Urteil vom Bundesfinanzhof (1. Senat) - I R 29/10
Tatbestand
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A. Streitig ist die Rechtmäßigkeit von Steuerfestsetzungen, in denen Vergütungen eines geschäftsführenden Mitglieds des Verwaltungsrats einer schweizerischen Kapitalgesellschaft als steuerpflichtig erfasst sind.
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Die Kläger, Revisionskläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute, die für die Veranlagungszeiträume 1999 bis 2002 (Streitjahre) zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden. Sie hatten in den Streitjahren ihren Wohnsitz und ihre ständige Wohnstätte in …/Deutschland. Der Kläger trat zum 1. Januar 1987 als Projektleiter in die Dienste der X AG (AG), einer schweizerischen Aktiengesellschaft mit Sitz in Y (Schweiz), ein (Arbeitsvertrag vom 26. Februar 1987).
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Organe der AG sind die Generalversammlung, der Verwaltungsrat und die Revisionsstelle (Art. 8 der Statuten in der Fassung vom 12. Mai 1997). Aufgaben des Verwaltungsrats sind insbesondere die Oberleitung der Gesellschaft und die Erteilung der nötigen Weisungen, die Festlegung der Organisation, die Ernennung und Abberufung der mit der Geschäftsführung und der Vertretung betrauten Personen und die Oberaufsicht über die mit der Geschäftsführung betrauten Personen, namentlich im Hinblick auf die Befolgung der Gesetze, Statuten, Reglemente und Weisungen (Art. 17 der Statuten). Der Verwaltungsrat ist ermächtigt, die Geschäftsleitung nach Maßgabe eines Organisationsreglements ganz oder zum Teil an einzelne Mitglieder und an Dritte zu übertragen (s.a. Art. 20 Satz 2 der Statuten). Die Mitglieder des Verwaltungsrats haben für ihre Tätigkeit Anspruch auf eine angemessene, vom Bilanzgewinn unabhängige Vergütung. Außerdem kann ihnen eine Tantieme gemäß Art. 677 des schweizerischen Bundesgesetzes betreffend die Ergänzung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Fünfter Teil: Obligationenrecht) vom 30. März 1911 (OR) zugesprochen werden (Art. 21 der Statuten).
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Ein Organisationsreglement wurde nicht erlassen. Der Verwaltungsrat bestellte den Kläger am 26. März 1991 mit Wirkung auf den 1. April 1991 zum Stellvertretenden Geschäftsführer. Zuvor war dem Kläger die Zeichnungsberechtigung "einzeln bis 1.000 CHF darüber hinaus kollektiv zu zweien" für Bankgeschäfte erteilt worden. Im Rahmen einer strukturellen und personellen Neugestaltung der AG beschloss der Verwaltungsrat am 25. März 1992, dass Z und der Kläger die Geschäftsleitung bilden sollten. Bei dieser Gelegenheit bestimmte man Z zum Vorsitzenden, den Kläger zum Mitglied der Geschäftsleitung. Hieran anschließend vereinbarte man durch einen Zusatz zum Arbeitsvertrag des Klägers die durch den Beschluss des Verwaltungsrats vom 25. März 1992 notwendigen Änderungen des Arbeitsvertrages. Am 25. Juni 1992 wurde der Kläger mit der Eigenschaft "Geschäftsführer" und der Zeichnungsart "Kollektivunterschrift zu zweien" ins Handelsregister des Kantons Y Hauptregister eingetragen. Z schied zum 31. Dezember 1999 als Mitglied der Geschäftsleitung (Geschäftsführer) aus (zugleich erlosch seine Zeichnungsberechtigung), nachdem er bis zum 31. Mai 1999 Delegierter des Verwaltungsrats gewesen war.
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Die ordentliche Generalversammlung der AG wählte den Kläger am 17. Mai 1999 zum Mitglied des Verwaltungsrats; jener ernannte ihn am selben Tag zum Delegierten des Verwaltungsrats und Vorsitzenden der Geschäftsleitung mit Wirkung ab dem 1. Juni 1999. In dieser Eigenschaft oblagen dem Kläger die Leitung und Verantwortung für den wirtschaftlichen Erfolg der AG (Hinweis auf den Zusatz vom 20. Mai 1999 zum Arbeitsvertrag), und zwar zusammen mit A, der im Dezember 1999 zum Mitglied der Geschäftsleitung ernannt worden war.
