Urteil vom Bundessozialgericht (7. Senat) - B 7 AY 5/11 R

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. Mai 2011 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Der Streitwert wird auf 140,44 Euro festgesetzt.

Tatbestand

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Im Streit ist (nur noch) die Erstattung von Leistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), die die Klägerin für die Zeit ab 1.12.2003 bis 17.12.2003 an V. R. (R) erbracht hat.

2

Der 1974 geborene R bezog ab 13.10.2003 von der Klägerin Leistungen nach § 3 AsylbLG, nachdem er ab diesem Zeitpunkt durch landesinterne Verteilung in I. untergebracht worden war. Zuvor hatte er in einer Aufnahmeeinrichtung des Beklagten (in D.) gewohnt. Zahlungen nach dem Gesetz über die Zuweisung und Aufnahme ausländischer Flüchtlinge in Nordrhein-Westfalen - NRW - (FlüAG) an die Klägerin wurden für R nicht erbracht. Mit Schreiben vom 29.11.2004 (eingegangen am 3.12.2004) bat die Klägerin den Beklagten "um Anerkennung" seiner Kostenerstattungspflicht (unter anderem für den Leistungsfall R), weil § 10b Abs 3 AsylbLG bei Verziehen eines Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG einen Erstattungsanspruch der nach dem Verziehen des R zuständig gewordenen Behörde gegen die Behörde des bisherigen Aufenthaltsortes vorsehe. Der Beklagte lehnte eine Kostenerstattung mit der Begründung ab, § 10b Abs 3 AsylbLG sei mit Wirkung zum 1.7.2005 ersatzlos aufgehoben worden, sodass für einen Erstattungsanspruch keine Rechtsgrundlage mehr gegeben sei.

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Die auf Erstattung der Aufwendungen (auch für andere Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG) erhobene Klage war erstinstanzlich insoweit erfolgreich, als der Beklagte verurteilt wurde, insgesamt 20 252,28 Euro zu zahlen (Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 30.11.2009). Im Berufungsverfahren hat das Landessozialgericht NRW (LSG) zwei das Urteil des SG betreffende Leistungsfälle abgetrennt und die abgetrennten Verfahren zum Ruhen gebracht. In der mündlichen Verhandlung vor dem LSG haben die Beteiligten zudem einen Teilvergleich geschlossen, in dem sie den Rechtsstreit auf den Leistungsfall R beschränkt und sich im Übrigen hinsichtlich einer etwaigen Erstattungsforderung in den verbliebenen Leistungsfällen dem rechtskräftigen Ausgang des Verfahrens unterworfen haben. Das LSG hat daraufhin das Urteil des SG geändert und den Beklagten verurteilt, der Klägerin (nur) die seit dem 1.12.2003 nach § 3 AsylbLG für R erbrachten Leistungen zu erstatten; im Übrigen (Zeitraum bis 30.11.2003) hat es die Klage abgewiesen (Urteil vom 23.5.2011). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, ein "Verziehen" im Sinne von § 10b Abs 3 AsylbLG liege auch in Fällen der Erstzuweisung an eine landesangehörige Kommune aus der Aufnahmeeinrichtung des betreffenden Landes vor. Der Erstattungsanspruch scheitere nicht an dem Außerkrafttreten des § 10b Abs 3 AsylbLG, weil er (noch) zu Zeiten der Geltung der Norm entstanden sei. Die Anspruchsentstehung setze dabei keine Bezifferung voraus. Auch § 111 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X), der die Geltendmachung des Erstattungsanspruchs innerhalb einer Ausschlussfrist von einem Jahr verlange, setze dies nicht voraus. Für Zeiten vor dem 1.12.2003 sei der Anspruch allerdings wegen Versäumung der genannten Frist untergegangen, weil wegen des monatlichen Leistungsbezugs die Frist zur Geltendmachung nur für die vom 1. bis 17.12.2003 erbrachten Leistungen noch nicht verstrichen sei.

