden Montag nachgereicht werden.
Das Verwaltungsgericht lehnte den Beweisantrag erneut ab und führte zu Begründung aus, auf die zu beweisende Tatsache komme es immer noch nicht an. Es ergebe sich aus dem letzten ärztlichen Attest auch weiterhin nicht, dass der Kläger auf die Medikamente angewiesen sei. Die Angaben von Frau G., die keine Ärztin sei, reichten nicht aus, um dies nachzuweisen. Weiterhin blieben die Zweifel an der Diagnose im Attest vom 16.08.2018, da die Berichterstatterin immer noch nicht von der Glaubhaftigkeit des Vortrags des Klägers zum traumatisierenden Ereignis überzeugt sei.
2. Die Ablehnung des Beweisantrags findet im Prozessrecht keine Stütze. Denn auf der Grundlage der zum Gesundheitszustand des Klägers vorgelegten Unterlagen mussten sich dem Verwaltungsgericht jedenfalls die Fragen aufdrängen, ob der Kläger nicht an einer anderen fachärztlich behandlungsbedürftigen psychiatrischen Erkrankung als einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet und ob er zur Behandlung dieses Leidens der angesprochenen Medikamente bedarf (unter a). Vor diesem Hintergrund ist das Verwaltungsgericht erkennbar von einem zu engen Verständnis des Beweisantrags ausgegangen, weshalb dessen Ablehnung prozessual nicht tragfähig ist (unter b).
a) Nach den vorliegenden Unterlagen befindet sich der Kläger seit dem 19.01.2018 in regelmäßiger fachärztlicher Behandlung durch den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. C. (vgl. dessen ärztliche Gutachten bzw. Atteste vom 16.08.2018, vom 06.06.2019 und vom 06.05.2020 sowie die Bescheinigung vom 23.05.2020 über 10 Termine des Klägers). Zur Symptomatik wird im Ärztlichen Attest vom 06.05.2020 ausgeführt: „... Bereits auf dem Fluchtweg kam es zu Ängsten, Panikattacken und Schlafstörungen, die sich in der Folgezeit immer weiter verstärkten. Inzwischen sind die nächtlichen Angstbilder auch belastend bei der Tagesaktivität, führen zu Konzentrationsproblemen, zu Antriebsschwäche und zeitweilig auch zu Suizidgedanken. Der Betroffene wirkt auch bei den Untersuchungen hier bisweilen apathisch und emotional nicht anwesend, zeigt Konzentrationsstörungen. Im Kontakt mit Menschen erträgt er schlecht Unruhe und zwischenmenschliche Unstimmigkeiten, die sich insbesondere während der Gruppenunterbringung zeigten. Innere Anspannung kann der Betroffene selbst kaum artikulieren. Es finden sich starke Verunsicherungen hinsichtlich des Selbstwertes und der eigenen Fähigkeiten. Trotz regelmäßiger Einnahme von Quetiapin und Sertralin sowie Alprazolam bei Bedarf kommt es weiterhin häufig zu Alpträumen mit wiederkehrenden Bildern, die ein Gefühl lebensbedrohlichen Schreckens und inneren Gelähmtseins auslösen. Auch werden immer wieder Angstzustände mit Herzrasen und vorübergehenden Sehstörungen bis hin zu einer „Blindheit" während einer Panikattacke beschrieben. Bei der Schilderung des Befindens/der Symptomatik fanden sich bislang keinerlei Hinweise für eine Aggravation oder Dissimulation. ... Konkrete Folgen eines Behandlungsabbruchs wären mit großer Wahrscheinlichkeit eine weitere Zunahme der Symptomatik mit daraus resultierenden panikartigen Ängsten und dem Wunsch, diesen durch einen Suizid ein Ende zu bereiten. Der Betroffene zeigt eine ausgesprochene Unfähigkeit, sich selbständig Hilfe zu suchen und sich Konflikten zu stellen bzw. sich in Konfliktsituationen durchzusetzen. Dazu kommt die Schwierigkeit des Betroffenen, Anderen gegenüber Vertrauen zu fassen und diese um Hilfe zu bitten. Unter beängstigenden Umständen, wie sie bei einer Abschiebung mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten wären, ist konkret mit autoaggressivem Verhalten bis hin zu Suizidversuchen zu rechnen. ... Das Krankheitsbild des Betroffenen ist als schwer einzuschätzen. ...“
Zur Medikation wird im ärztlichen Gutachten vom 16.08.2018 ausgeführt: Vorbehandlungen seien mit Promethazin, Melperon und zuletzt Quetiapin erfolgt. Unter Kombinationsbehandlung mit Quetiapin, Sertralin und Lorazepam habe sich der Zustand im Laufe der etwaigen sechswöchigen Kontrolluntersuchungen zwischenzeitlich wenig stabil gezeigt. Aktuell nehme der Patient 100mg Sertralin, 250mg Quetiapin ret. und 50-100mg Quetiapin unretardiert zur Nacht sowie Lorazepam bei Bedarf (Alpträume). Im Attest vom 06.06.2019 heißt es, die intensive Behandlung mit Neuroleptika und Antidepressiva habe bislang nur eine Dämpfung der Symptome bis hin zu einer Symptomverschiebung ergeben. Im Attest vom 06.05.2020 wird ausgeführt, trotz regelmäßiger Einnahme von Quetiapin und Sertralin sowie [seit 04.02.2020] Alprazolam bei Bedarf komme es weiterhin häufig zu Alpträumen mit wiederkehrenden Bildern (vgl. auch den Medikationsplan vom 08.06.2020 mit handschriftlichen Vermerken).
