Beschluss vom Bundessozialgericht (11. Senat) - B 11 AL 100/11 B

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 15. September 2011 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe

1

Die Beschwerde ist unzulässig. Die vorgebrachten Zulassungsgründe - Abweichung von Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) und grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache - sind nicht in der nach § 160a Abs 2 S 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gebotenen Weise bezeichnet bzw dargelegt.

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1. Um eine Abweichung iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG in einer den Anforderungen des § 160a Abs 2 S 3 SGG genügenden Weise zu bezeichnen, hat die Beschwerdebegründung einen Widerspruch im Grundsätzlichen oder ein Nichtübereinstimmen tragender abstrakter Rechtssätze in der Entscheidung des Landessozialgerichts (LSG) einerseits und in einer Entscheidung des BSG oder des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts andererseits aufzuzeigen (BSG SozR 1500 § 160a Nr 67). Dabei muss die Beschwerdebegründung deutlich machen, dass in der angefochtenen Entscheidung eine sie tragende Rechtsansicht entwickelt worden ist und nicht etwa nur ungenaue oder unzutreffende Rechtsausführungen oder ein Rechtsirrtum im Einzelfall die Entscheidung bestimmen (BSG SozR 1500 § 160a Nr 67; SozR 3-1500 § 160 Nr 26; SozR 4-1500 § 62 Nr 9 RdNr 6; stRspr). Schlüssig darzulegen ist auch, dass das angefochtene Urteil auf der Abweichung beruht (vgl ua BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 6 RdNr 18).

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Die Klägerin entnimmt der Entscheidung des LSG folgende Rechtssätze: "Es liege immer dann keine kurzzeitige Beschäftigung vor, soweit Arbeit auf Abruf und schwankende Arbeitszeiten vorzufinden seien, da die Tätigkeit dann von vornherein auf Überschreitung der Kurzzeitigkeitsgrenze angelegt sei, denn bei einer solchen Tätigkeit ergebe sich die Ungewissheit nicht aus der Eigenart der Tätigkeit, sondern wegen der Bereitschaft, bei Bedarf tätig zu werden. Die Kurzzeitigkeitsgrenze des § 118 Abs 2 SGB III aF werde auch bei schwankenden Arbeitszeiten immer dann überschritten, wenn die wöchentliche Arbeitszeit 15 Stunden und mehr betrage. Hierbei komme es nicht auf den Durchschnitt der Wochenarbeitszeit an. Es gelte allein die Zeitgrenze."

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Diese "Rechtsauffassung" hält sie für unvereinbar mit der Aussage im Urteil des BSG vom 15.5.1985 (7 RAr 22/84), wonach es bei der Beurteilung der Kurzzeitigkeit einer Beschäftigung mit schwankenden Arbeitszeiten auf den Durchschnitt der Wochenarbeitszeit ankomme. Nach Auffassung des BSG in einem Urteil vom 22.8.1984 ("7 RAr 11/83" - gemeint ist wohl "7 RAr 12/83" - SozR 4100 § 102 Nr 6) verbiete es sich, einzelne Monate oder Wochen, in denen die Kurzzeitigkeitsgrenze überschritten worden sei, getrennt zu betrachten.

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Soweit die Klägerin die Auffassung äußert, die Entscheidung des LSG widerspreche auch dem Urteil des BSG vom 15.6.1988 (7 RAr 12/87 - Die Beiträge 1988, 286) und "die zu klärenden Rechtsfragen" seien ungeachtet der Ausführungen des Senats in seinen Urteilen vom 29.10.2008 (B 11 AL 44/07 R - SozR 4-4300 § 118 Nr 3 und B 11 AL 52/07 R - SozR 4-4300 § 118 Nr 2) "weiterhin klärungsbedürftig", bezieht sie diese Entscheidungen ausdrücklich nicht in ihre Divergenzrüge ein; sie will einzig auf die - vermeintliche - Divergenz zu den Entscheidungen vom 15.5.1985 und 22.8.1984 abstellen.

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Eine Abweichung des LSG von der zitierten Entscheidung des BSG vom 22.8.1984 ist schon deshalb nicht hinreichend bezeichnet, weil die Klägerin aus dieser Entscheidung keinen sie angeblich tragenden abstrakten Rechtssatz herausarbeitet; der (angebliche) Grundsatz, es verbiete sich, einzelne Monate oder Wochen, in denen die Kurzzeitigkeitsgrenze überschritten werde, getrennt zu "betrachten", ergibt - für sich betrachtet - keinerlei an einer Rechtsnorm orientierte rechtliche Aussage im Sinne eines abstrakten Rechtssatzes.