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Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung der zum 1.7.2005 außer Kraft getretenen Regelung des § 10b Abs 3 AsylbLG. Ein "Verziehen" im Sinne dieser Regelung liege bei der Erstzuweisung eines Asylbewerbers von einer Einrichtung des Landes in eine Kommune nicht vor. Nur wenn auch eine Rückkehrmöglichkeit bestehe, könne ein Verziehen vorliegen; dies sei bei zentralen Unterbringungseinrichtungen aber nicht der Fall. Er - der Beklagte - sei auch nicht die Behörde des bisherigen Aufenthaltsorts im Sinne der Erstattungsregelung, sondern nur Träger der Einrichtung. Behörde und damit Anspruchsgegner könne nur eine Kommune sein. Ein Erstattungsanspruch scheitere schließlich auch an dessen fehlender Bezifferung zum Zeitpunkt des Außerkrafttretens des § 10b Abs 3 AsylbLG.

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Der Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG abzuändern und das Urteil des SG insgesamt aufzuheben.

6

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

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Sie hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.

Entscheidungsgründe

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Die Revision des Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ). Für eine endgültige Entscheidung durch den Senat fehlen tatsächliche Feststellungen (§ 163 SGG) zum gewöhnlichen Aufenthalt des R in der Aufnahmeeinrichtung des Beklagten sowie zur Rechtmäßigkeit der ab 1.12.2003 erbrachten Leistungen nach dem AsylbLG.

9

Gegenstand des Verfahrens ist (nur noch) die den Leistungsfall R betreffende Kostenerstattung für den Zeitraum ab 1.12.2003, weil der Streitgegenstand nach Abtrennung zweier Leistungsfälle durch Teilvergleich auf die an R erbrachten Leistungen begrenzt und die Revision angesichts des Teilerfolgs der Berufung vor dem LSG auf diesen Zeitraum beschränkt wurde (vgl zum daraus resultierenden Entscheidungstenor später). Die Klägerin hat ihrerseits für die Zeit vor dem 1.12.2003 keine Revision eingelegt. Das Urteil des LSG ist insoweit rechtskräftig. Richtige Klageart ist die Leistungsklage nach § 54 Abs 4 SGG, die nach Entfallen der Beteiligtenfähigkeit von Behörden (§ 70 Nr 3 SGG) im Land NRW unter den jeweiligen Rechtsträgern (§ 70 Nr 1 SGG) zu führen ist (BSG SozR 4-3500 § 29 Nr 2 RdNr 11).

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Als Anspruchsgrundlage kommt nur ein Anspruch nach § 10b Abs 3 AsylbLG in der bis 30.6.2005 geltenden Fassung des AsylbLG vom 5.8.1997 (BGBl I 2022) in Betracht. Verzieht ein Leistungsberechtigter ohne Verstoß gegen eine asyl- oder ausländerrechtliche räumliche Bestimmung vom Ort seines bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts, ist danach die Behörde des bisherigen Aufenthaltsortes verpflichtet, der nunmehr zuständigen Behörde die dort erforderlichen Leistungen außerhalb von Einrichtungen im Sinne von § 10a Abs 2 Satz 1 AsylbLG zu erstatten, wenn der Leistungsberechtigte innerhalb eines Monats nach dem Aufenthaltswechsel dieser Leistungen bedarf. § 10b Abs 3 AsylbLG, der sich in Wortlaut und Intention an § 107 Abs 1 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) anlehnt, sieht insoweit zur Vermeidung unbilliger Kostenverschiebungen einen zeitlich begrenzten Erstattungsanspruch gegen den Träger des bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts in Fällen vor, in denen ein Zuständigkeitswechsel eintritt, weil der Leistungsberechtigte umzugsbedingt seinen Aufenthalt wechselt (BT-Drucks 13/2746, S 18 zu § 10b), ohne dass es auf den Grund und die Form des Aufenthaltswechsels oder auf den Willen des Leistungsberechtigten ankäme (W. Schellhorn/H. Schellhorn, BSHG, 16. Aufl 2002, § 10b AsylbLG RdNr 15 f).