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Die Vergütung des Klägers erfolgte auf der Grundlage des Arbeitsvertrages durch ein monatliches Nettogehalt (1999: 9.275 CHF; 2000: 12.950 CHF; 2001: 13.163 CHF; 2002: 13.276 CHF) zzgl. einer Sonderzuwendung (1999: 9.878 CHF; 2000: 15.965 CHF; 2001: 10.582 CHF; 2002: 10.913 CHF). Nach den Angaben auf den Lohnausweisen für die Streitjahre wurde vom Lohn des Klägers durch die AG Schweizerische Quellensteuer einbehalten (1999: 32.100 CHF; 2000: 30.771 CHF; 2001: 32.223 CHF; 2002: 32.500 CHF) und an die Eidgenössische Steuerverwaltung abgeführt. Nach den Quellensteuerabrechnungen der Steuerverwaltung des Kantons Y unterlag der Kläger mit seinem Bruttoeinkommen insgesamt der Besteuerung in der Schweiz (1999: 35.930 CHF; 2000: 36.674 CHF; 2001: 36.068 CHF; 2002: 3.928 CHF).
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Mitglieder des Verwaltungsrats waren seit dem 1. Juni 1999 neben dem Kläger drei weitere Personen; nach dem Ausscheiden von zwei Personen wurde A im Oktober 1999 in den Verwaltungsrat gewählt. In 1999 beteiligte sich der Kläger als Aktionär (Anteil von 49 %); weitere Anteile hatte A erworben (50 %), den Rest (1 %) hielt das weitere Verwaltungsratsmitglied (zugleich der Präsident des Verwaltungsrats). In den Streitjahren waren neben den Mitgliedern der Geschäftsleitung weitere neun Mitarbeiter bei der AG beschäftigt. Dabei handelte es sich um promovierte Wissenschaftler. Im Übrigen wurden noch eine Buchhalterin und eine Sekretärin für die AG tätig. In den beim Beklagten, Revisionskläger und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) eingereichten Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre gingen die Kläger davon aus, dass der Kläger nicht als Grenzgänger i.S. des Art. 15a des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und Vermögen vom 11. August 1971 (BGBl II 1971, 1022, BStBl I 1972, 519) in der Fassung des Protokolls vom 21. Dezember 1992 (BGBl II 1993, 1888, BStBl I 1993, 928) --DBA-Schweiz 1992-- anzusehen sei. Insoweit legten die Kläger Bescheinigungen der AG vor, nach denen der Kläger in den Streitjahren als Geschäftsführer bzw. (ab dem Streitjahr 2000) als Vorsitzender der Geschäftsleitung an jeweils mehr als 60 Arbeitstagen (mit Einzelaufstellungen der Geschäftsreisen und sog. Nichtrückkehrtagen) aufgrund seiner Arbeitsausübung nicht an seinen Wohnsitz zurückgekehrt sei. Die von einem Bediensteten der AG unterschriebenen Bescheinigungen enthalten jeweils den Sichtvermerk der Steuerverwaltung Y. Die Kläger waren darüber hinaus der Auffassung, dass die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit wegen Art. 15 Abs. 4 DBA-Schweiz 1992 vollen Umfangs nicht der Einkommensteuer unterliegen würden.
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Bei der Einkommensteuerveranlagung 1999 setzte das FA die Einkünfte des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit unter Hinweis auf Art. 15 Abs. 4 DBA-Schweiz 1992 mit dem Teil an, der rechnerisch auf seine Tätigkeit in Drittstaaten und in Deutschland entfiel (84.806 DM entsprechend 93/240 der Vergütung); der Kläger sei kein Grenzgänger. Die restlichen (steuerfreien) Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit berücksichtigte das FA im Wege des Progressionsvorbehalts. Im Übrigen ließ das FA die schweizerische Quellensteuer, die rechnerisch auf die steuerpflichtigen Einkünfte entfiel, als "Steuer für ausländische Einkünfte" zum Abzug zu. Schließlich kürzte das FA in entsprechender Weise die geltend gemachten Sonderausgaben und Werbungskosten.
