Beschluss vom Anwaltsgerichtshof NRW - 2 AGH 23/19
Tenor
1. Auf die Beschwerde des angeschuldigten Rechtsanwalts wird das gegen Rechtsanwalt S durch Beschluss des Anwaltsgerichtes Hamm vom 11.09.2019 (2 AnwG 62/2017) verhängte vorläufige Berufsverbot aufgehoben.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des angeschuldigten Rechtsanwaltes trägt die Rechtsanwaltskammer Hamm.
1
Gründe:
2I.
3Mit Urteil des Anwaltsgerichts Hamm vom 11. September 2019 (2 AnwG 62/17 - EV 100/16) ist der angeschuldigte Rechtsanwalt aufgrund der Hauptverhandlung vom selben Tag mehrerer Pflichtverletzungen nach §§ 43, 43a V, 56, 113 I, 115b, BRAO, 266 StGB und §§ 4 I, II BORA schuldig gesprochen worden, aufgrund derer gegen ihn die Maßnahme eines Ausschlusses aus der Rechtsanwaltschaft verhängt worden ist. Hiergegen hat der Verteidiger des angeschuldigten Rechtsanwalts Berufung eingelegt. Hintergrund war eine Verurteilung des angeschuldigten Rechtsanwaltes wegen Untreue durch das Amtsgericht Recklinghausen vom 07.06.2016 und des Landgerichts Bochum in Berufungsverfahren vom 05.09.2016. Die dagegen eingelegte Revision hat das Oberlandesgericht Hamm am 24.01.2017 zurück-gewiesen.
4Mit Beschluss ebenfalls vom 11. September 2019 hat das Anwaltsgericht Hamm sodann gegen den angeschuldigten Rechtsanwalt ein vorläufiges Berufsverbot gem. § 150 BRAO verhängt. Hiergegen hat der Verteidiger des angeschuldigten Rechts-anwalts mit Schreiben vom 12. September 2019 sofortige Beschwerde eingelegt.
5II.
6Das gegen den angeschuldigten Rechtsanwalt verhängte vorläufige Berufsverbot ist aufzuheben.
7Die materiellen Voraussetzungen für die Verhängung eines vorläufigen Berufsverbots liegen nach Auffassung des Senats nicht vor.
8a)
9Bei dem vorläufigen Berufsverbot gemäß §§ 150, 153 BRAO handelt es sich um eine vorläufige Präventivmaßnahme, die mit erheblicher Intensität und irreparabler Wirkung in grundrechtlich geschützte Rechtspositionen von hoher Bedeutung eingreift, weil sie für eine Zwischenzeit einen Sicherungszweck verfolgt. Die damit verbundene Vorwegnahme der endgültigen Ausschließung bedarf der Rechtfertigung durch ein besonderes Interesse. Auch in dem durch § 153 BRAO verfahrensrechtlich gesondert geregelten Fall besteht kein Anlass, auf das aus verfassungsrechtlichen Erwägungen folgende materiell-rechtliche Erfordernis zu verzichten, dass ein sofortiges Einschreiten zur Abwehr konkreter Gefahren für wichtige Gemeinschafts-güter geboten sein muss (Senat Beschluss v. 01.03.2019 Az. 2 AGH 15/18). Besondere Feststellungen über eine solche Gefährdung sind nur dann entbehrlich, wenn bereits Art und Schwere der Pflichtwidrigkeit als solche diese Gefährdung indizieren. Das ist bei Verfehlungen, die länger zurückliegen jedenfalls nicht selbstverständlich (BVerfG, NJW 1978, 1479, 1480; Reelsen in Feuerich/Weyland, a.a.O., Rn. 3). Eine Automatik, dass wenigstens ein vorläufiges Vertretungsverbot im Anschlussverfahren zu verhängen sei, wenn das Urteil im Hauptverfahren auf Ausschließung aus der Rechtsanwaltschaft lautet, besteht infolge des Gebots verfassungskonformer Auslegung nicht (Dittmann in Henssler/Prütting, a.a.O., Rn. 2). Gemäß § 204 Abs. 1 BRAO wird die Ausschließung aus der Rechtsanwaltschaft erst mit Rechtskraft des Urteils wirksam. Das Gesetz sieht ausdrücklich ein mehrstufiges Rechtsmittelverfahren für den Ausschluss eines Rechtsanwaltes wegen Pflicht-verletzungen vor. Deshalb bedarf die Verhängung eines vorläufigen Berufsverbotes mehr als nur der Annahme, dass eine Ausschließung aus der Anwaltschaft droht. Es muss vielmehr eine konkrete, durch Tatsachen begründete Gefahr für die Allgemein-heit und die rechtssuchende Bevölkerung bestehen, die ein sofortiges Berufsverbot vor Rechtskraft der Ausschließung erforderlich machen muss. Der Rechtskraft kommt demnach wegen des Gewichts des Grundrechts aus Art. 12 GG besondere Bedeutung zu, so dass nur in ganz besonderen Ausnahmefällen die regelmäßig irreparablen Wirkungen des Urteils schon vor Eintritt der gesetzlichen Voraussetzung seiner Rechtskraft durch eine präventive Maßnahme vorweggenommen werden dürfen, auch wenn besonders schwere Berufspflichtverletzungen vorliegen (BVerfG, NJW 1977, 892, 894).
