Beschluss vom Bundesgerichtshof (1. Strafsenat) - 1 ARs 5/16

Tenor

Die beabsichtigte Entscheidung des 3. Strafsenats widerspricht der Rechtsprechung des 1. Strafsenats, der an dieser festhält.

Gründe

I.

1

Der 3. Strafsenat hat über die Revision eines Angeklagten zu entscheiden, der wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 35 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt worden ist. Nach den Feststellungen des Landgerichts kam es zwischen 1990 und 1994 zu sexuellen Missbrauchstaten des Angeklagten zu Lasten seiner im März 1985 geborenen Tochter. Während der Taten erklärte er seiner Tochter, dies gehöre dazu und eine gute Tochter mache das so. Er schärfte ihr auch ein, sie dürfe niemandem von den Geschehnissen berichten, da ihm sonst Gefängnis drohe. Der 3. Strafsenat möchte das Urteil im gesamten Strafausspruch aufheben. Anlass hierzu gibt ihm die Wertung des Landgerichts, wonach zwar zugunsten des Angeklagten spreche, dass die Taten inzwischen sehr lange zurück lägen, dieser Umstand jedoch nicht in gleicher Weise wie bei anderen Straftaten berücksichtigt werden könne, da der sexuelle Kindesmissbrauch im familiären Umfeld geschehen und die späte Anzeige der Tat hierdurch mitbedingt gewesen sei, so dass die gesetzgeberische Wertung des § 78b StGB tangiert werde. Der anfragende Senat sieht hierin eine sachlich nicht gerechtfertigte Vermischung von Gesichtspunkten der Strafzumessung mit solchen der Verjährung. Er beabsichtigt daher zu entscheiden:

„Dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil kommt im Rahmen der Strafzumessung bei Taten des sexuellen Missbrauchs eines Kindes die gleiche Bedeutung zu wie bei anderen Straftaten.“

2

Hieran sieht er sich jedoch durch entgegenstehende Rechtsprechung des 1. Strafsenats (Senat, Beschluss vom 8. Februar 2006 – 1 StR 7/06) gehindert.

II.

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An der in dem in Bezug genommenen Beschluss geäußerten Rechtsansicht hält der Senat grundsätzlich fest.

4

Der Senat hat damals ausgeführt, dass dem langen zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil bei Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs nicht eine gleich hohe Bedeutung wie in anderen Fällen zukomme. Dies gelte insbesondere in den Fällen, in denen ein Kind vom im selben Familienverband lebenden Vater missbraucht werde und erst im Erwachsenenalter die Kraft zu einer Aufarbeitung des Geschehens mit Hilfe einer Strafanzeige finde. Deshalb habe der Gesetzgeber auch die besondere Verjährungsregelung in § 78b StGB getroffen.

5

Der Senat hatte sich dabei auf eine frühere Entscheidung des anfragenden Senats (Urteil vom 10. November 1999 – 3 StR 361/99, NJW 2000, 748, 749) gestützt. Dem lag eine Verurteilung des Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs der Tochter zugrunde. Einwänden gegen die Strafzumessung – insbesondere unter dem Aspekt der nicht ausreichenden Berücksichtigung des langen zeitlichen Abstands zwischen Tat und Urteil – hat der anfragende Senat damals entgegengehalten, dass gerade dem langen zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil bei solchen Missbrauchsfällen nur eine eingeschränkte Bedeutung zukomme. Denn kindliche Opfer, insbesondere wenn sie vom im gleichen Familienverband lebenden eigenen Vater missbraucht werden, fänden häufig erst im Erwachsenenalter die Kraft zu einer Aufarbeitung des Geschehens mit Hilfe einer Strafanzeige. Dem entspreche, dass der Gesetzgeber mit der durch das 30. StrÄndG eingeführten Regelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB das Ruhen der Verjährung bei Straftaten nach §§ 176 bis 179 StGB bis zur Vollendung des achtzehnten Lebensjahres des Opfers angeordnet und damit zu erkennen gegeben habe, dass er solche Delikte auch noch nach längerem zeitlichen Abstand für verfolgungswürdig erachtet.

III.