11

Zu Recht ist das LSG davon ausgegangen, dass ein "Verziehen" im Sinne des § 10b Abs 3 AsylbLG auch bei der Zuweisung eines Asylbewerbers von einer zentralen Unterbringungseinrichtung des Landes NRW in eine Kommune vorliegen kann. Ein Verziehen ist nämlich immer dann zu bejahen, wenn eine Person von einem Ort in einen anderen in der Absicht wechselt, an einen bisherigen Aufenthaltsort (vorerst) nicht zurückzukehren, wenn also der Lebensmittelpunkt unter Aufgabe des gewöhnlichen Aufenthalts am bisherigen Aufenthaltsort durch Begründung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts am Zuzugsort wechselt (BVerwGE 119, 96, 98; BVerwG, Urteil vom 7.10.1999 - 5 C 21/98 -, FEVS 51, 385 f). Entgegen der Auffassung des Beklagten ist ein Verziehen in diesem Sinne nicht etwa deshalb ausgeschlossen, weil Grund des Verziehens die Erstzuweisung eines Asylbewerbers von einer Einrichtung des Landes in eine Kommune war. Der Begriff des Verziehens bezieht sich nur auf den tatsächlichen Vorgang eines "dauerhaften" Ortswechsels und stellt nicht darauf ab, ob es sich um einen freiwilligen, durch Art 11 Grundgesetz (GG) grundrechtsgeschützten Vorgang handelt (Hohm, AsylbLG, § 10b RdNr 75 f mwN, Stand November 2005), sodass es unerheblich ist, ob der Ortswechsel in Vollzug einer ausländer- oder asylverfahrensrechtlichen Rechtspflicht erfolgt und ob am Wegzugsort eine Wohnung im Sinne einer durch freiwillige Aufenthaltsnahme begründeten und auf Dauer angelegten, selbst gestalteten Häuslichkeit bestand (BVerwGE 119, 96, 98 f). Weder Wortlaut noch Entstehungsgeschichte der Erstattungsvorschrift geben einen Anhaltspunkt für die gegenteilige Auslegung des Beklagten.

12

Nach Wortlaut sowie Sinn und Zweck der Erstattungsregelung, unbillige Kostenverschiebungen zu vermeiden (W. Schellhorn/H. Schellhorn, BSHG, 16. Aufl 2002, § 10b AsylbLG RdNr 1; Hohm, aaO, RdNr 2, Stand November 2005, und RdNr 70, Stand Dezember 2009), spielt es auch keine Rolle, ob der Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG, der ohnehin in den meisten Fällen asyl- oder ausländerrechtlichen räumlichen Beschränkung unterliegt (vgl etwa § 61 Aufenthaltsgesetz oder § 56 Asylverfahrensgesetz ), die (tatsächliche oder rechtliche) Möglichkeit besitzt, an den bisherigen Ort zurückzukehren, selbst wenn die für das Verziehen erforderliche Absicht, vorerst nicht mehr an den bisherigen Ort zurückzukehren, dies nahelegen könnte. Ob der Leistungsberechtigte also zunächst in einer Aufnahmeeinrichtung nach § 47 AsylVfG wohnt und sodann entweder im Rahmen einer landesinternen Verteilung (§ 50 AsylVfG) oder im Rahmen einer länderübergreifenden Verteilung (§ 51 AsylVfG; dazu BVerwGE 119, 96 ff) umzieht, ist ohne Bedeutung. Ebenso wenig ist es von Bedeutung, ob der Leistungsberechtigte am neuen Wohnort in einer Gemeinschaftsunterkunft (§ 53 AsylVfG) untergebracht wird oder eine eigene Wohnung bezieht.

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Hieran ändert auch nichts, dass ein solches Verständnis der Erstattungsnorm dazu führt, dass der Beklagte in allen Fällen, in denen Ausländer, die den Asylantrag bei einer Außenstelle des Bundesamtes stellen und nach einer Verteilung durch die zentrale Verteilungsstelle des Bundes (siehe unten) zunächst verpflichtet sind, bis zu sechs Wochen, längstens jedoch bis zu drei Monaten, in einer Aufnahmeeinrichtung des Beklagten zu wohnen (vgl § 47 Abs 1 AsylVfG), nach der landesinternen bzw länderübergreifenden Verteilung einem Erstattungsanspruch ausgesetzt ist, weil er - der Beklagte - nach § 1 des Gesetzes zur Ausführung des AsylbLG (AG AsylbLG) vom 29.11.1994 (Gesetz- und Verordnungsblatt 94, 1087, zuletzt geändert durch das Zweite Gesetz zur Änderung der gesetzlichen Befristungen im Zuständigkeitsbereich des Innenministeriums vom 8.12.2009 - GVBl 765) für die Unterbringungseinrichtungen des Landes für Asylbewerber zuständig ist; dies ist nur Ausfluss der in § 10 AsylbLG normierten Ermächtigung der Landesregierungen oder der von ihnen beauftragten obersten Landesbehörden, die für die Durchführung des AsylbLG zuständigen Behörden und Kostenträger zu bestimmen (dazu unten).

