Urteil vom Bundesfinanzhof (3. Senat) - III R 16/17

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Thüringer Finanzgerichts vom 6. April 2017  1 K 276/15 aufgehoben.

Die Sache wird an das Thüringer Finanzgericht zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.

Tatbestand

I.

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Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist der Vater eines im Oktober 1991 geborenen Sohnes (S). S schloss im März 2010 einen Vertrag über die Ausbildung zum ... ab. Die Ausbildung begann im August 2010 und sollte bis Februar 2014 dauern.
In einem gegen S eingeleiteten Strafverfahren wurde diesem vorgeworfen, sich neben weiteren Angeklagten zu einem Raub mit schwerer Körperverletzung verabredet zu haben. S wurde deshalb von Oktober 2012 bis November 2013 in Untersuchungshaft genommen. Die Untersuchungshaft fand in einer Justizvollzugsanstalt statt, die für eine Strafhaft von männlichen Personen ab 21 Jahren ausgerichtet ist und in der --unabhängig von der Inhaftierung als Untersuchungsgefangener-- keine Möglichkeit bestand, eine Ausbildung durchzuführen.

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Mit Schreiben vom ... November 2012 kündigte der Ausbildungsbetrieb das Ausbildungsverhältnis unter Hinweis darauf, dass S seit ... Oktober 2012 unentschuldigt im Ausbildungsbetrieb und in der Berufsschule gefehlt habe.

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In der im Dezember 2014 über die Anklage geführten Hauptverhandlung wurde S freigesprochen. Der Freispruch des S wurde im Jahr 2016 durch ein Urteil des Bundesgerichtshofs bestätigt.

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Mit Bescheid vom 3. September 2014 hob die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) die gegenüber dem Kläger für S erfolgte Kindergeldfestsetzung ab November 2012 auf und forderte das für den Zeitraum November 2012 bis Januar 2014 bereits ausbezahlte Kindergeld in Höhe von 2.760 € vom Kläger zurück. Den dagegen gerichteten Einspruch wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 10. April 2015 als unbegründet zurück.

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Das Finanzgericht (FG) gab der hiergegen gerichteten Klage für den Zeitraum November 2012 bis November 2013 statt. Im Übrigen wies es die Klage als unbegründet zurück.

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Mit der dagegen gerichteten Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts.

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Die Familienkasse beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit das FG den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 3. September 2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 10. April 2015 für den Zeitraum November 2012 bis November 2013 aufgehoben hat, und die Klage auch insoweit abzuweisen.

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Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

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Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, soweit darin der Klage für den Zeitraum November 2012 bis November 2013 stattgegeben wurde, und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat auf der Grundlage der von ihm getroffenen Feststellungen zu Unrecht entschieden, dass dem Kläger für den Zeitraum, in dem sich S in Untersuchungshaft befand, weiterhin Kindergeld für S zustand.

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1. Dem Kläger stand kein Kindergeldanspruch wegen einer Berufsausbildung des S zu.

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a) Nach §§ 62 Abs. 1 Satz 1, 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a des Einkommensteuergesetzes (EStG) wird ein Kind, das das 18. Lebensjahr, aber noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet hat, kindergeldrechtlich berücksichtigt, wenn es für einen Beruf ausgebildet wird. Für die Frage, ob das Kind für einen Beruf "ausgebildet wird", kommt es nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) nicht auf das formale Weiterbestehen eines Ausbildungsverhältnisses an, sondern darauf, dass auf die Ausbildung gerichtete Maßnahmen tatsächlich durchgeführt werden (Senatsurteile vom 20. Juli 2006 III R 69/04, BFH/NV 2006, 2067, Rz 13, m.w.N.; vom 24. September 2009 III R 79/06, BFH/NV 2010, 614, Rz 14, und vom 5. Juli 2012 III R 80/09, BFHE 238, 76, BStBl II 2012, 816, Rz 14; BFH-Urteil vom 23. Januar 2013 XI R 50/10, BFHE 240, 300, BStBl II 2013, 916, Rz 13).

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b) Im Streitfall ist daher entgegen der Ansicht des Klägers nicht darauf abzustellen, ob das Ausbildungsverhältnis während der Inhaftierung des S vom Ausbildungsbetrieb wirksam gekündigt wurde. Denn auch im Falle des Fortbestehens des Ausbildungsverhältnisses trat durch die Untersuchungshaft eine Unterbrechung der Ausbildung ein. S führte während der Untersuchungshaft jedenfalls weder im Rahmen seines bei dem Ausbildungsbetrieb begonnenen Ausbildungsverhältnisses weitere auf die Ausbildung gerichtete Maßnahmen (innerbetriebliche Ausbildung, Berufsschulbesuche) durch noch fand in der Haftanstalt eine andere Berufsausbildung statt.