6

Mit welchem Gewicht sich der Zeitablauf bei Taten des sexuellen Missbrauchs von Kindern strafmildernd auswirkt, kann nicht allgemein, sondern nur nach Lage des Einzelfalls beurteilt werden. Der Senat hält daran fest, dass das Tatgericht dabei die gesetzgeberische Wertung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB berücksichtigen darf.

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1. Der Senat ist mit dem anfragenden Senat und der einhelligen Rechtsprechung der Ansicht, dass allein einem besonders langen Zeitraum, der zwischen der Tat und dem Urteil liegt – unabhängig von der Dauer des Strafverfahrens –, strafmildernde Wirkung zukommt (vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 21. Dezember 1998 – 3 StR 561/98, NJW 1999, 1198; vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 141 f. und vom 29. September 2015 – 2 StR 128/15, NStZ-RR 2016, 7). Dies gilt grundsätzlich für alle Delikte (vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 5. Aufl., Rn. 746: „bei den meisten Delikten“), auch für die Taten des sexuellen Missbrauchs von Kindern; ausgenommen sind lediglich solche Delikte, bei denen nach der gesetzgeberischen Entscheidung nur das aus der Verwirklichung von objektivem und subjektivem Tatbestand abzuleitende Tatunrecht die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe rechtfertigt (BVerfG, Beschluss vom 3. Juni 1992 – 2 BvR 1041/88, 78/89, BVerfGE 86, 288, 310, 323).

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2. Die strafzumessungstheoretische Verankerung dieses gegenüber der Verfahrensdauer unabhängigen (vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 29. September 2015 – 2 StR 128/15, NStZ-RR 2016, 7; vom 21. Dezember 1998 – 3 StR 561/98, NJW 1999, 1198; vom 24. Juli 1991 – 5 StR 286/91, NStZ 1992, 78 und vom 29. November 1985 – 2 StR 596/85; NStZ 1986, 217) Strafzumessungsaspekts ist hingegen in der Rechtsprechung nicht eindeutig (vgl. zusammenfassende Darstellung bei Stahl, Strafzumessungstatsachen zwischen Verbrechenslehre und Straftheorie, 2015, S. 158; kritisch zur Behandlung durch die Rechtsprechung Frisch, 50 Jahre Bundesgerichtshof: Festgabe aus der Wissenschaft, 2000, Bd. 4, S. 269, 298).

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a) Schon in einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone (Urteil vom 26. Oktober 1948 – StS 59/48, OGHSt 1, 119, 121) wird die lange Zeitspanne als Strafzumessungsaspekt anerkannt. Als Begründung der strafmildernden Wirkung wird darauf abgestellt, dass die Zeit schließlich auch schwere Wunden heile, und je weniger im Laufe der Zeit der Schaden empfunden werde, den jemand schuldhaft einem anderen zugefügt habe, umso geringer werde in der Regel das Sühnebedürfnis. Dieser Gedanke sei vom Gesetzgeber anerkannt, wie die Vorschriften über die Verjährung belegten. Konnte allerdings die Tat nicht durch deutsche Gerichte gesühnt werden, würden die Verletzungen sowohl durch das Opfer als auch durch die Allgemeinheit als unverändert schmerzhaft empfunden, ihr Sühnebedürfnis bestehe ungemindert fort. Deswegen müsse diese Zeitspanne unberücksichtigt bleiben; der gesetzlich vorgesehene Ausschluss der Verjährung zeige, dass allein dies dem Gesetz entspreche (so auch OGH, Urteil vom 28. Juni 1949 – StS 16/49, OGHSt 2, 94, 98).

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b) aa) Diesen Erwägungen hat sich der Bundesgerichtshof angeschlossen (BGH, Urteile vom 25. September 1952 – 4 StR 26/50 und vom 24. Januar 1952 – 4 StR 10/50). Dabei ist für die Frage der gerechten Sühne trotz Zeitablaufs die Sicht des Geschädigten gegenüber den Interessen der Allgemeinheit hervorgehoben worden. Habe er empfinden müssen, dass eine Sühne während dieses Zeitraums unmöglich war, so könne die heilende Wirkung des Zeitablaufs nicht eintreten (BGH, Urteil vom 27. November 1951 – 1 StR 303/51, BGHSt 2, 20, 22).