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Für die Streitjahre 2000 bis 2002 vertrat das FA die Auffassung, dass der gesamte Arbeitslohn des Klägers der Einkommensteuer unterliege, weil er Grenzgänger i.S. von Art. 15a DBA-Schweiz 1992 gewesen sei; denn er habe nicht nachgewiesen, dass er an mehr als 60 Arbeitstagen aus beruflichen Gründen nicht an seinen Wohnsitz in Deutschland zurückgekehrt sei (steuerpflichtiger Arbeitslohn 2000: 248.655 DM; 2001: 238.169 DM; 2002: 121.537 €). Die in der Schweiz einbehaltene Quellensteuer berücksichtigte das FA gemäß Art. 15a Abs. 3 Buchst. a DBA-Schweiz 1992 bei der Anrechnungsverfügung für 2000 und 2001 in Höhe von 4,5 % des Bruttolohns lt. den Lohnausweisen und für 2002 in Höhe von 4,5 % des steuerpflichtigen Arbeitslohns.
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Die Klage war teilweise erfolgreich (Finanzgericht --FG-- Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 2009 3 K 3006/08, den Klägern zugestellt am 18. März 2010). Zum Streitjahr 1999 wies das FG die Klage als unbegründet ab, da auf der Grundlage des ab 1. Juni 1999 (Wahl des Klägers zum Mitglied des Verwaltungsrats) anzuwendenden Art. 16 DBA-Schweiz 1992 eine höhere Steuer anzusetzen sei, was aber am Verböserungsverbot scheitere; zu den anderen Streitjahren kam es unter Anrechnung der (vollen) schweizerischen Quellensteuer zu einer Herabsetzung der Einkommensteuer.
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Die Kläger rügen mit der Revision die Verletzung materiellen Rechts; sie beantragen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Einkommensteuerbescheide in der jeweiligen Fassung durch die Einspruchsentscheidungen in der Weise zu ändern, dass die Einkünfte des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit mit 0 DM/€ berücksichtigt werden und die Einkommensteuer auf jeweils 0 DM/€ herabzusetzen.
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Die Revisionsbegründung der Kläger ist beim Bundesfinanzhof am 19. Mai 2010 (einem Mittwoch) eingegangen. Mit Schreiben des Senatsvorsitzenden vom 8. Juni 2010 sind die Kläger auf den Ablauf der Revisionsbegründungsfrist am 18. Mai 2010, einen verspäteten Eingang der Revisionsbegründung und auf § 56 der Finanzgerichtsordnung (FGO) hingewiesen worden.
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Das FA rügt mit der zu den Streitjahren 2000 bis 2002 erhobenen Revision die Verletzung materiellen Rechts und beantragt, das angefochtene Urteil insoweit aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Die Kläger und das FA beantragen sinngemäß wechselseitig, die Revision des jeweils anderen Beteiligten zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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B. I. Die Revision der Kläger ist unzulässig und daher zu verwerfen. Die Kläger haben die Revisionsbegründung, was im Schreiben des Senatsvorsitzenden vom 8. Juni 2010 im Einzelnen dargelegt wurde, nach Ablauf der Frist des § 120 Abs. 2 FGO und damit verspätet eingereicht und --trotz entsprechender Aufforderung-- keinen Antrag auf eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 56 FGO gestellt. Es ist für den Senat auch nicht ersichtlich, dass die Voraussetzungen für eine solche Wiedereinsetzung vorliegen.
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II. Die Revision des FA, die sich auf die Streitjahre 2000 bis 2002 bezieht, ist begründet; das FG-Urteil ist insoweit aufzuheben und die Sache zur weiteren Sachaufklärung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Ob das FA den Kläger in den streitgegenständlichen Festsetzungen zu Recht als Grenzgänger angesehen hat, da dem Kläger der Nachweis von mehr als 60 Nichtrückkehrtagen nicht gelungen sei, kann auf der Grundlage der bisher vorliegenden Feststellungen des FG nicht entschieden werden.