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Auch macht die Beschwerdebegründung nicht deutlich, in welchem rechtlichen Zusammenhang dieser Grundsatz entwickelt worden ist und ob er dem aktuellen Stand der Rechtsprechung entspricht. Denn bei der geltend gemachten Divergenz ist auf die aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung abzustellen (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 61 mwN; BSG Beschluss vom 8.3.1995 - 7 BAr 192/94; stRspr). Die Klägerin hätte also auf die Entscheidungen des Senats vom 29.10.2008 (B 11 AL 44/07 R - SozR 4-4300 § 118 Nr 3 RdNr 18 und B 11 AL 52/07 R - SozR 4-4300 § 118 Nr 2 RdNr 15) näher eingehen müssen, die sich - wie sie selbst vorträgt - ausdrücklich mit der Entscheidung des BSG vom 22.8.1984 befasst haben. Dass die Klägerin die Rechtsprechung des Senats insoweit - wie ihre Kritik deutlich macht - für unzutreffend hält, vermag die gerügte Divergenz nicht zu begründen.

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Dasselbe gilt für das von der Klägerin zitierte Urteil vom 15.5.1985 (7 RAr 22/84). Auch insoweit wird nicht deutlich, in welchem rechtlichen Zusammenhang das BSG diese Aussage getroffen hat. Es ist nicht erkennbar, dass etwa ein die Entscheidung tragender abstrakter Rechtssatz im Zusammenhang mit der Kurzzeitigkeitsgrenze des § 118 Abs 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch alter Fassung (SGB III aF) aufgestellt worden wäre.

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Damit ist die Abweichung des LSG von einem vermeintlich tragenden abstrakten Rechtssatz des BSG nicht dargetan; dahinstehen kann, ob die von der Klägerin wiedergegebenen Aussagen des LSG die rechtliche Qualifikation eines "Rechtssatzes" erfüllen. Zweifel hieran bestehen nicht nur deshalb, weil die Klägerin selbst diese Aussagen als "Rechtsauffassung" des LSG bezeichnet, sondern auch, weil das LSG nach den eigenen Ausführungen der Klägerin seine Entscheidung an den genannten Entscheidungen des BSG vom 29.10.2008 ausgerichtet hat.

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2. Auch der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache ist in der Beschwerdebegründung vom 12.12.2011 nicht hinreichend dargetan worden.

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Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Ein Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufzeigen, welche Frage sich stellt, dass diese Rechtsfrage noch nicht geklärt ist, weshalb deren Klärung aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung dieser Rechtsfrage erwarten lässt. Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss die Beschwerdebegründung mithin eine konkrete Rechtsfrage aufwerfen, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der angestrebten Entscheidung (so genannte Breitenwirkung) darlegen (vgl nur BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 34 S 70 mwN).

12

Die Klägerin wirft folgende Fragen auf:
Steht "eine Tätigkeit auf Abruf (…) immer einer kurzzeitigen Tätigkeit entgegen"? (1)
Liegt "bei schwankenden Arbeitszeiten und Arbeit auf Abruf zwingend eine Vereinbarung vor, (…) die geradezu darauf angelegt ist, die Kurzzeitigkeitsgrenze zu überschreiten und somit die Voraussetzungen der Kurzzeitigkeit einer Beschäftigung nicht mehr" zu erfüllen? (2)
"Wann (ist) eine Vereinbarung von vornherein auf die Überschreitung der Kurzzeitigkeitsgrenze ausgerichtet"? (3)
Ist "eine Vereinbarung mit schwankenden Arbeitszeiten immer zwingend auf die Überschreitung der Kurzzeitigkeitsgrenze angelegt"? (4)
Wird "die Kurzzeitigkeitsgrenze des § 118 Abs 2 SGB III aF auch bei schwankenden Arbeitszeiten immer dann überschritten (…), wenn die wöchentliche Arbeitszeit 15 Stunden und mehr beträgt, oder (…) kommt es bei schwankenden Arbeitszeiten auf den Durchschnitt der Wochenarbeitszeit an (…), wobei ein Zeitraum von 12 Monaten zugrunde zu legen ist, sofern es sich nicht um ein befristetes Beschäftigungsverhältnis handelt"? (5)
Ist die "Auslegung des LSG" verfassungsgemäß? (6)