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Der Wortlaut von § 10b Abs 3 AsylbLG setzt aber zunächst voraus, dass der Leistungsberechtigte am bisherigen Ort - hier in D. seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Dabei kann dahinstehen, ob ein Wechsel von einem früheren zu einem neuen gewöhnlichen Aufenthalt schon nach der Definition des Verziehens zu fordern ist (s BVerwGE 119, 96, 98); in I. jedenfalls ist ein neuer gewöhnlicher Aufenthalt aufgrund der Zuweisung begründet worden (§ 10a Abs 3 Satz 4 AsylbLG). Ob dies in D. der Fall war, lässt sich nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht beurteilen. Als gewöhnlicher Aufenthalt im Sinne des AsylbLG gilt nach § 10a Abs 3 Satz 1 AsylbLG der Ort, an dem sich jemand unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Als gewöhnlicher Aufenthalt ist auch von Beginn an ein zeitlich zusammenhängender (kurzfristige Unterbrechungen bleiben unberücksichtigt) Aufenthalt von mindestens sechs Monaten Dauer anzusehen, es sei denn, der Aufenthalt erfolgt ausschließlich zum Zweck des Besuchs, der Erholung, der Kur oder ähnlichen privaten Zwecken und dauert nicht länger als ein Jahr (Sätze 2 und 3). Ist jemand aufgrund der Entscheidung der vom Bundesministerium des Innern bestimmten zentralen Verteilungsstelle des Bundes verteilt oder von der im Land zuständigen Behörde zugewiesen worden, gilt zudem nach § 10a Abs 3 Satz 4 AsylbLG dieser Bereich als sein gewöhnlicher Aufenthalt.

15

Ob R vor seinem Umzug nach I. im Rahmen des bundesweiten Zuweisungsverfahrens der Aufnahmeeinrichtung des Beklagten nach § 22 Abs 1 Satz 2 1. Halbsatz, § 46 Abs 2 AsylVfG zugewiesen oder vor seiner Verteilung nach I. bereits landesintern (§ 50 AsylVfG) oder länderübergreifend (§ 51 AsylVfG) verteilt worden war (vgl auch § 15a Aufenthaltsgesetz, der eine Verteilung unerlaubt eingereister Ausländer regelt) und deshalb schon wegen der Fiktion des § 10a Abs 3 Satz 4 AsylbLG dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, lässt sich dem Urteil des LSG nicht entnehmen (zur Zuweisung oder Verteilung nach dem AsylVfG Funke-Kaiser in Gemeinschaftskommentar zum AsylVfG, II-§ 46 RdNr 6 ff, Stand Februar 2010; Hohm in Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 18. Aufl 2010, § 10a AsylbLG RdNr 2 ff; Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 4. Aufl 2012, § 10a AsylbLG RdNr 4 ff; Groth in juris PraxisKommentar SGB XII, § 10a AsylbLG RdNr 14 ff). Sollte eine Zuweisung oder Verteilung nicht erfolgt sein, etwa weil die Zuweisungsentscheidung der zentralen Verteilungsstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge noch ausstand (dazu Hohm, aaO, RdNr 3), eine etwaige Zuweisungsentscheidung aufgehoben oder widerrufen wurde (Wahrendorf, aaO, RdNr 5 mwN) oder R sich in der Aufnahmeeinrichtung in D. gemeldet hatte und die Voraussetzungen des § 46 Abs 1 Satz 1 AsylVfG vorlagen, wird das LSG, soweit sich R vor seinem Umzug auch nicht zeitlich zusammenhängend mindestens sechs Monate in D. aufgehalten haben sollte (§ 10a Abs 3 Satz 2 AsylbLG), zu ermitteln haben, ob er nach § 10a Abs 3 Satz 1 AsylbLG seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Aufnahmeeinrichtung des Beklagten hatte.