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1. Die Kläger waren in den Streitjahren 2000 bis 2002 gemäß § 1 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes unbeschränkt steuerpflichtig; nach den für den Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) hatten die Kläger einen Wohnsitz im Inland. Die Kläger unterlagen daher mit allen in den Streitjahren erzielten Einkünften der Einkommensteuer. Ferner ist das FG ersichtlich davon ausgegangen, dass der Kläger aus abkommensrechtlicher Sicht in Deutschland ansässig war (Art. 4 Abs. 1 DBA-Schweiz 1992); diese Einschätzung wird von den Verfahrensbeteiligten geteilt.
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2. Die Ausübung des hiernach bestehenden Besteuerungsrechts findet aber, soweit es um die streitgegenständlichen Einkünfte des Klägers geht, in Art. 24 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 Buchst. d DBA-Schweiz 1992 seine Grenze. Nach dieser Regelung werden bei einer in Deutschland ansässigen Person Gehälter, Löhne und ähnliche Vergütungen i.S. des Art. 15 DBA-Schweiz 1992, soweit sie nicht unter Art. 17 DBA-Schweiz 1992 fallen, von der Bemessungsgrundlage der deutschen Steuer ausgenommen, wenn sie nach dem Abkommen in der Schweiz besteuert werden können und die Arbeit in der Schweiz ausgeübt wird. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt. Für die Einkünfte des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit besteht nach Art. 15 Abs. 4 DBA-Schweiz 1992 in der Schweiz ein Besteuerungsrecht; die Tätigkeit gilt auch als an diesem Ort ausgeübt.
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a) Nach Art. 15 Abs. 4 Satz 1 DBA-Schweiz 1992 können vorbehaltlich des Art. 15a DBA-Schweiz 1992 die Einkünfte einer in Deutschland ansässigen Person aus einer Tätigkeit als Vorstandsmitglied, Direktor, Geschäftsführer oder Prokurist einer in der Schweiz ansässigen Kapitalgesellschaft in der Schweiz besteuert werden, sofern die Tätigkeit nicht so abgegrenzt ist, dass sie lediglich Aufgaben außerhalb der Schweiz umfasst. Besteuert die Schweiz diese Einkünfte nicht, so können sie in Deutschland besteuert werden (Art. 15 Abs. 4 Satz 2 DBA-Schweiz 1992).
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b) Der Kläger unterfiel dem in Art. 15 Abs. 4 DBA-Schweiz 1992 genannten Personenkreis.
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aa) Nach den Feststellungen des FG war der Kläger Mitglied des Verwaltungsrats der AG und von dem Verwaltungsrat zum "Delegierten" bestimmt worden. Er gehörte damit einerseits in seiner Eigenschaft als Mitglied des Verwaltungsrats demjenigen Gremium an, das nach dem Schweizer Recht die Geschäftsführung der AG überwachte. Zugleich war er andererseits als "Delegierter" des Verwaltungsrats mit der Führung der laufenden Geschäfte der AG betraut (Vorsitzender der Geschäftsleitung). Er übte mithin in der letztgenannten Eigenschaft eine Funktion aus, die nach deutschem Recht der Vorstand einer AG wahrnimmt.