13

Bei den aufgeworfenen Fragen, die zum Teil mit anderer Formulierung inhaltlich dasselbe ausdrücken, handelt es sich nur teilweise um Rechtsfragen. Die Fragen zu (2) und (3) - ob eine Vereinbarung über schwankende Arbeitszeiten "darauf angelegt" ist, die Kurzzeitigkeitsgrenze zu überschreiten und wann eine Vereinbarung "von vornherein" darauf ausgerichtet ist, diese Grenze zu überschreiten - betreffen reine Tatsachenfragen. Gleiches gilt für die Frage (4), die den Inhalt der Frage (3) mit anderen Worten wiedergibt. Die Frage (6), ob die Auslegung des LSG verfassungsgemäß ist, hat jedenfalls keine Rechtsfrage von allgemeiner Bedeutung zum Inhalt, weil die Beschwerdebegründung allein das Auslegungsverhalten des Berufungsgerichts im konkreten Fall in Zweifel zieht.

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Die zu (1) aufgeworfene Frage, ob eine Tätigkeit auf Abruf "nach Auffassung des LSG" immer einer kurzzeitigen Tätigkeit entgegensteht, lässt weder erkennen, in welcher Hinsicht eine Beantwortung dieser Frage zur Rechtseinheit oder zur Fortbildung des Rechts beitragen könnte, noch geht sie deshalb über den Einzelfall hinaus, weil die Auffassung des LSG in den Mittelpunkt der Fragestellung gerückt wird. Die Beschwerdebegründung versäumt es auch, sich mit den - teilweise bereits vom LSG zitierten - Ausführungen des BSG (vgl SozR 4-4300 § 118 Nr 3 RdNr 21 sowie SozR 3-4100 § 104 Nr 16) und des Schrifttums zum Arbeitsverhältnis auf "Abruf" auseinanderzusetzen.

15

3. Soweit die Klägerin eine Klärungsbedürftigkeit insbesondere hinsichtlich der zu (2) aufgeworfenen Frage daraus abzuleiten versucht, dass sie die Entscheidungen des Senats vom 29.10.2008 (B 11 AL 52/07 R - SozR 4-4300 § 118 Nr 2 und B 11 AL 44/07 R - SozR 4-4300 § 118 Nr 3) einer Kritik unterzieht, genügt dies für eine Darlegung einer (erneuten) Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage - auch der Frage (5) - nicht. Ergeben sich hinsichtlich der Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage Zweifel, muss ein Beschwerdeführer vielmehr im Einzelnen darlegen, in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchen Gründen die Beantwortung der Frage umstritten ist (BSG SozR 1500 § 160 Nr 17 und SozR 1500 § 160a Nr 59; vgl auch Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl 2010, RdNr 315). Es reicht nicht aus, die Richtigkeit dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung unter Hinweis auf Kommentarliteratur, die aus der Zeit vor den genannten Senatsentscheidungen datiert, anzuzweifeln. In der Beschwerdebegründung ist im Übrigen auch nicht erwähnt worden, dass es sich in der Entscheidung des Senats vom 29.10.2008 (B 11 AL 44/07 R, aaO) um dieselbe Arbeitgeberin wie im Fall der Klägerin und - ausgehend von ihrem Vortrag - um eine ähnliche Vertragsgestaltung gehandelt hatte. Auch mit den in dieser Entscheidung enthaltenen verfassungsrechtlichen Ausführungen hat sich die Beschwerdebegründung nicht substanziiert auseinandergesetzt.

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4. Soweit die Klägerin schließlich möglicherweise Aufklärungsmängel des LSG rügen möchte, weil dieses nicht ermittelt habe, wie oft es bei der Klägerin zu Überschreitungen der 15-Stunden-Grenze in der Woche habe "kommen müssen" (S 11 der Beschwerdebegründung), führt dies schon deshalb nicht zur Zulassung der Revision, weil gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG ein Verfahrensmangel auf eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) nur gestützt werden kann, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Dass die Klägerin einen entsprechenden Beweisantrag gestellt hätte, den das LSG übergangen habe, behauptet sie indes nicht.

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5. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

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Die Verwerfung der Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 SGG iVm § 169 S 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

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Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.

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