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bb) In der Folge hat die Rechtsprechung die strafmildernde Wirkung des Zeitablaufs materiell mit einem geminderten Sühneanspruch (BGH, Beschluss vom 20. Februar 1998 – 2 StR 20/98, NStZ-RR 1998, 205) bzw. allgemein abnehmendem Strafbedürfnis (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 141 f.; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 19. April 1993 – 2 BvR 1487/90, NJW 1993, 3254) oder abnehmendem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung begründet (BVerfG, Beschluss vom 5. Februar 2003 – 2 BvR 327/02 u.a., NJW 2003, 2225).

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cc) Daneben ist aber in zunehmendem Umfang auf durch den Zeitablauf beeinflusste spezialpräventive Aspekte der Strafzumessung zur Begründung der strafmildernden Wirkung abgestellt worden. Jedenfalls dann, wenn der Täter sich während des langen Zeitablaufs zwischen Tat und Urteil straffrei verhalten habe, wirke dies strafmildernd (vgl. BGH, Urteil vom 19. Januar 1972 – 2 StR 607/71; Beschluss vom 6. September 1988 – 1 StR 473/88, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 3), bzw. erfordere dies eine gesteigerte Prüfung der Wirkungen der Strafe für den Täter (BGH, Beschluss vom 20. Februar 1998 – 2 StR 20/98, NStZ-RR 1998, 205; vgl. hierzu auch BVerfG, Beschluss vom 5. Februar 2003 – 2 BvR 327/02 u.a., NJW 2003, 2225; BGH, Urteil vom 31. Oktober 1995 – 5 StR 470/94, NStZ-RR 1996, 120 und Beschluss vom 20. April 2005 – 5 StR 73/05 jeweils zu den Zwecken des Jugendstrafrechts entgegenstehenden Zeitablaufs). Auch sonstige, sich seit den Taten geänderte persönliche Umstände sind zur Gewichtung der strafmildernden Wirkung des Zeitablaufs herangezogen worden (BGH, Urteil vom 20. Dezember 1995 – 2 StR 468/95, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Zeitablauf 1: vorgerücktes Alter und angegriffener Gesundheitszustand).

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dd) Vereinzelt ist der Belastung des Angeklagten durch den Zeitablauf zwischen Tat und Aburteilung strafmildernde Wirkung zuerkannt worden (BGH, Beschluss vom 24. Juli 1991 – 5 StR 286/91, NStZ 1992, 78).

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3. Auch in der Literatur ist die strafmildernde Wirkung des Zeitablaufs zwischen Tat und Urteil anerkannt (Fischer, StGB, 63. Aufl., § 46 Rn. 61; MünchKommStGB/Miebach, 2. Aufl., § 46 Rn. 152). Soweit Erklärungsansätze hierfür unternommen werden, variieren diese, was auch durch abweichende strafzumessungstheoretische Fundamente bedingt ist. So wird darauf abgestellt, dass die Zeit schließlich auch schwere Wunden heile; mit ihrem Ablauf schwäche sich auch das Sühnebedürfnis ab und wandelten sich die präventiven Erfordernisse (Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974, S. 461; ders., Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl. 1985, S. 181). Es wird auch argumentiert, dass die durch Zeitablauf eingetretene Entdramatisierung des deliktischen Geschehens und eine zwischenzeitliche soziale Bewährung des Täters als Strafmilderungsgründe in Betracht kommen (Streng, JR 2006, 256), der Zeitablauf den Normgeltungsschaden verringere (NK/Streng, StGB, 4. Aufl., § 46 Rn. 88), bzw. der Notwendigkeit der Wiederherstellung des Rechts eine gewisse zeitliche Dimension innewohne (Frisch aaO, S. 269, 299 f.; vgl. auch Stahl aaO, S. 159: Reaktionsbedürfnis) oder dass der Ablauf der Zeit Tat und Täter unter den Aspekten von Schuld und Spezialprävention in einem günstigeren Licht erscheinen lasse, als es bei schneller Ahndung der Fall gewesen wäre, so etwa bei jahrelanger einwandfreier Führung und völliger Überwindung der Folgen der Tat durch den Verletzten (LK/Theune, StGB, 12. Aufl., § 46 Rn. 240).