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bb) Der "Delegierte" im Sinne des Schweizer Rechts wird zwar in Art. 15 Abs. 4 DBA-Schweiz 1992 nicht ausdrücklich aufgeführt. Er nimmt aber aus zivilrechtlicher Sicht eine Stellung ein, die im Hinblick auf die damit verbundene Leitungs- und Vertretungsmacht derjenigen des in Art. 15 Abs. 4 DBA-Schweiz 1992 genannten Prokuristen mindestens gleichsteht. Das rechtfertigt die Annahme, dass er in den von Art. 15 Abs. 4 DBA-Schweiz 1992 erfassten Personenkreis einzubeziehen ist (so im Ergebnis auch Toifl in Gassner/Lang, Besteuerung und Bilanzierung international tätiger Unternehmen, 1998, S. 390 ff.; Ronge/Perroulaz/Sutter, Internationales Steuerrecht --IStR-- 2010, 279, 280; Kubaile/Suter/Jakob, Der Steuer- und Investitionsstandort Schweiz, 2. Aufl., S. 321 f.; a.A. FG Münster, Urteil vom 15. Dezember 1998 2 K 5021/96 E, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1999, 371). Eine solche Auslegung ist nicht zuletzt deshalb sachgerecht, weil im Zweifel davon auszugehen ist, dass sich die Parteien eines Abkommens zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung wechselseitig gleich weit reichende Besteuerungsrechte einräumen wollen (Senatsurteil vom 5. März 2008 I R 54, 55/07, BFH/NV 2008, 1487); gegen diesen Grundsatz würde verstoßen, wenn man den in der Schweiz ansässigen Vorstand einer deutschen AG dem Anwendungsbereich des Art. 15 Abs. 4 DBA-Schweiz 1992 zuordnen, den damit vergleichbaren in Deutschland ansässigen "Delegierten" einer Schweizer AG aber nicht. Eine solche Handhabung wäre nur dann gerechtfertigt, wenn Anhaltspunkte dafür bestünden, dass die Vertragsstaaten den "Delegierten" einer Schweizer Kapitalgesellschaft bewusst aus dem Anwendungsbereich des Art. 15 Abs. 4 DBA-Schweiz 1992 ausgeschlossen haben; solche Anhaltspunkte bestehen aber nicht. Deshalb wird dieser Personenkreis ungeachtet des Fehlens einer ausdrücklichen Erwähnung in dieser Regelung von Art. 15 Abs. 4 DBA-Schweiz 1992 erfasst.
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cc) Der Senat geht hiernach nicht davon aus, dass die Einkünfte eines "delegierten Verwaltungsrats" einer Schweizer AG nur Art. 16 DBA-Schweiz 1992 unterfallen (so aber Beiser, Steuer & Wirtschaft International --SWI-- 2000, 199, 201 ff.; Aigner in Gassner/Lang/Lechner/Schuch/Staringer, Arbeitnehmer im Recht der Doppelbesteuerungsabkommen, 2003, S. 89, 94 ff.; Stefaner, SWI 2004, 68, 70 ff.; s.a. FG Münster, Urteil in EFG 1999, 371). Er schließt sich vielmehr der vorherrschenden Ansicht an, nach der Art. 16 DBA-Schweiz 1992 nur dann anwendbar sein kann, wenn die Aufgaben eines Verwaltungsratsmitglieds sich auf die Überwachung der Geschäftsleitung beschränken. Auf dieser Grundlage hat der erkennende Senat auch in seinem zum DBA-Schweiz 1992 ergangenen Urteil vom 11. November 2009 I R 15/09 (BFHE 227, 419, BStBl II 2010, 602) darauf verwiesen, dass der dortige Kläger als Mitglied des Verwaltungsrats (nur) eine Überwachungsfunktion bezüglich der Geschäftsführung ausgeübt hat, was die Anwendung des Art. 16 DBA-Schweiz 1992 in diesem Streitfall ermöglichte (s.a. zu anderen DBA: Senatsurteil in BFH/NV 2008, 1487 [DBA-Belgien]; Senatsurteil vom 5. Oktober 1994 I R 67/93, BFHE 175, 424, BStBl II 1995, 95 [DBA-Kanada]; Senatsurteil vom 23. Februar 2005 I R 46/03, BFHE 209, 241, BStBl II 2005, 