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Ein gewöhnlicher Aufenthalt im Sinne dieser Regelung ist nicht schon deshalb generell ausgeschlossen, weil dieser Aufenthalt schon kraft Gesetzes (nur) auf einen Verbleib bis zu sechs Wochen, höchstens aber bis zu drei Monaten (§ 47 Abs 1 Satz 1 AsylVfG) angelegt ist (Oberverwaltungsgericht des Saarlandes, Urteil vom 14.7.2003 - 3 R 12/01; aA OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 13.9.1999 - A 3 S 638/98 -, FEVS 51, 367 f). Dies mag ein Indiz gegen die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts sein, schließt einen solchen aber nicht schlechthin aus; zur Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts ist ein dauerhafter oder längerer Aufenthalt nämlich nicht erforderlich. Es genügt vielmehr, dass der Betreffende sich an dem Ort oder in dem Gebiet bis auf weiteres im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält, also ein Ortswechsel nicht absehbar ist, und er dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat (BVerwG, Urteil vom 7.7.2005 - 5 C 9/04 -, NVwZ 2006, 97, 98 mwN). Dabei ist unter "Ort" die jeweilige politische Gemeinde zu verstehen und nicht ein bestimmtes Haus, eine bestimmte Wohnung oder gar eine Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung (BVerwGE 42, 196, 198). Die Drei-Monats-Grenze des § 47 AsylVfG begründet ohnehin nur den Rechtsanspruch auf Entlassung aus der Aufnahmeeinrichtung (Funke-Kaiser, aaO, II-§ 47 RdNr 9, Stand Februar 2010), nicht aber die Pflicht, die Einrichtung zu verlassen. Ebenso wenig ist es erforderlich, dass der Asylbewerber bei Bezug der Unterkunft in der Aufnahmeeinrichtung erklärt, auch nach deren Verlassen weiter im Ort der Aufnahmeeinrichtung bleiben zu wollen (zum gewöhnlichen Aufenthalt von Spätaussiedlern in einem Übergangswohnheim vgl BVerwG, Urteil vom 7.10.1999 - 5 C 21/98 -, FEVS 51, 385 ff). Entscheidend sind die tatsächlichen Umstände des Einzelfalls im Sinne einer vorausschauenden Betrachtung (Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 25.10.2001 - 12 B 00.2321 -, FEVS 53, 127).

17

Unterstellt, die von der Klägerin erbrachten Leistungen nach dem AsylbLG sind rechtmäßig erbracht worden (dazu unten), liegen auch die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen des § 10b Abs 3 AsylbLG vor. Angesichts der landesinternen Zuweisung des R nach I. erfolgte der Umzug ohne Verstoß gegen eine asyl- oder ausländerrechtliche räumliche Bestimmung. Auch ist Behörde des bisherigen Aufenthaltsortes der Beklagte, ohne dass es nach dem Wortlaut der Norm sowie ihrem Sinn und Zweck erforderlich wäre, dass - Feststellungen des LSG hierzu fehlen - sie selbst Leistungen nach dem AsylbLG erbracht hat oder schon am bisherigen Aufenthaltsort ein Hilfebedarf in der Person des Leistungsberechtigten entstanden war (Hohm, AsylbLG, § 10b RdNr 74, Stand November 2005). Mit Behörde des bisherigen Aufenthaltsortes ist lediglich die vor dem Verziehen für die Leistungen nach dem AsylbLG (an sich) zuständige Stelle öffentlicher Verwaltung gemeint, die nach § 10 AsylbLG iVm dem Landesrecht bestimmt ist; dies war vorliegend der Beklagte.