10b)
11An solchen besonderen Umständen fehlt es. Zwar beruht die Entscheidung des Anwaltsgerichts im Hauptverfahren auf einer negativen Prognose hinsichtlich der Gefahr weiterer schwerer Berufspflichtverstöße, denen durch eine mildere Maßnahme als die Ausschließung nicht ausreichend wirksam begegnet werden kann. Das Anwaltsgericht hat aber auch als wahr unterstellt, dass derzeit keine Pfändung besteht und gegen den angeschuldigten Rechtsanwalt derzeit keine Forderungen aus öffentlich-rechtlichen Verhältnissen mehr bestehen und er auch über Vermögen (Miteigentumsteile an zwei Immobilien) verfügt. Das Geschäftskonto des angeschuldigten Rechtsanwaltes Nummer: ## bei der Sparkasse S2 sei weder mit einer Pfändung noch mit einer Pfändungsverfügung belegt. Das Anwaltsgericht belegt seine Annahme, es läge gleichwohl eine konkrete Gefahr vor, dass der Angeschuldigte für weitere eigene Zwecke wiederum Geld seiner Mandanten einbehalten könnte, indes nicht mit konkreten Tatsachen.
12Hingegen liegen die Pflichtverstöße, die das Anwaltsgericht zur Begründung des Ausschlusses aus der Rechtsanwaltschaft zugrunde legt, bereits länger zurück.
13Die Anschuldigungsschrift datiert vom 16.08.2017. Während der letzten zwei Jahre sind keinerlei vorläufige Beruf- oder Vertretungsverbote verhängt worden. Neue Erkenntnisse - über die Nichteinrichtung eines Anderkontos hinaus - die für die sofortige Vollziehung der Maßnahme aus dem Urteil sprechen, werden vom Anwaltsgericht nicht dargelegt und sind auch dem Senat nicht ersichtlich.
14Eine konkrete Bedrohung der rechtsuchenden Bevölkerung, die ein sofortiges Handeln noch vor Eintritt der Rechtskraft erforderlich machen könnte, obgleich dieses für den 64 Jahre alten Angeschuldigten existenzvernichtend wirken würde, kann daher nicht festgestellt werden. Entscheidend dagegen spricht der Umstand, dass die letzten festgestellten Taten Mitte des Jahres 2016 begangen wurden und dementsprechend schon mehr als drei Jahre zurückliegen. Außerdem hat der Rechtsanwalt zumindest im Ergebnis die Forderungen seiner Mandanten vollständig ausgeglichen.
15Auch die Außenrückstünde beim Versorgungswerk in Höhe von ca. 10.000,00 EUR und das nicht vorhandene Anderkonto lassen im Hinblick auf Art. 12 GG keine andere Betrachtung zu.
16Hinzu kommt, dass der Senat inzwischen die Hauptverhandlung über die Berufung des angeschuldigten Rechtsanwaltes im April 2020 anberaumt hat. Dass bis zur Entscheidung des Senats über die Berufung eine konkrete Gefährdung der Allgemeinheit eintreten könnte, ist erst recht nicht ersichtlich. Zusammen mit der Entscheidung über die Berufung muss der Senat ohnehin ggf. neu über die Verhängung eines möglichen vorläufigen Berufsverbotes entscheiden.
17Nach alledem ist die Präventivmaßnahme zur Abwehr konkreter Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter nicht erforderlich. Das vorläufige Berufsverbot ist aufzuheben.
18Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 116 BRAO i.V.m. § 467 I StPO.
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