547 [DBA-Spanien]). Diese Beschränkung des sachlichen Anwendungsbereichs wird auch von der Rechtsprechung in der Schweiz (Steuerrekurskommission Basel-Stadt vom 24. Januar 2008 [zum DBA Schweiz-Frankreich], abgedruckt in Locher/Meier/von Siebenthal/Kolb, Doppelbesteuerungsabkommen Schweiz-Deutschland, B 15.1 Nr. 81) und in Österreich (Verwaltungsgerichtshof, Erkenntnis vom 31. Juli 1996 92/13/0172, www.ris.bka.gv.at; s.a. Lang, SWI 1996, 427) sowie von weiten Teilen der Literatur getragen (z.B. Wassermeyer in Debatin/Wassermeyer, Doppelbesteuerung, MA Art. 16 Rz 2, 12 f., 15 ff., 22; Brandis, ebenda, Schweiz Art. 16 Rz 2, 16, 25; Kempermann in Flick/Wassermeyer/ Kempermann, Doppelbesteuerungsabkommen Deutschland-Schweiz, Art. 16 Rz 21, 23 f.; Prokisch in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl., Art. 16 Rz 12; Wilke in Gosch/Kroppen/Grotherr, DBA-Kommentar, Art. 16 OECD-MA Rz 1, 7, 19 f.; Schmidt in Haase, AStG/DBA, MA Art. 16 Rz 18, 22; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl., Rz 16.452; Höhn, Handbuch des Internationalen Steuerrechts der Schweiz, 2. Aufl., 1993, S. 198 f.; Locher, Einführung in das internationale Steuerrecht der Schweiz, 3. Aufl., S. 437 f.; Kubaile/Suter/Jakob, a.a.O., S. 321 f.; Sutter/Burgstaller in Gassner/Lang/Lechner/Schuch/Staringer, a.a.O., S. 49, 60 ff.; Ronge/Perroulaz/Sutter, IStR 2010, 279, 280). Sie führt im Streitfall dazu, dass die Tätigkeit des Klägers nicht Art. 16 DBA-Schweiz 1992, sondern Art. 15 Abs. 4 DBA-Schweiz 1992 unterfällt. Eine andere Beurteilung könnte allenfalls dann angezeigt sein, wenn Art. 15 Abs. 4 DBA-Schweiz 1992 hinter Art. 16 DBA-Schweiz 1992 zurückträte; das ist aber nach dem Wortlaut der Vorschrift, der einen Nachrang nur gegenüber Art. 15a DBA-Schweiz 1992 bestimmt, nicht der Fall.
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dd) Im Streitfall kann ferner davon ausgegangen werden, dass die von der AG gezahlte Vergütung der Tätigkeit des Klägers als "Delegierter" zuzuordnen ist. Die davon abweichende Würdigung seitens des FG, dass der Kläger diese Vergütung ausschließlich in seiner Eigenschaft als Verwaltungsrat der AG --und damit nicht für seine geschäftsleitende, sondern nur für eine überwachende Tätigkeit-- erhalten habe, wird von den Feststellungen des FG nicht getragen und ist deshalb für den Senat nicht bindend.
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aaa) Dem Verwaltungsrat i.S. des Art. 707 ff. OR, der die Gesellschaft nach außen vertritt (Art. 718 Abs. 1 Satz 1 OR), sind besondere Aufgaben übertragen; als unübertragbare und unentziehbare Aufgabe sieht die Nr. 1 von Art. 716a Abs. 1 OR "die Oberleitung der Gesellschaft und die Erteilung der nötigen Weisungen" vor, sowie dessen Nr. 5 "die Oberaufsicht über die mit der Geschäftsführung betrauten Personen ...". Darüber hinaus führt der Verwaltungsrat --durch alle Mitglieder "gesamthaft"-- die Geschäfte der Gesellschaft, soweit er die Geschäftsführung nicht übertragen hat (Art. 716 Abs. 2, Art. 716b Abs. 3 OR). Dazu heißt es in Art. 716b Abs. 1 OR, dass die Statuten den Verwaltungsrat ermächtigen können, die Geschäftsführung nach Maßgabe eines Organisationsreglements ganz oder zum Teil an einzelne Mitglieder oder an Dritte zu übertragen. Eine solche Delegation --und zwar auf den Kläger-- ist nach den Feststellungen des FG im Streitfall erfolgt.