18

Nach § 1 Abs 1 Satz 1 AG AsylbLG sind zwar die Gemeinden für die Durchführung des AsylbLG zuständig. Hiervon macht § 1 Abs 1 Satz 2 AG AsylbLG aber eine Ausnahme für Unterbringungseinrichtungen des Landes für Asylbewerber. Danach sind nicht die Gemeinden, in denen die Unterbringungseinrichtungen gelegen sind, sondern die Bezirksregierung A. ist kommunenübergreifend zuständig. Die Auffassung des Beklagten, "Behörde" könne nur eine Kommune sein, widerspricht der Gesetzeslage. Nach § 7 Abs 2 des Gesetzes über die Organisation der Landesverwaltung (LOG NRW) vom 10.7.1962 (GVBl 421, zuletzt geändert durch Gesetz vom 18.11.2008 - GVBl 706) ist die Bezirksregierung Mittelbehörde und als solche die allgemeine Vertretung der Landesregierung (§ 8 Abs 1 Satz 1 LOG NRW); Kostenträger ist aber das Land als juristische Person. Die nach dem Umzug nach I. nunmehr zuständige Behörde (juristische Person) ist nach § 1 Abs 1 Satz 1 AG AsylbLG die Klägerin. Für die vom Beklagten geforderte teleologische Reduktion der Norm besteht keine Veranlassung; die mögliche Erstattungspflicht resultiert ausgehend von der bundesrechtlichen Regelung ausschließlich aus der länderrechtlich normierten Zuständigkeit.

19

Ob R innerhalb eines Monats nach dem Aufenthaltswechsel der Leistungen "bedurfte", kann anhand der Feststellungen des LSG nicht abschließend geprüft werden. Zwar erfolgte der Umzug am 13.10.2003. Auch wurden ab diesem Zeitpunkt Leistungen von der Klägerin erbracht, sodass jedenfalls die § 10b Abs 3 AsylbLG innewohnende zeitliche Komponente erfüllt ist. Der Erstattungsanspruch setzt daneben aber voraus, dass die Leistungen zu Recht bezogen wurden, also ein Anspruch des R auf Leistungen nach dem AsylbLG für den Erstattungszeitraum bestand und deshalb die Leistungen (auch der Höhe nach) rechtmäßig erbracht wurden. Dem Urteil des LSG lassen sich weder der Aufenthaltsstatus des R noch dessen Einkommens- und Vermögensverhältnisse entnehmen, die für die Leistungsberechtigung und ggf für die Höhe der Leistung maßgebend sind. Zwar sind in einem Erstattungsverhältnis die beteiligten Träger grundsätzlich an Bescheide gebunden, mit denen der erstattungspflichtige Träger dem Leistungsberechtigten gegenüber bindend über Grund und Höhe des Leistungsanspruches entschieden hat (auch hierzu fehlen allerdings Feststellungen des LSG), sodass sich selbst bei Unrichtigkeit des Leistungsbescheids ein Erstattungsanspruch gemäß §§ 102 ff SGB X nach diesem Bescheid bemisst, wenn ihn der erstattungspflichtige Träger nicht mehr zu Lasten des Leistungsberechtigten nach § 9 Abs 3 AsylbLG iVm §§ 45 ff SGB X aufheben darf (vgl BSG SozR 3-1300 § 112 Nr 2 S 4 ff mwN). Dies gilt aber nicht für den Erstattungsanspruch nach § 10b Abs 3 AsylbLG, weil dieser nur dann besteht, wenn R der Leistungen "bedurfte", also materiellrechtlich ein Leistungsanspruch bestand (so auch zu einem Erstattungsanspruch nach § 108 BSHG BSG: SozR 4-5910 § 147 Nr 1 RdNr 22, SozR 4-5910 § 147 Nr 2 RdNr 11); denn, während Erstattungsansprüche nach §§ 102 ff SGB X den aufgrund materiellen Sozialrechts verpflichteten Leistungsträger mit den Kosten der Sozialleistung belasten und eine Doppelleistung vermeiden sollen (Böttiger in Lehr- und Praxiskommentar SGB X, 3. Aufl 2011, vor §§ 102 bis 114 RdNr 6; Roos in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl 2010, Vor § 102 RdNr 3), dient der Erstattungsanspruch nach § 10b Abs 3 AsylbLG (wie auch der nach § 107 BSHG) dem Lastenausgleich (BSG SozR 4-5910 § 147 Nr 2 RdNr 12; W. Schellhorn/H. Schellhorn, BSHG, 16. Aufl 2002, § 10b AsylbLG RdNr 1; Hohm, AsylbLG, § 10b RdNr 2, Stand November 2005, und RdNr 70, Stand Dezember 2009).