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aa) Bei einer Unterbrechung der Ausbildung durch eine Untersuchungshaft des Kindes hat der Senat im Urteil in BFH/NV 2006, 2067 einen Kindergeldanspruch nach § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG ausnahmsweise trotz Fehlens von Ausbildungsmaßnahmen anerkannt. Entgegen der Auffassung des FG genügt es aber insoweit nicht, dass das Kind später freigesprochen wird und deshalb die Unterbrechung seiner Ausbildung nicht zu vertreten hat. Voraussetzung ist vielmehr auch, dass es sich um eine nur vorübergehende Unterbrechung der Ausbildung handelt (Senatsurteil in BFH/NV 2006, 2067, Rz 15).

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bb) An letzterer Voraussetzung fehlt es im Streitfall, da S nach den Feststellungen des FG auch nach der im November 2013 beendeten Untersuchungshaft seine Ausbildung in dem Betrieb nicht fortgesetzt und keine auf eine Ausbildung gerichteten Maßnahmen mehr durchgeführt hat.

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2. Die vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen reichen nicht aus, um einen Kindergeldanspruch des Klägers unter dem Gesichtspunkt zu bejahen, dass S eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht beginnen oder fortsetzen konnte.

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a) Nach §§ 62 Abs. 1 Satz 1, 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG wird ein Kind, das das 18. Lebensjahr, aber noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet hat, kindergeldrechtlich berücksichtigt, wenn es eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht beginnen oder fortsetzen kann. Dabei ist zwar grundsätzlich jeder Ausbildungswunsch des Kindes zu berücksichtigen; seine Verwirklichung darf jedoch nicht an den persönlichen Verhältnissen des Kindes scheitern (BFH-Urteil vom 15. Juli 2003 VIII R 71/99, BFH/NV 2004, 473, Rz 13, m.w.N.). Zudem muss das Kind die Ausbildungsstelle im Falle des Erfolgs seiner Bemühungen auch antreten können (BFH-Urteil vom 15. Juli 2003 VIII R 79/99, BFHE 203, 94, BStBl II 2003, 843, Rz 13; Senatsurteil vom 27. September 2012 III R 70/11, BFHE 239, 116, BStBl II 2013, 544, Rz 26).

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Nach ständiger Rechtsprechung erfordert dieser Berücksichtigungstatbestand, dass sich das Kind ernsthaft um einen Ausbildungsplatz bemüht (Senatsurteile vom 19. Juni 2008 III R 66/05, BFHE 222, 343, BStBl II 2009, 1005, Rz 12, und vom 22. September 2011 III R 30/08, BFHE 235, 327, BStBl II 2012, 411, Rz 9; BFH-Urteile vom 26. August 2014 XI R 14/12, BFH/NV 2015, 322, Rz 21, und vom 18. Juni 2015 VI R 10/14, BFHE 250, 145, BStBl II 2015, 940, Rz 24). Dabei ist das Bemühen um einen Ausbildungsplatz glaubhaft zu machen. Pauschale Angaben, das Kind sei im fraglichen Zeitraum ausbildungsbereit gewesen, es habe sich ständig um einen Ausbildungsplatz bemüht oder sei stets bei der Agentur für Arbeit als ausbildungssuchend gemeldet gewesen, reichen nicht aus. Um einer missbräuchlichen Inanspruchnahme des Kindergeldes entgegenzuwirken, muss sich die Ausbildungsbereitschaft des Kindes durch belegbare Bemühungen um einen Ausbildungsplatz objektiviert haben (Senatsurteile in BFHE 222, 343, BStBl II 2009, 1005, Rz 13 f., und in BFHE 235, 327, BStBl II 2012, 411, Rz 10 f.).

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b) Nachdem das FG im Streitfall einen Kindergeldanspruch bereits nach § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG bejaht hatte, traf es --aus seiner Sicht zu Recht-- keine Feststellungen zu der weiteren Frage, ob S sich während seiner Haft ernsthaft und in belegbarer Weise um eine Ausbildungsstelle bemüht hatte.

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3. Die Streitsache wird zur Nachholung entsprechender Feststellungen an das FG zurückverwiesen. Der Senat weist ferner darauf hin, dass das Bestehen einer typischen Unterhaltssituation nach mittlerweile ständiger Rechtsprechung nicht mehr als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der einzelnen Berücksichtigungstatbestände gefordert wird (z.B. Senatsurteile vom 17. Juni 2010 III R 34/09, BFHE 230, 61, BStBl II 2010, 982, Rz 13, und vom 8. September 2016 III R 27/15, BFHE 255, 202, BStBl II 2017, 278, Rz 28).

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4. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.

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