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4. Der Senat ist auf dem Boden dieser dargestellten Rechtsprechung ebenfalls der Ansicht, dass die strafmildernde Wirkung des Zeitablaufs bei hiervon unbeeinflusster Tatschuld auf einem allgemein abnehmenden Strafbedürfnis bzw. einer geminderten Notwendigkeit von Sühne beruht. Daneben wird ein langer Zeitablauf aber auch besondere Prüfungspflichten im Hinblick auf spezialpräventiv wirksame Umstände für die Strafzumessung auslösen.

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Im Ergebnis entspricht dies auch der Sichtweise der dargestellten Stimmen aus der Wissenschaft, ohne dass es einer Auseinandersetzung mit den die unterschiedlichen Ausdrucksformen bedingenden Strafzumessungskonzepten bedürfte. Vor allem aber stimmt diese Sicht mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben überein, wonach die Strafe in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Täters stehen muss. Strafe hat die Bestimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 2015 – 2 BvR 2735/14, NJW 2016, 1149 mwN). Ihre Zumessung wird dementsprechend durch das Maß der Schuld und der Strafbedürftigkeit begrenzt (BVerfG, Beschluss vom 15. Mai 1995 – 2 BvL 19/91 u.a., BVerfGE 92, 277, 326).

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5. Die Anerkennung eines abnehmenden Strafbedürfnisses bzw. eines sich verringernden Sühneanspruchs in Folge von Zeitablauf führt aber zu der Notwendigkeit der individuellen Gewichtung dieses Faktors in Bezug auf die Bemessung der schuldangemessenen Strafe.

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Inwieweit das Strafbedürfnis abnimmt bzw. sich das Sühnebedürfnis verringert, und in welchem Maße sich dadurch der Zeitablauf strafmildernd auswirkt, obliegt der Wertung des Tatgerichts. Denn diese Wertung ist Teil der Strafzumessung und damit grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Es ist seine Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den es in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und hierbei gegeneinander abzuwägen (vgl. hierzu nur BGH, Urteil vom 4. August 2015 – 1 StR 624/14, NJW 2015, 3047). Ein Eingriff des Revisionsgerichts in diese Einzelakte der Strafzumessung ist in der Regel nur möglich, wenn das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstößt oder wenn sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung löst, gerechter Schuldausgleich zu sein. Nur in diesem Rahmen kann eine Verletzung des Gesetzes (§ 337 Abs. 1 StPO) vorliegen (BGH, Beschluss vom 10. April 1987 – GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 349). Dies gilt auch für die Gewichtung des Zeitablaufs (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juni 2008 – 5 StR 180/08, NStZ-RR 2008, 307).

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6. Der Senat hält es nach diesen Maßgaben für rechtsfehlerfrei, wenn das Tatgericht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls für die Bewertung der Abnahme des Strafbedürfnisses und der Minderung des Sühneanspruchs auf die gesetzgeberischen Wertungen zurückgreift, die in den Verjährungsvorschriften zum Ausdruck gekommen sind. Der Ansicht des anfragenden Senats (zustimmend der 2. Strafsenat [Beschluss vom 6. April 2016 – 2 StR 219/15]), dass das Gewicht des Zeitablaufs von der Länge der Verjährungsfrist nicht beeinflusst werden dürfe, kann der Senat nicht teilen.

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a) Die entsprechende Anknüpfung an die Verjährungsvorschriften entspricht der bisherigen Rechtsprechung auch jenseits der Entscheidungen des Senats vom 8. Februar 2006 – 1 StR 7/06 und des anfragenden Senats vom 10. November 1999 – 3 StR 361/99 zur Frage, wie sich der Zeitablauf bei Taten des sexuellen Missbrauchs von Kindern auswirkt.

