Beschluss vom Bundessozialgericht (9. Senat) - B 9 VG 18/10 B

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 28. Oktober 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

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I. Die Beteiligten streiten über die Feststellung von Schädigungsfolgen und die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz wegen der gesundheitlichen Folgen von Nachstellungen (sogenanntes Stalking) an verschiedenen Orten in den Jahren 2000 und 2001.

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Den im Mai 2005 gestellten Antrag der Klägerin lehnte der beklagte Freistaat mit Bescheid vom 5.9.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9.2.2006 ab, weil nicht nachgewiesen sei, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden sei. Das von der Klägerin angerufene Sozialgericht Braunschweig (SG) hat diese persönlich angehört und ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten eingeholt. Alsdann hat es die Klage abgewiesen (Urteil vom 30.9.2009), weil die von der Klägerin geschilderten Vorfälle am 12./13.11, 27.7. und 4.12.2000 weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht seien.

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In dem von der Klägerin angestrengten Berufungsverfahren hat diese geltend gemacht, ihre Kinder seien Zeugen der tätlichen Angriffe durch den Schädiger gewesen. Mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 15.10.2010 hat sie einen Antrag auf Vernehmung ihres Sohnes F. H. und ihrer Tochter M. M. gestellt, die bestätigen würden, dass Herr B sie - die Klägerin - am 22.12.2000 körperlich attackiert und bedrängt habe. Durch Urteil vom 28.10.2010 hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Die drei von der Klägerin im Widerspruchsverfahren vorgetragenen Ereignisse am 12./13.11.2000 (Versetzen in bewusstlosen Zustand), 27.7.2000 (sexuelle Belästigung während einer Autofahrt) und 4.12.2000 (Setzen einer Spritze an den Hals) seien nicht erwiesen. Zeugen für diese Ereignisse seien nicht vorhanden. Auf Grund des unterschiedlichen Aussageverhaltens der Klägerin seien sie auch nicht glaubhaft gemacht, wobei offenbleibe, ob der Klägerin diese Beweiserleichterung überhaupt zu Gute komme. Das übrige Verhalten des Schädigers stelle sich als monatelange Belästigung der Klägerin dar und erfülle nicht die Voraussetzungen eines tätlichen Angriffs. Einer ergänzenden Vernehmung der Kinder der Klägerin bedürfe es nicht, weil die in ihr Wissen gestellten Wahrnehmungen bereits aus deren schriftlichen Angaben von Juni 2005 hervorgingen.

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Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat die Klägerin beim Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt, mit der sie eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend macht und als Verfahrensmangel eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht durch das LSG rügt.

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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet.

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Zwar ist die Revision nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz ) zuzulassen. Die von der Klägerin aufgeworfene Rechtsfrage, ob "massive Stalking-Handlungen, die vor dem 31.3.2007 begangen wurden und den Tatbestand des § 238 StGB erfüllen, einen rechtswidrigen, tätlichen Angriff im Sinne von § 1 Abs 1 Satz 1 OEG darstellen", ist seit dem Urteil des BSG vom 7.4.2011 (- B 9 VG 2/10 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen) nicht mehr klärungsbedürftig. In dieser Entscheidung hat der erkennende Senat zum Begriff des tätlichen Angriffs nach § 1 Abs 1 OEG im Hinblick auf Stalking-Handlungen unterschiedlicher Art Stellung genommen und entschieden. Ungeachtet des Inkrafttretens des § 238 Strafgesetzbuch (StGB) erfüllen von diesem Straftatbestand erfasste Stalkinghandlungen den Begriff des tätlichen Angriffs nach § 1 Abs 1 Satz 1 OEG nur, wenn es sich um eine in feindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung handelt; je geringer dabei die Kraftanwendung durch den Täter ist, desto genauer ist zu prüfen, inwiefern eine Gefahr für Leib oder Leben des Opfers bestand; die Drohung mit Gewalt ist nur dann ein tätlicher Angriff, wenn die Gewaltanwendung unmittelbar bevorsteht.

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Das angefochtene Urteil des LSG ist indes unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) ergangen. Dieser von der Klägerin schlüssig gerügte Verfahrensmangel liegt vor. Er führt gemäß § 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.

