Beschluss vom Bundessozialgericht (11. Senat) - B 11 AL 12/12 B

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 30. Januar 2012 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe

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I. Der Kläger wendet sich gegen die Einstellung der Vermittlung durch die Beklagte gemäß § 38 Abs 3 S 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III).

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Der Kläger war im Jahre 2011 bei der Beklagten ohne Leistungsbezug als arbeitsuchend gemeldet. Er hatte sich in einer Eingliederungsvereinbarung ua dazu verpflichtet, monatlich mindestens zehn Bewerbungen zu veranlassen und diese der Beklagten vorzulegen. Ausweislich eines Vermerks in den Akten der Beklagten erschien der Kläger im Februar 2011 zu einem Gesprächstermin ohne die zuvor angeforderten vermittlungsrelevanten Unterlagen (ua Bewerbungsunterlagen, Berufsabschlüsse, Zertifikate), woraufhin er zu einem weiteren Termin eingeladen wurde, den er jedoch nicht wahrnahm. Nach Anhörung teilte die Beklagte dem Kläger die Einstellung der Vermittlung ab 13.3.2011 gemäß § 38 Abs 3 S 2 SGB III mit, weil er seinen Verpflichtungen ohne wichtigen Grund nicht nachgekommen sei (Bescheid vom 10.3.2011, Widerspruchsbescheid vom 15.3.2011).

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Das Sozialgericht (SG) hat nach mündlicher Verhandlung die auf Aufhebung der Bescheide der Beklagten sowie auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Vermittlungseinstellung gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 1.9.2011). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG durch Entscheidung der Berufsrichter nach § 153 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zurückgewiesen (Beschluss vom 30.1.2012).

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Mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt der Kläger als Verfahrensmangel eine Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs und sinngemäß eine Verletzung des § 153 Abs 4 SGG mit der Folge der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts. Mit der Vorgehensweise, durch Beschluss gemäß § 153 Abs 4 SGG zu entscheiden, habe das LSG ihm die Möglichkeit der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung genommen, obwohl er - weder anwaltlich vertreten noch sprachlich hinreichend versiert - in Beantwortung der gerichtlichen Anhörungsmitteilung unter Angabe von Gründen darauf hingewiesen habe, dass eine mündliche Verhandlung erforderlich sei. Er habe zwar in erster Instanz an einer mündlichen Verhandlung teilgenommen; gleichwohl sei auch im Berufungsverfahren eine mündliche Verhandlung notwendig gewesen. Denn aus der angefochtenen Entscheidung ergebe sich, dass es um Tatsachenfragen gegangen sei, über die nicht ohne Schwierigkeiten nach Aktenlage habe entschieden werden können. Der Auffassung des LSG, es könne auch ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, liege eine grobe Fehleinschätzung zugrunde.

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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Der Beschwerdeführer hat einen Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG schlüssig bezeichnet (§ 160a Abs 2 S 3 SGG). Der Verfahrensmangel liegt auch tatsächlich vor.

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Der angefochtene Beschluss des LSG ist unter Verletzung des § 153 Abs 4 S 1 SGG und damit in nicht vorschriftsmäßiger Besetzung (§ 33 SGG) ergangen. Unter den gegebenen Umständen durfte das LSG nicht durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung und ohne ehrenamtliche Richter entscheiden, sondern hätte aufgrund mündlicher Verhandlung entscheiden müssen.

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Nach § 153 Abs 4 S 1 SGG kann das LSG, außer in den Fällen des § 105 Abs 2 S 1 SGG, die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Voraussetzung für ein Vorgehen des LSG nach dieser Vorschrift ist also neben den Erfordernissen der Einstimmigkeit und der Ausübung des eingeräumten Ermessens, dass die Tatbestandsvoraussetzung "mündliche Verhandlung nicht erforderlich" erfüllt ist. Zwar steht die Entscheidung, die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss gemäß § 153 Abs 4 S 1 SGG zurückzuweisen, im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts und kann nur auf fehlerhaften Gebrauch, dh sachfremde Erwägungen und grobe Fehleinschätzung, überprüft werden (BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 1 und Nr 13; SozR 4-1500 § 153 Nr 7). Im vorliegenden Fall beruht jedoch die Entscheidung des LSG, nach § 153 Abs 4 SGG zu verfahren, erkennbar auf einer solchen Fehleinschätzung.

