Beschluss vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - A 11 S 2648/20

Tenor

Auf den Antrag des Klägers wird die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 21. Juli 2020 - A 16 K 4471/17 - zugelassen, soweit die Klage auf Aufhebung der Ziffern 4 und 5 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 22. März 2017 abgewiesen worden ist.

Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

Gründe

 
Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das im Tenor bezeichnete Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart ist begründet.
1. Der Kläger hat den gesetzlichen Anforderungen genügend den Zulassungsgrund der Versagung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) dargelegt, soweit das Verwaltungsgericht im angefochtenen Urteil nicht seinem Begehren entsprochen hat, die Ziffern 4 und 5 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 22. März 2017 aufzuheben. Dies betrifft die gegen ihn gerichtete Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung (Ziffer 4) und die als Anordnung eines befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots zu interpretierende Ziffer 5 des Bescheids (vgl. zu letzterem BVerwG, Urteil vom 21.08.2018 - 1 C 21.17 -, juris Rn. 25). Der Senat legt den - seinem Wortlaut nach umfassend gegen das erstinstanzliche Urteil gerichteten - Antrag des Klägers einschränkend dahin aus, dass die Zulassung der Berufung lediglich im tenorierten Umfang begehrt wird. Aus der Begründung des Zulassungsantrags wird unmissverständlich deutlich, dass der Kläger das Urteil des Verwaltungsgerichts nur in diesem Umfang zum Gegenstand des vorliegenden Verfahrens machen will.
Dies zugrunde gelegt, legt der Senat den erstinstanzlich gestellten Klageantrag dahin aus, dass hiervon die isolierte Aufhebung der Regelungen in den Ziffern 4 und 5 des Bescheids vom 22. März 2017 mit umfasst gewesen ist. Der Kläger hat die Aufhebung des Bescheids insoweit beantragt, als dieser der - hier nicht erfolgten - Verpflichtung der Beklagten entgegensteht, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise subsidiären Schutz, höchst hilfsweise das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG festzustellen. Bei sachgerechter Würdigung des der Klage zugrundeliegenden Lebenssachverhalts ist dieser Antrag nicht im Sinne einer inneren Verknüpfung dahin zu verstehen, dass die Aufhebung der Regelungen in den Ziffern 4 und 5 lediglich für den Fall der Zuerkennung internationalen Schutzes oder der Feststellung eines Abschiebungsverbots begehrt wird. In dieser Weise hatte der Kläger mit seinem Schriftsatz vom 5. Dezember 2019 das Klagebegehren ausdrücklich präzisiert. Im Übrigen hat auch das Verwaltungsgericht die isolierte Aufhebung der Ziffern 4 und 5 zum Gegenstand seiner Entscheidung gemacht, indem es die darin enthaltenen Regelungen nach Ablehnung der Zuerkennung internationalen Schutzes bzw. der Feststellung von Abschiebungsverboten einer eigenständigen Rechtmäßigkeitsprüfung unterzogen hat.
a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (stRspr, vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 25.09.2020 - 2 BvR 854/20 -, juris Rn. 26, vom 10.02.2020 - 2 BvR 336/19 -, juris Rn. 9, und vom 13.02.2019 - 2 BvR 633/16 -, juris Rn. 23). Außerdem müssen die Prozessbeteiligten Gelegenheit erhalten, sich zu allen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten zu äußern, die entscheidungserheblich sein können (BVerwG, Beschluss vom 14.06.2019 - 7 B 25.18 -, juris Rn. 14). Dabei soll das Gebot des rechtlichen Gehörs als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben (stRspr, vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.02.2020 - 2 BvR 336/19 -, juris Rn. 9). Hingegen gewährt Art. 103 Abs. 1 GG keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen (stRspr, vgl. BVerfG, Beschluss vom 01.10.2019 - 1 BvR 552/18 -, juris Rn. 8, und Urteil vom 08.07.1997 - 1 BvR 1621/94 -, juris Rn. 43).