20

Dass im FlüAG (vom 28.2.2003 - GVBl 93) Kostenpauschalen für jeden ausländischen Flüchtling, der Grundleistungen nach § 3 AsylbLG erhält, vorgesehen sind (§ 4 Abs 1 Buchst a FlüAG; heute § 4a Abs 1 Buchst a FlüAG), schließt einen Erstattungsanspruch nach § 10b Abs 3 AsylbLG nicht aus. Denn während § 4 FlüAG allgemein einen Ausgleich durch das Land dafür vorsieht, dass Gemeinden verpflichtet sind, die ihnen zugewiesenen ausländischen Flüchtlinge aufzunehmen und unterzubringen, hat § 10b Abs 3 AsylbLG die hiervon zu unterscheidende Zielrichtung, vom Gesetzgeber als unbillig verstandene Kostenverschiebungen (siehe oben) zeitlich begrenzt auszugleichen. Zudem sind Leistungen nach § 4 Abs 1 Buchst a FlüAG vorliegend ohnehin nicht erbracht worden. Auch kann § 4 FlüAG als landesrechtliche Regelung den bundesrechtlich geregelten Erstattungsanspruch nach § 10b Abs 3 AsylbLG nicht ersetzen, modifizieren oder außer Kraft setzen (Art 31 GG) bzw Vorrang beanspruchen (Hohm, AsylbLG, § 10b RdNr 28, Stand November 2005). Wie ggf ein Ausgleich parallel erbrachter Leistungen nach § 4 FlüAG und nach § 10b Abs 3 AsylbLG vorzunehmen ist, insbesondere ob sich bei einer landesrechtlichen (pauschalierten) Kostenerstattung der Umfang des Erstattungsanspruchs zur Vermeidung von Doppelleistungen verringert (so Hohm, aaO, § 10b RdNr 98, Stand November 2005) und ggf eine Aufrechnung in Höhe der geleisteten Pauschale zu erklären ist, bedarf hier keiner Entscheidung.

21

Die Klägerin hat - jedenfalls soweit es die hier noch streitigen Leistungen ab 1.12.2003 betrifft - den Erstattungsanspruch innerhalb der Jahresfrist des § 111 SGB X, der gem § 9 Abs 3 AsylbLG Anwendung findet, rechtzeitig geltend gemacht. Nach § 111 Satz 1 SGB X ist - unabhängig von den den Fristenlauf hinausschiebenden Voraussetzungen des Satz 2 - der Anspruch auf Erstattung ausgeschlossen, wenn der Erstattungsberechtigte ihn nicht spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde, geltend macht. Betroffen sind vorliegend nur Leistungen für Dezember 2003, sodass die Ausschlussfrist frühestens Ende Dezember 2004 endete. Den Erstattungsanspruch hat die Klägerin mit ihrem Schreiben vom 29.11.2004 am 3.12.2004, nicht erst durch die spätere Bezifferung (dazu unten), geltend gemacht.

22

Das Schreiben vom 29.11.2004 entspricht den Anforderungen an das "Geltendmachen" iS des § 111 Satz 1 SGB X. Der Geltendmachung muss deutlich erkennbar der Wille zugrunde liegen, zumindest rechtssichernd tätig zu werden; dabei müssen nicht alle Einzelheiten des Anspruchs dargelegt werden (BSGE 21, 157, 159 = SozR Nr 12 zu § 1531 RVO; BSG SozR 4-2500 § 10 Nr 4 RdNr 11). Auch eine Bezifferung des Erstattungsanspruchs muss entgegen der Auffassung des Beklagten (noch) nicht erfolgen (BSG SozR 4-2500 § 10 Nr 4 RdNr 11; BSG SozR 3-1300 § 111 Nr 9 S 37 f; Böttiger in LPK-SGB X, 3. Aufl 2011, § 111 RdNr 7; Roller in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl 2010, § 111 RdNr 12 mwN), selbst wenn eine solche zum Zeitpunkt der Geltendmachung des Erstattungsanspruchs möglich gewesen wäre (BSGE 65, 31, 37 = SozR 1300 § 111 Nr 6 S 23) und erst erfolgt, wenn Leistungen bereits nicht mehr erbracht werden.