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Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung zahlreicher weiterer Unterlagen (vgl. „Epikrise“ der m. Klinik K., Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 28.03.2017 über eine „notfallmäßige Aufnahme ... aufgrund unklarer Distanzierung von Suizidalität“ in der Zeit vom 24.03.2017 bis 28.03.2017, Diagnose (ICD 10): Anpassungsstörungen F 43.2; Bescheinigung der m. Klinik K. vom 21.11.2018 über die erneute stationäre Aufnahme am 13.11.2018; Überweisungsschein an „Facharzt Psychiatrie“ vom 29.05.2017, ausgestellt von Dr. R.-B., Diagnose/Verdachtsdiagnose: F43.1 G Posttraumatische Belastungsstörung; F 41.0.Panikstörung [episodisch paroxymale Angst]; R 45.8 V Verdacht auf Suizidgedanken; Schlafstörung; Bescheinigung des Psychosozialen Netzwerks für traumatisierte Flüchtlinge N. vom 22.05.2017; Schreiben des Sozialpsychiatrischen Dienstes N. vom 14.12.2018; Schreiben der ehrenamtlichen Betreuerin des Klägers vom 26.05.2020) lagen damit konkrete und deutliche Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger jedenfalls an einer gravierenden und persistierenden fachärztlich behandlungsbedürftigen psychiatrischen Erkrankung leidet. Nach Aktenlage konnten auch keine ernsthaften Zweifel daran bestehen, dass dem Kläger wegen seiner psychiatrischen Erkrankung seit Jahren die im Beweisantrag bezeichneten Medikamente bzw. entsprechende Substitute vom Facharzt verschrieben werden und dass der Kläger diese einnimmt.
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b) Bei dieser besonderen Sachlage konnte die Frage, ob das Leiden des Klägers fachärztlicherseits als posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert (und dementsprechend in das Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen (ICD) eingeordnet) werden kann oder nicht, ersichtlich nicht allein ausschlaggebend sein für die im Rahmen der Prüfung des Begehrens nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erhebliche Ausgangsfrage, ob es dem Kläger im Falle der Rückkehr wegen einer Erkrankung nicht gelingen bzw. wesentlich erschwert würde, sich in seinem Herkunftsland ein Existenzminimum zu erwirtschaften. Deshalb konnte auch der Beweisantrag des Klägers offensichtlich vom Verwaltungsgericht nicht in dem eingeschränkten Sinn verstanden werden, der Erhältlichkeit der bezeichneten Medikamente komme nur Bedeutung im Falle einer beim Kläger diagnostizierten posttraumatischen Belastungsstörung zu. Es stellt deshalb eine mit der Gewährleistung des Rechts auf rechtliches Gehör unvereinbare Verkennung des klaren Sinns des klägerischen Beweisantrags dar, wenn das Verwaltungsgericht diesen ablehnt ohne auf die Frage einzugehen, ob der Kläger auch unabhängig von einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht jedenfalls der angesprochenen Medikamente bedarf und diese in Gambia erhalten kann.
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Das Antragsverfahren wird als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht (§ 78 Abs. 5 Satz 3 AsylG).
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Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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