Art. 103 Abs. 1 GG ist allerdings nur dann verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist. Denn grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gerichte das von ihnen entgegengenommene Parteivorbringen auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben (stRspr, vgl. BVerfG, Beschluss vom 25.09.2020 - 2 BvR 854/20 -, juris Rn. 26, sowie Urteil vom 08.07.1997 - 1 BvR 1621/94 -, juris Rn. 44). Die Gerichte sind nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen (stRspr, vgl. BVerfG, u.a. Beschlüsse vom 25.09.2020 - 2 BvR 854/20 -, juris Rn. 26, vom 13.02.2019 - 2 BvR 633/16 -, juris Rn. 23, und vom 05.10.1976 - 2 BvR 558/75 -, juris Rn. 13). Deshalb müssen, wenn ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG festgestellt werden soll, im Einzelfall besondere Umstände deutlich ergeben, dass das Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung ersichtlich nicht erwogen worden ist (BVerfG, u.a. Beschlüsse vom 25.09.2020 - 2 BvR 854/20 -, juris Rn. 26, vom 13.02.2019 - 2 BvR 633/16 -, juris Rn. 23, vom 19.05.1992 - 1 BvR 986/91 -, juris Rn. 39, und vom 01.02.1978 - 1 BvR 426/77 -, juris Rn. 16; BVerwG, Beschluss vom 25.07.2013 - 5 C 26.12 -, juris Rn. 5) oder ein Prozessbeteiligter nicht hinreichend Gelegenheit erhalten hat, sich zu allen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten zu äußern, die entscheidungserheblich sein können. Geht das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags eines Beteiligten zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert war (BVerfG, Beschluss vom 25.09.2020 - 2 BvR 854/20 -, juris Rn. 26).
b) Nach diesen Maßstäben liegen hier die gerügten Gehörsverletzungen vor. Der Kläger hatte im Klageverfahren mit Schriftsatz vom 5. Dezember 2019 vorgetragen, seit dem 4. April 2019 mit der britischen Staatsangehörigen ... …-... verheiratet zu sein. Seine Ehefrau, mit der er zusammenlebe, sei im Besitz einer Aufenthaltskarte-EU. Aus diesem Grunde seien Ziffern 4 und 5 des streitgegenständlichen Bescheids aufzuheben. Ausweislich des Tatbestands der angegriffenen Entscheidung - ein Protokoll über die Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung findet sich in der Gerichtsakte nicht - hat der Kläger gegenüber dem Gericht angegeben, mit seiner Frau „zusammen zu sein“ (S. 4 d. UA). In den Entscheidungsgründen des angegriffenen Urteils hat das Verwaltungsgericht den Umstand, dass der Kläger mit einer britischen Staatsangehörigen verheiratet ist und mit dieser zusammenlebt, zwar zur Kenntnis genommen, dies aber lediglich im Rahmen der Prüfung gewürdigt, ob in seinem Falle ein nationales Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen ist (S. 15 f. d. UA). Soweit sich das Verwaltungsgericht mit der Frage der Rechtmäßigkeit der Ziffern 4 und 5 des streitgegenständlichen Bescheids auseinandergesetzt hat, hat es diesen - durch den Kläger ausdrücklich auf die genannten Ziffern bezogenen - Umstand hingegen offensichtlich nicht in Erwägung gezogen, obwohl er auch insoweit entscheidungserheblich ist. Die Abschiebungsandrohung (Ziffer 4 des angegriffenen Bescheids) dürfte unter Berücksichtigung dieses vom Verwaltungsgericht übergangenen Sachverhalts rechtswidrig sein, da der Kläger unabhängig von seinem Asylbegehren bereits deshalb nicht ausreisepflichtig sein dürfte, weil er mit einer in Deutschland daueraufenthaltsberechtigten Unionsbürgerin in ehelicher Lebensgemeinschaft lebt und daher selbst aufenthaltsberechtigt sein dürfte (nachfolgend (aa)). Besteht eine solche Aufenthaltsberechtigung, darf auch kein befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot ergehen (nachfolgend (bb)).