21

So findet sich der Rückgriff auf die in den Verjährungsvorschriften zum Ausdruck gekommene Wertentscheidung bei der Gewichtung der Wirkung des Zeitablaufs schon in den oben unter III. 2. a) dargestellten Entscheidungen des OGH, auf die der Bundesgerichtshof ausdrücklich Bezug genommen hat. Aber auch in späteren Entscheidungen wurden die Wertungen der Verjährungsvorschriften vom Bundesgerichtshof entsprechend herangezogen. So ist ein Zeitraum zwischen Tat und Aburteilung, der fast an das Doppelte der gesetzlichen Verjährungsfrist heranreicht, als in der Regel wesentlicher Strafmilderungsgrund bewertet worden (BGH, Beschluss vom 22. Januar 1992 – 3 StR 440/91, NStZ 1992, 229). In einem Fall ist die tatrichterliche Gewichtung der Strafmilderung einer Zeitspanne zwischen Taten und Urteil deswegen für unzureichend erachtet worden, da der Zeitablauf an die absolute Verjährung heranreiche (BGH, Beschluss vom 26. Juli 1994 – 5 StR 113/94, StV 1995, 130). Hingegen ist dem Zeitablauf zwischen Tat und Aburteilung der Charakter eines bestimmenden Strafzumessungsgrundes in dem zu beurteilenden Fall aberkannt worden. Das wurde damit begründet, dass das Zeitmoment im konkreten Fall eines schweren und vom Gesetzgeber in § 78 Abs. 3 Nr. 1 StGB mit einer 30-jährigen Verjährungsfrist versehenen Kapitaldelikts als Strafzumessungsgesichtspunkt in den Hintergrund trete (BGH, Beschluss vom 7. Juni 2011 – 4 StR 643/10, StV 2011, 603).

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Die Sicht auf die Verknüpfung in dem dargelegten Sinne wird auch vom Bundesverfassungsgericht geteilt, wenn es ausführt, dass der Gesetzgeber durch die Vorschrift des § 78 Abs. 2 StGB klar gestellt habe, dass er bei dem Delikt des Mordes selbst lange, zwischen Tatbegehung und Verurteilung liegende Zeiträume nicht als schuldmindernd bewertet wissen wolle und diese Zeitspannen auch das staatliche Interesse an der Strafverfolgung nicht beeinträchtigen (BVerfG, Beschluss vom 21. Juni 2006 – 2 BvR 750/06 u.a., NStZ 2006, 680, 682; vgl. hierzu auch BGH, Urteil vom 21. Februar 2002 – 1 StR 538/01, StV 2002, 598). In einem Disziplinarverfahren hat es beanstandet, dass das Oberlandesgericht den Zeitablauf von sieben Jahren seit der letzten Disziplinarmaßnahme nicht zugleich mildernd in Rechnung gestellt habe, denn immerhin sei damit die Verjährungsfrist mittelschwerer Straftaten überschritten (BVerfG, Beschluss vom 12. August 2015 – 2 BvR 2646/13).

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b) Die in der dargestellten Rechtsprechung zum Ausdruck gekommene Sicht auf die wertungsmäßig verwandte Gewichtung von nachlassendem Strafbedürfnis bzw. vermindertem Sühneanspruch als Strafzumessungsgesichtspunkt und als Ausgangspunkt für die gesetzgeberischen Entscheidungen zur Länge der Verjährungsfrist, teilt der Senat. Zwar haben die Verjährungsvorschriften zum Teil eine andere Zielrichtung (vgl. hierzu im anfragenden Beschluss Rn. 8), letztlich aber kommt in ihnen auch zum Ausdruck, dass die Rechtsordnung ein Strafbedürfnis gegenüber dem Täter infolge Zeitablaufs verneint (BGH, Urteil vom 17. Februar 1983 – 1 StR 813/82, MDR 1983, 590; zustimmend auch Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974, S. 461; ders., Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl. 1985, S. 181; Hillenkamp, JR 1975, 133, 138; MünchKommStGB/Mitsch, 2. Aufl., § 78 Rn. 1; vgl. auch Frisch, aaO, S. 269, 300), mag man dies auch als Verfolgungsverzicht umschreiben (LK/Schmid, StGB, 12. Aufl., Vor § 78 Rn. 9). Nur vor dem Hintergrund, dass in der Länge der gesetzlich geregelten Verjährungsfristen eine Wertung des Strafbedürfnisses trotz Zeitablaufs zum Ausdruck kommt, erklärt sich die Staffelung nach der Schwere des Delikts.