23

Erforderlich ist nur, dass sich aus der Erklärung die für die Entstehung des Erstattungsanspruchs maßgeblichen Umstände (Leistungsart, Leistungsberechtigter, Leistungsgrund) und der Zeitraum, für den die Sozialleistung erbracht wurde, hinreichend konkret ergeben (BSGE 65, 31, 37 = SozR 1300 § 111 Nr 6 S 23; BSG, SozR 4-2500 § 10 Nr 4 RdNr 11; SozR 3-1300 § 111 Nr 9 S 37 f); dies ist hier zu bejahen. Selbst wenn der Erklärung die Leistungsberechtigung des R nach dem AsylbLG nicht im Einzelnen zu entnehmen ist, waren dem Beklagten als zuständiger Behörde des bisherigen Aufenthalts doch dem Grunde nach alle Umstände für die Leistungsberechtigung (sachlich und zeitlich) bekannt. Einer gesonderten Darlegung zu den Anspruchsvoraussetzungen im Einzelnen im Rahmen der Geltendmachung des Erstattungsanspruchs bedurfte es nicht. Eine Berufung des Beklagten auf eine auch formale genauere Darlegungspflicht wäre treuwidrig. Zudem genügte es, zunächst nur den Beginn des Leistungszeitraums mitzuteilen, wie die Möglichkeit zur Geltendmachung zukünftiger Erstattungsansprüche bei späterer Bezifferung zeigt (BSG SozR 4-2500 § 10 Nr 4 RdNr 11).

24

Der Erstattungsanspruch scheitert schließlich nicht daran, dass § 10b Abs 3 AsylbLG mit Wirkung zum 1.7.2005 ersatzlos gestrichen worden ist. Nach den Grundsätzen des intertemporalen Rechts richtet sich bei Fehlen von Übergangs- und Überleitungsvorschriften - wie hier - die Beurteilung eines Sachverhalts grundsätzlich nach dem Recht, das zur Zeit der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände (hier die Leistungsgewährung, die den Erstattungsanspruch auslöst) gegolten hat, soweit nicht später in Kraft getretenes Recht ausdrücklich oder stillschweigend etwas anderes bestimmt (BSG SozR 4-5910 § 111 Nr 1 RdNr 9 mwN). Maßgeblicher Umstand im Rahmen des von der Klägerin geltend gemachten Erstattungsanspruchs ist - entgegen der Ansicht des Beklagten - der Anfall der Kosten nach dem AsylbLG, nicht deren Bezifferung; diese ist für die Anspruchsentstehung ohne Bedeutung. Hieran ändert der von § 107 Abs 1 BSHG ("erforderlich werdende Leistungen") abweichende Wortlaut in § 10b Abs 3 AsylbLG ("erforderliche Leistungen"), worauf das LSG zu Recht hinweist, nichts. Das Erstattungsverhältnis war hier jedenfalls im Zeitpunkt des Außerkrafttretens des § 10b Abs 3 AsylbLG abgeschlossen (vgl dazu in anderem Zusammenhang BSG, aaO, mwN).

25

Bei seiner erneuten Entscheidung wird das LSG im Rahmen der Tenorierung zu berücksichtigen haben, dass die Klägerin einen bezifferten Klageantrag gestellt und das SG entsprechend geurteilt hat. Selbst wenn ein Grundurteil zulässig wäre oder die Klägerin ihren Klageantrag ändert, ist darauf zu achten, dass bei Erlass eines Grundurteils (§ 130 Abs 1 SGG) der Beklagte nicht zu einer höheren Leistung verurteilt wird, als sie schon in der erstinstanzlichen, streitgegenständlich umfassenderen Entscheidung enthalten war.

26

Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs 2, § 47 Abs 1, § 52 Abs 1, § 39 Abs 1 und § 40 Gerichtskostengesetz.

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