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Das LSG hat seine in § 103 SGG normierte Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts dadurch verletzt, dass es ohne hinreichende Begründung dem von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung aufrechterhaltenen Beweisantrag nicht gefolgt ist, ihren Sohn F. H. als Zeugen zu der Behauptung zu vernehmen, dass der Schädiger sie am 22.12.2000 körperlich attackiert und körperlich bedrängt habe. Obwohl die ohne ihre Prozessbevollmächtigten an der mündlichen Verhandlung des LSG am 28.10.2010 teilnehmende Klägerin den entsprechenden Beweisantrag nicht erneut zu Protokoll gestellt hat, kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie diesen von ihren Prozessbevollmächtigten schriftsätzlich gestellten und zuletzt mit Schriftsatz vom 15.10.2010 ausdrücklich wiederholten Beweisantrag nicht mehr hat weiter verfolgen wollen. Angesichts dieser Sachlage hätte es, um von einer Rücknahme des Beweisantrags ausgehen zu können, entweder einer entsprechenden Erklärung der Prozessbevollmächtigten der Klägerin oder einer auf gezielte Frage des Gerichts danach gemachten Mitteilung der Klägerin bedurft. Entsprechende Äußerungen fehlen.

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Diesem Beweisantrag ist das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Für die Frage, ob ein hinreichender Grund für die unterlassene Beweiserhebung (Zeugenvernehmung) vorliegt, kommt es darauf an, ob das Gericht objektiv gehalten gewesen ist, den Sachverhalt zu dem von dem betreffenden Beweisantrag erfassten Punkt weiter aufzuklären, ob es sich also zur beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen (stRspr, vgl zB BSG SozR 1500 § 160 Nr 5). Soweit der Sachverhalt nicht hinreichend geklärt ist, muss das Gericht von allen Ermittlungsmöglichkeiten, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen, Gebrauch machen, insbesondere bevor es eine Beweislastentscheidung trifft. Einen Beweisantrag darf es nur dann ablehnen, wenn es aus seiner rechtlichen Sicht auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt, wenn diese Tatsache als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder unerreichbar ist, wenn die behauptete Tatsache oder ihr Fehlen bereits erwiesen oder wenn die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist (vgl BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 12 RdNr 10).

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Beim derzeitigen Sachstand und nach Aktenlage hätte sich das LSG zur Vernehmung des Zeugen F. H. gedrängt fühlen müssen. Mit dem schriftsätzlich am 15.10.2010 gestellten Beweisantrag hatte die Klägerin behauptet, der Zeuge habe beobachtet, wie Herr B. sie am 22.12.2000 gewalttätig bedrängt, massiv bedroht und auch körperlich attackiert habe. Das LSG hat zwar Ausführungen zu den schon vom SG erörterten Ereignissen am 12./13.11.2000, 27.7.2000 und 4.12.2000 gemacht, das von der Klägerin ausdrücklich als gewalttätige Auseinandersetzung mit dem Schädiger behauptete Ereignis vom 22.12.2000 jedoch nicht ausdrücklich erwähnt. Es hat insoweit lediglich ausgeführt, einer zeugenschaftlichen Vernehmung "der Kinder" der Klägerin bedürfe es nicht, weil die in deren Wissen gestellten Wahrnehmungen bereits aus deren schriftlichen Angaben von Juni 2005 hervorgingen. Die schriftlichen Angaben des Zeugen F. H. vom 16.6.2005 bestätigen zwar tatsächlich nicht den von der Klägerin nunmehr behaupteten tätlichen Angriff vom 22.12.2000. Es erscheint indes nicht ausgeschlossen, dass der Zeuge nach einer gerichtlichen Belehrung über seine Wahrheitspflicht im Rahmen einer persönlichen Befragung die Angaben der Klägerin zu einem am 22.12.2000 erfolgten Angriff auf sie ganz oder teilweise bestätigt. Sofern das LSG davon ausgegangen ist, dass der Zeuge hinsichtlich der Vorfälle an diesem Tag nichts anderes als in seiner schriftlichen Aussage vom 16.6.2005 bekunden werde, handelt es sich um eine unzulässige vorweggenommene Beweiswürdigung. Daraus ergibt sich, dass das LSG dem gestellten und aufrechterhaltenen Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

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Auf diesem fehlerhaften Unterlassen einer Beweisaufnahme kann die angefochtene Entscheidung beruhen, denn es ist nicht ausgeschlossen, dass deren Durchführung neue Gesichtspunkte ergeben hätte, die möglicherweise dazu geführt hätten, dass das LSG eine medizinische Beweisaufnahme zur Kausalität durchgeführt hätte und danach im Rahmen seiner aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) zu einem für die Klägerin günstigeren Ergebnis gekommen wäre.

12

Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

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