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bbb) Auch wenn ein geschäftsführender Verwaltungsrat damit rechtlich sowohl geschäftsführende als auch geschäftsführungsüberwachende Funktionen hat, ist der Rechtsgrund für die Zahlung einer Vergütung --als maßgeblicher Zuordnungsgrund (insoweit zutreffend FG Münster, Urteil in EFG 1999, 371)-- im Zweifel zumindest auch der Geschäftsleitung zuzuordnen. Denn einerseits bleibt, wenn der Verwaltungsrat der Gesellschaft mit Blick auf die Verwaltungsratstätigkeit keine gesonderte Vergütung (z.B. "Honorar" als Forderung aus Dienstvertrag oder Auftrag; Sitzungsgeld) beschließt, diese Tätigkeit ohne Vergütung (s.a. Kempermann in Flick/Wassermeyer/Kempermann, a.a.O., Art. 16 Rz 25 a.E.; für den deutschen Aufsichtsrat s.a. § 113 Abs. 1 Satz 1 des Aktiengesetzes). Andererseits wird eine geschäftsführende Tätigkeit auch mit Blick auf eine damit verbundene arbeitstägliche Belastung nicht ohne gesonderte Entgeltvereinbarung ("Arbeitslohn") ausgeübt werden. Nicht ausgeschlossen erscheint zwar im Einzelfall, eine Aufteilung gemischt-veranlasster Vergütungen bei vorhandenen objektiven Abgrenzungskriterien vorzunehmen (s. Senatsurteil in BFHE 209, 241, BStBl II 2005, 457; Ronge/Perroulaz/Sutter, IStR 2010, 279, 280), etwa wenn der Verwaltungsrat eine Vergütung der Mitglieder beschließt, die Vergütung aber für das geschäftsführende Mitglied mit seinem Anspruch aus einer Geschäftsführervereinbarung verrechnet wird (zum Ausschluss einer Aufteilung bei fehlenden objektiven Kriterien und zur Zuweisung der Vergütung nach ihrem "bestimmenden wirtschaftlichen Gehalt", der in aller Regel im Bereich der geschäftsführenden Tätigkeit liegen wird, s. ebenfalls Senatsurteil in BFHE 209, 241, BStBl II 2005, 457; Prokisch in Vogel/Lehner, a.a.O., Art. 16 Rz 15; Wilke in Gosch/Kroppen/Grotherr, a.a.O., Art. 16 OECD-MA Rz 8, 20 a.E.). Die Möglichkeit einer solchen Aufteilung hat das FG aber ausdrücklich verneint. Das allein spricht schon dafür, die vom Kläger bezogene Vergütung dessen Geschäftsleitungstätigkeit und damit abkommensrechtlich Art. 15 Abs. 4 DBA-Schweiz 1992 zuzuordnen.
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ccc) Hinzu kommt, dass die streitigen Einkünfte des Klägers auf einem Arbeitsvertrag beruhen, der noch vor der Bestellung des Klägers zum Verwaltungsrat der AG abgeschlossen worden ist. Damit sind die im Anstellungsvertrag vereinbarten Bezüge zumindest in erster Linie für die Tätigkeit des Klägers als Mitglied der Geschäftsleitung der AG gezahlt worden. Damit stimmt überein, dass der Kläger der AG seine Arbeitskraft mit festgelegter wöchentlicher Arbeitszeit und Urlaubsanspruch schuldete. Und schließlich spricht auch die Höhe der Bezüge dafür, dass diese nicht eine überwachende, sondern zumindest im Wesentlichen die geschäftsleitende Tätigkeit des Klägers abgelten sollte. Daher unterfällt die Vergütung, nachdem eine Aufteilungsmöglichkeit insoweit nicht besteht, vollen Umfangs dem Anwendungsbereich des Art. 15 Abs. 4 DBA-Schweiz 1992.
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c) Das FG hat nicht festgestellt, dass die Tätigkeit des Klägers lediglich Aufgaben außerhalb der Schweiz umfasste (Art. 15 Abs. 4 Satz 1 letzter Halbsatz DBA-Schweiz 1992). Außerdem wurden die Einkünfte des Klägers aus seiner Tätigkeit für die AG in der Schweiz besteuert (Art. 15 Abs. 4 Satz 2 DBA-Schweiz 1992).