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Die mündliche Verhandlung, aufgrund der die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit regelmäßig entscheiden (§ 124 Abs 1 SGG), ist das "Kernstück" des gerichtlichen Verfahrens und verfolgt den Zweck, dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen und mit ihnen den Streitstoff erschöpfend zu erörtern. Nicht erforderlich ist eine mündliche Verhandlung nur dann, wenn der Sachverhalt umfassend ermittelt worden ist, sodass Tatsachenfragen in einer mündlichen Verhandlung nicht mehr geklärt werden müssen (vgl BSGE 44, 292 = SozR 1500 § 124 Nr 2). Diese Funktion und diese Bedeutung der mündlichen Verhandlung muss das Berufungsgericht auch bei seiner Entscheidung berücksichtigen, ob es im vereinfachten Verfahren gemäß § 153 Abs 4 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden will (vgl BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 13 S 38; BSG, Beschluss vom 11.12.2002 - B 6 KA 13/02 B - Juris RdNr 9).

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Die Umstände des vorliegenden Falls sind insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass in erster Instanz zwar in Anwesenheit des Klägers und eines zugezogenen Dolmetschers mündlich verhandelt worden ist, dass aber weder der Niederschrift des SG vom 1.9.2011 noch der schriftlichen Begründung des Urteils des SG entnommen werden kann, welche Tatsachen der Kläger in der mündlichen Verhandlung zur streitigen Frage der Rechtmäßigkeit der Einstellung der Vermittlung vorgetragen und wie das SG etwaigen Vortrag des Klägers gewürdigt hat. Aus der Niederschrift ergibt sich ohne jede Substantiierung im Wesentlichen nur, dass der Dolmetscher dem Kläger "jedes Wort übersetzt" hat und dass das Sach- und Streitverhältnis mit den Beteiligten erörtert worden ist. Die Urteilsbegründung beschränkt sich vorwiegend auf eine Wiedergabe der Verwaltungsakten der Beklagten.

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Unter diesen Umständen konnte das LSG das Vorbringen des Klägers in der auf die Anhörungsmitteilung hin am 29.12.2011 eingereichten schriftlichen Stellungnahme, eine mündliche Verhandlung sei erforderlich, nicht unbeachtet lassen. Dies gilt umso mehr, als das LSG - worauf die Beschwerdebegründung zutreffend hinweist - in der ohne mündliche Verhandlung getroffenen Entscheidung vom 30.1.2012 ua darauf abstellt, vom Kläger im Berufungsverfahren erstmals aufgestellte Behauptungen zur früheren Vorlage seiner Berufsabschlüsse stünden im offensichtlichen Gegensatz zum Akteninhalt und seien auch mit früherem Vorbringen "kaum vereinbar". Die Begründung des angefochten Beschlusses lässt nach alledem erkennen, dass das LSG tatsächlichem Vorbringen des Klägers nicht gefolgt ist, ohne diesem vorher die ausdrücklich gewünschte Gelegenheit zu geben, seinen Standpunkt in einer mündlichen Verhandlung darzustellen.

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Die angefochtene Entscheidung kann auf dem festgestellten Verfahrensmangel beruhen. Bei einem Verstoß gegen § 153 Abs 4 S 1 SGG ist wegen der fehlerhaften Besetzung der Richterbank in aller Regel und auch im vorliegenden Fall von einem absoluten Revisionsgrund auszugehen (§ 202 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO; vgl ua BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 13; SozR 4-1500 § 153 Nr 7 RdNr 19). Bei dem derzeitigen Verfahrensstand erscheint es dem Senat untunlich, sich zu den Voraussetzungen einer Einstellung der Vermittlung nach § 38 Abs 3 S 2 SGB III zu äußern (vgl dazu ua Winkler in Gagel, SGB II/SGB III, § 38 RdNr 59, Stand April 2012).

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Da die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 160a Abs 5 SGG).

13

Die Entscheidung über die Kosten unter Einbeziehung der Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.

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