24

c) Die Bewertung des Zeitablaufs als strafmildernder Umstand ist genauso wie die Verjährungsvorschriften an der Frage des Erfordernisses von Strafe trotz Zeitablaufs orientiert, mag dies auch – wie oben unter III. 2. dargestellt – mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten umschrieben werden. Da es mithin um die Bewertung ein und desselben Phänomens, nämlich des Zeitablaufs seit den Taten geht (MünchKommStGB/Mitsch, 2. Aufl., Vor § 78 Rn. 2), ist revisionsrechtlich nichts dagegen einzuwenden, wenn das Tatgericht, welches die strafmindernde Wirkung gewichten muss, die gesetzgeberische Wertung aus dem Bereich der Verjährungsvorschriften in Bedacht nimmt. Dabei wird es jedoch die Umstände des Einzelfalls, insbesondere spezialpräventiv wirksame Aspekte, angemessen zu berücksichtigen haben.

25

d) Soweit eingewandt wird, der Zweck der verjährungsrechtlichen Regelungen bestehe nicht darin, einer Verminderung von Strafzumessungsgründen Rechnung zu tragen (BGH, Beschluss vom 6. April 2016 – 2 StR 219/15, NStZ-RR 2016, 241), kann dies den Senat nicht zu einer anderen Ansicht bewegen. Denn die strafmildernde Wirkung des Zeitablaufs ist nicht per se quantitativ festgelegt, was freilich auch wenig Überzeugungskraft für sich hätte. Sie ist stattdessen – wie in der Darstellung unter III. 2. gezeigt – auf eine an den Strafzwecken orientierte Begründung zurückzuführen. Diese Erklärungen für die strafmildernde Wirkung – ohne dass man sich hierzu auf einen Begründungsansatz festlegen müsste – belegen aber, dass der Zeitablauf – genauso wenig wie andere Strafzumessungsaspekte (vgl. BGH, Beschluss vom 10. April 1987 – GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 350 f.) – nicht stets gleich, quasi schematisch als für alle Delikte und unabhängig von Einzelfallumständen zu bemessen sein wird. Der Zeitablauf als Strafzumessungsfaktor ist so wie andere strafzumessungserhebliche Umstände vom Tatgericht zu werten und zu gewichten. Daher wird durch dessen Rückgriff auf die in den Verjährungsvorschriften zum Ausdruck gekommene gesetzgeberische Wertung kein Strafzumessungsgrund vermindert. Vielmehr wird der Strafzumessungsgrund Zeitablauf entsprechend dieser Wertung (vgl. BGH, Urteil vom 10. November 1999 – 3 StR 361/99, BGHSt 45, 308) vom Tatgericht ausgefüllt. Dass dies bei Taten, die in längeren Fristen verjähren als andere Taten, zu einer demgegenüber geringeren Gewichtung des Strafzumessungsfaktors Zeitablauf führen mag (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Juni 2011 – 4 StR 643/10, StV 2011, 603), hängt mit dem naturgemäß auf Wertungsprozessen beruhenden Strafzumessungsvorgang zusammen. Die Einbeziehung der verjährungsrechtlichen Regelungen in die strafmildernde Bewertung des Zeitablaufs führt deswegen nicht zu einer Verminderung feststehender, schematisch bestimmbarer Größen.