(aa) Der Kläger rügt, das Verwaltungsgericht hätte bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung berücksichtigen müssen, dass er vom Aufenthaltsstatus seiner britischen Ehefrau ein eigenes Recht auf Einreise und Aufenthalt nach § 3 Abs. 1 FreizügG/EU ableiten könne. Aus der im Klageverfahren zur Akte gereichten Aufenthaltskarte seiner Ehefrau (Bl. 59 f. d. VG-Akte) ergibt sich, dass diese über ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU verfügt. Dieses Recht gilt gemäß § 1 des Gesetzes für den Übergangszeitraum nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union jedenfalls bis 31. Dezember 2020 fort.
Dies zugrunde gelegt spricht viel dafür, dass der Kläger über ein akzessorisches Aufenthaltsrecht gemäß § 2 Abs. 1 FreizügG/EU verfügt, das dem Erlass der streitgegenständlichen Abschiebungsandrohung entgegensteht. Denn die Abschiebungsandrohung nach § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i. V. m. § 59 AufenthG darf dann nicht ergehen, wenn der Ausländer kraft Gesetzes aufenthaltsberechtigt ist und daher mit der Ausreisepflicht (§ 50 Abs. 1 AufenthG) eine materielle Voraussetzung der Abschiebung gemäß § 58 Absatz 1 AufenthG fehlt. Besteht eine gesetzliche Aufenthaltsberechtigung, ist ein Aufenthaltstitel nicht „erforderlich“ i. S. d. § 50 Abs. 1 AufenthG, um den Aufenthalt zu legalisieren (vgl. auch Bergmann, in: ders./Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 34 AsylG Rn. 8).
Zwar dürfte dem Kläger noch kein Daueraufenthaltsrecht gemäß § 4a Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU zustehen. Denn es ist nicht ersichtlich, dass sich der Kläger, der erst seit 4. April 2019 verheiratet ist, seit fünf Jahren als Familienangehöriger einer Unionsbürgerin ständig rechtmäßig mit dieser im Bundesgebiet aufgehalten hat. Jedoch dürfte ihm gleichwohl ein vom Status seiner Ehefrau abgeleitetes Aufenthaltsrecht zustehen. Hat ein Unionsbürger, zu dem der Nachzug erfolgt, bereits - wie hier - ein Daueraufenthaltsrecht erlangt, erfüllt aber der Familienangehörige die zeitlichen Voraussetzungen des § 4a Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU noch nicht, ordnet keine Regelung des Freizügigkeitsgesetzes/EU den Erwerb eines Aufenthaltsrechts des Familienangehörigen ausdrücklich an. Haben aber Familienangehörige von Freizügigkeitsberechtigten ein Aufenthaltsrecht (§ 2 Abs. 1 und 2 i. V. m. § 3 FreizügG/EU), muss dies erst recht für Familienangehörige von daueraufenthaltsberechtigten Unionsbürgern gelten. Andernfalls wäre die Rechtsposition des Daueraufenthaltsberechtigten unter Umständen wesentlich entwertet. Setzt schließlich § 4a Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU voraus, dass sich Familienangehörige von daueraufenthaltsberechtigten Unionsbürgern fünf Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben können, bevor sie selbst daueraufenthaltsberechtigt werden, liegt nahe, dass das Gesetz eine solche Aufenthaltsberechtigung auch ermöglicht. Ist die akzessorische Aufenthaltsberechtigung des Klägers somit nicht zweifelhaft, müssen Art und Umfang dieses Rechts im vorliegenden Zulassungsverfahren nicht näher bestimmt werden (vgl. hierzu Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 4a FreizügG/EU Rn. 77; Tewocht, in: Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, Stand: 01.07.2020, § 4a FreizügG/EU Rn. 3 f.; vgl. auch Ziffer 4a.0.2 AVV-FreizügG/EU).
10 
(bb) Die Gehörsverletzung wirkt sich auch auf die Anordnung des befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots in Ziffer 5 des streitgegenständlichen Bescheids aus, welches keinen Bestand haben könnte, sollten die Voraussetzungen für den Erlass der streitgegenständlichen Abschiebungsandrohung in Ziffer 4 nicht vorliegen.
11 
2. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl. § 78 Abs. 5 Satz 1 AsylG).
12 
Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung im Berufungsverfahren vorbehalten.
13 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO.

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