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3. Das FG hätte auf dieser Grundlage zu berücksichtigen, dass die Tätigkeit des Klägers i.S. des Art. 24 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. d DBA-Schweiz 1992 als in der Schweiz ausgeübt gilt; der Senat verweist, um insoweit Wiederholungen zu vermeiden, auf das Senatsurteil vom 11. November 2009 I R 83/08 (BFHE 227, 402, BStBl II 2010, 781). Ob allerdings die Anwendung des Art. 15 Abs. 4 Satz 1 DBA-Schweiz 1992 im Streitfall durch Art. 15a DBA-Schweiz 1992 ausgeschlossen ist, da der Kläger nicht nachgewiesen hat, dass er in den Streitjahren jeweils an mehr als 60 Arbeitstagen aufgrund seiner Arbeitsausübung nicht an seinen Wohnsitz zurückgekehrt ist (Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz 1992), lässt sich auf der Grundlage der Feststellungen des FG nicht entscheiden. Denn das FG hat die Reiselisten des Klägers zwar in seine Feststellungen aufgenommen, jene aber für 2000 bis 2002 keiner weiteren Prüfung unterworfen, da es Art. 16 DBA-Schweiz 1992 herangezogen hat.
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a) Nach Art. 15a Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz 1992 sind Gehälter, Löhne und ähnliche Vergütungen, die ein Grenzgänger aus unselbständiger Arbeit bezieht, in dem Vertragsstaat zu besteuern, in dem dieser ansässig ist. Grenzgänger i.S. des Art. 15a Abs. 1 DBA-Schweiz 1992 ist jede in einem Vertragsstaat ansässige Person, die im anderen Vertragsstaat ihren Arbeitsort hat und von dort regelmäßig an ihren Wohnsitz zurückkehrt (Art. 15a Abs. 2 Satz 1 DBA-Schweiz 1992). Kehrt diese Person nicht jeweils nach Arbeitsende an ihren Wohnsitz zurück, so entfällt nach Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz 1992 die Grenzgängereigenschaft nur dann, wenn sie bei einer Beschäftigung während des gesamten Kalenderjahres an mehr als 60 Arbeitstagen aufgrund ihrer Arbeitsausübung nicht an ihren Wohnsitz zurückkehrt.
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b) Im Streitfall hat das FG die Reiselisten des Klägers 2000 bis 2002 einer den Maßgaben des Senaturteils vom 11. November 2009 I R 15/09 (BFHE 227, 419, BStBl II 2010, 602) entsprechenden Prüfung nicht unterworfen. Dies ist nachzuholen. Dabei ist --wie das FG zutreffend zum Streitjahr 2009 ausgeführt hat-- eine Nichtrückkehr, die durch eine weitere Tätigkeit (hier: geschäftsführungsüberwachende Verwaltungsratstätigkeit) veranlasst ist, aus der Zählung auszusondern (Senatsurteil in BFHE 227, 419, BStBl II 2010, 602), ebenfalls Übernachtungen am Wochenende (Samstag/Sonntag), da an diesen Tagen keine Arbeitsverpflichtung besteht (s. ebenfalls das Senatsurteil in BFHE 227, 419, BStBl II 2010, 602). Nach dem Vortrag der Beteiligten in der Revisionsinstanz ist streitentscheidend, ob die Reisen 2000 bis 2002 mit der Bezeichnung "Ort: … (CH); Anlass: Vorstandssitzung" der geschäftsführenden Tätigkeit des Klägers (so der Vortrag der Kläger) oder der geschäftsführungsüberwachenden Tätigkeit als Verwaltungsrat zuzuweisen ist; diese Würdigung obliegt dem FG.
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4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 2 FGO. Auch bei nur teilweiser Zurückverweisung der Sache ist dem FG die Entscheidung über die gesamten Kosten des Verfahrens zu übertragen (Grundsatz der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung).
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Referenzen
- Urteil vom Finanzgericht Baden-Württemberg - 3 K 3006/08 1x
- 2009 I R 83/08 1x (nicht zugeordnet)
- 1994 I R 67/93 1x (nicht zugeordnet)
- 2005 I R 46/03 1x (nicht zugeordnet)
- FGO § 120 1x
- FGO § 56 1x
- 2 K 5021/96 1x (nicht zugeordnet)
- 2009 I R 15/09 2x (nicht zugeordnet)
- FGO § 143 1x
- FGO § 118 1x
- FGO § 126 1x