26

7. Zu den Verjährungsvorschriften, an denen sich das Tatgericht unter angemessener Berücksichtigung der Lage des Einzelfalls für die Bewertung des Strafzumessungsfaktors Zeitablauf orientieren darf, zählt auch die Vorschrift des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB. Der Gesetzgeber hat durch diese Vorschrift zu erkennen gegeben, dass er die dort aufgezählten Delikte auch noch nach längerem zeitlichen Abstand für verfolgungswürdig erachtet (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs vom 29. Juni 1992, BT-Drucks. 12/2975, S. 4; vgl. hierzu auch BGH, Urteil vom 10. November 1999 – 3 StR 361/99, BGHSt 45, 308). Seine Wertung, bei Katalogtaten des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB ruhe die Verjährung mittlerweile bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers, ist mit guten Gründen vielfach kritisiert worden (vgl. nur Fischer, StGB, 63. Aufl., § 78b Rn. 3d). Dennoch ist diese Wertung verfassungskonform (vgl. zu früheren Fassungen BVerfG, Beschluss vom 31. Januar 2000 – 2 BvR 104/00, NJW 2000, 1554 mwN) und mithin von den Gerichten zu akzeptieren. Deshalb ist die Einbeziehung dieses Gesichtspunkts durch das Tatgericht bei der ihm obliegenden Gewichtung eines Strafzumessungsfaktors revisionsrechtlich jedenfalls nicht zu beanstanden.

27

Dies erfährt Bestätigung durch die Gründe, die den Gesetzgeber zu der Regelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB bewogen haben. So ist im Gesetzentwurf ausgeführt, dass die Taten häufig erst später bekannt werden, wenn diese bereits viele Jahre zurückliegen. Die Taten werden überwiegend von Familienangehörigen begangen und die kindlichen oder jugendlichen Opfer bzw. ihre Vertrauenspersonen werden häufig unter Druck gesetzt oder auf andere Weise dahin beeinflusst, die Übergriffe zu verschweigen (Begründung des Gesetzentwurfs vom 29. Juni 1992, BT-Drucks. 12/2975, S. 4; vgl. hierzu auch BGH, Urteil vom 10. November 1999 – 3 StR 361/99, BGHSt 45, 308). Damit ist aber eine Situation umschrieben, die für die Gewichtung des Strafzumessungsfaktors Zeitablauf im Hinblick auf dessen Legitimation als Reaktion auf nachlassendes Strafbedürfnis und verminderten Sühneanspruch Relevanz entfalten kann. Denn die strukturell unterlegene, dabei für grundlegende Bedürfnisse auf den Täter angewiesene Position des Opfers kann dazu führen, dass der Zeitablauf die Wunden nicht in dem Maße heilt, wie bei anderen Taten (vgl. auch Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974, S. 461; ders., Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl. 1985, S. 181). Dies kann dazu führen, dass Sühneanspruch und damit das Strafbedürfnis der Allgemeinheit durch Zeitablauf nicht in dem Maße gemindert werden (vgl. BGH, Urteil vom 27. November 1951 – 1 StR 303/51, BGHSt 2, 20, 22), wie bei einer von der Ausnutzung der gegenüber dem kindlichen Opfer überlegenen Stellung im Familienverbund losgelösten Tat.

28

In dem dem Anfragebeschluss zugrundeliegenden Urteil ist die Verknüpfung mit den Verjährungsvorschriften – soweit ersichtlich – nicht pauschal herangezogen worden. Vielmehr ist dies anhand der Umstände des Einzelfalls begründet worden, dass nämlich die späte Anzeige durch die Begehung der Taten im familiären Umfeld mitbedingt gewesen sei. Dies findet seine Stütze in dem mitgeteilten Sachverhalt, wonach das Opfer durch das Inaussichtstellen eines vermeintlichen Übels davon abgehalten worden ist, von den Taten zu erzählen.

29

Der Senat erachtet es – anders als der anfragende Senat – für nicht aussagekräftig, dass der Gesetzgeber mit dieser Regelung betreffend die Verfolgbarkeit von Taten nicht den ersichtlichen Willen kundgetan hat, Strafzumessungskriterien oder deren Gewichtung zu modifizieren. Die Bewertung des Zeitablaufs für die Strafzumessung in Ansehung der Verjährungsvorschriften war schon vor Änderung der Vorschrift des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB in der Rechtsprechung angelegt. Dies beruht darauf, dass Verjährung und strafmildernde Berücksichtigung des Zeitablaufs Reaktionen auf dasselbe – lediglich unterschiedlich stark ausgeprägte – Phänomen darstellen. Der Rückgriff auf gesetzgeberische Wertungen wurzelt in dieser Parallelität und nicht in einem gesetzgeberischen Willensakt.

Raum                          Cirener                     Radtke

              Mosbacher                       Bär

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