Beschluss vom Bundessozialgericht (9. Senat) - B 9 SB 83/15 B

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Hessischen Landessozialgerichts vom 24. September 2015 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

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I. Der Kläger begehrt eine Feststellung seiner Schwerbehinderteneigenschaft zu einem früheren Zeitpunkt.

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Beim Kläger wurde im Jahr 2002 ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 anerkannt, den der Beklagte später auf 60 erhöhte.

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Im Jahr 2010 beantragte der 1950 geborene Kläger erfolglos, den GdB von 50 rückwirkend bereits ab 1.11.2000 festzustellen, um eine Altersrente für Schwerbeschädigte zu erhalten (Bescheid vom 4.11.2010 in Gestalt des Widerspruchbescheids vom 18.11.2010).

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Die dagegen vom Kläger erhobene Klage hat das SG abgewiesen (Urteil vom 22.4.2013). Zwar habe sich nach Einschätzung des von Amts wegen gehörten Sachverständigen die gesundheitliche Situation schon ab November 2000 verschlechtert. Eine für die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft ausreichende Funktionseinschränkung lasse sich aber keinesfalls vor Mai 2001 feststellen.

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Die Berufung des Klägers hat das LSG nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung zurückgewiesen, nachdem ein auf Antrag des Klägers gehörter Sachverständiger die Einschätzung des SG bestätigt hatte (Beschluss vom 24.9.2015).

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Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat der Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt. Das LSG habe durch die Wahl der Beschlussform Verfahrensrecht verletzt und die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache verkannt.

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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil weder der behauptete Verfahrensmangel (1.) noch die angebliche grundsätzliche Bedeutung (2.) ordnungsgemäß dargetan worden sind (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG).

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1. Die Beschwerde hat die behauptete Verletzung von § 153 Abs 4 S 1 SGG nicht hinreichend substantiiert dargelegt. Nach dieser Vorschrift kann das LSG, außer in den Fällen, in denen das SG durch Gerichtsbescheid entschieden hat, die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Nicht erforderlich in diesem Sinne ist eine mündliche Verhandlung ua dann, wenn der Sachverhalt umfassend ermittelt worden ist und deshalb Tatsachenfragen in einer mündlichen Verhandlung nicht mehr geklärt werden müssen, oder wenn etwa im Berufungsverfahren lediglich der erstinstanzliche Vortrag wiederholt wird (BSG Beschluss vom 8.9.2015 - B 1 KR 134/14 B - Juris). Die Entscheidung des Berufungsgerichts, bei Vorliegen der im Gesetz genannten Voraussetzungen ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, steht in seinem pflichtgemäßen Ermessen ("kann"). Das Gebot fairen und effektiven Rechtsschutzes sowie das Recht auf eine mündliche Verhandlung schränken dieses Ermessen allerdings ein. Relevant für die Ermessensentscheidung sind - auch im Hinblick auf das in Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention jedermann gewährleistete Recht auf gerichtliches Gehör - die Schwierigkeit des Falles und die Bedeutung von Tatsachenfragen. Zu beachten ist auch der Anspruch der Beteiligten auf effektiven Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 GG). Danach muss die Gestaltung des Verfahrens in einem angemessenen Verhältnis zu dem auf Sachverhaltsaufklärung und Verwirklichung des materiellen Rechts gerichteten Verfahrensziel stehen. Die Ermessensentscheidung für eine Entscheidung im Beschlusswege kann vom Revisionsgericht deshalb darauf geprüft werden, ob das Berufungsgericht von seinem Ermessen erkennbar fehlerhaften Gebrauch gemacht hat, etwa wenn der Beurteilung sachfremde Erwägungen oder eine grobe Fehleinschätzung zugrunde liegen (vgl BSG Beschluss vom 8.9.2015 - B 1 KR 134/14 B - Juris mwN).

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Insoweit hat die Beschwerde aber nicht substantiiert dargelegt, warum das LSG mit dem Verzicht auf eine weitere mündliche Verhandlung den ihm eröffneten Ermessensspielraum überschritten haben sollte. Der medizinische Sachverhalt war durch zwei Sachverständigengutachten aufgeklärt. Die Beteiligten stritten nur noch über die überschaubare Frage, von welchem Zeitpunkt an sich auf der Grundlage der umfassenden Ermittlungen des SG und des LSG eine Schwerbehinderung des Klägers noch feststellen ließ. Zudem hatte das SG eine mündliche Verhandlung durchgeführt. Soweit die Beschwerde auf vermeintlich missverständliche Hinweise des SG, insbesondere denjenigen vom 6.12.2000, verweist, teilt sie deren Inhalt nicht mit und führt auch nicht aus, warum sich daraus etwa eine besondere Schwierigkeit des Falles ergeben sollte. Da somit ein Verstoß gegen die Vorschrift des § 153 Abs 4 SGG nicht hinreichend substantiiert dargetan ist, gilt dasselbe für die gerügte fehlerhafte Besetzung des LSG aufgrund der Entscheidung durch Beschluss ohne ehrenamtliche Richter.

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Soweit die Beschwerde wegen der Zurückweisung der Berufung durch Beschluss noch eine Verletzung rechtlichen Gehörs rügt, fehlt es schon an der Darlegung, an welchem entscheidungserheblichen Vortrag der Verzicht des LSG auf mündliche Verhandlung den Kläger gehindert haben sollte. Die Beschwerde legt auch nicht dar, warum sich der Kläger nicht in der mündlichen Verhandlung vor dem SG und durch schriftlichen Vortrag seines Prozessbevollmächtigten im Berufungsverfahren ausreichend rechtliches Gehör verschaffen konnte.

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2. Ebenso wenig hat die Beschwerde die angebliche grundsätzliche Bedeutung des Rechtsstreits dargelegt.

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Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern die Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; siehe auch BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN).

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Bei der von der Beschwerde formulierten Frage,

        

zu welchem Zeitpunkt ist der Gesamt-GdB eines behinderten Menschen zu erhöhen, wenn aufgrund der Befundlage nachträglich eine zugetretene Behinderung festgestellt werden konnte und nur durch die weitere Verschlimmerung dieser Behinderung Rückschlüsse auf deren Entstehungszeitpunkt gezogen werden können,

ist schon zweifelhaft, ob es sich um eine Rechtsfrage handelt, die sich durch Subsumtion unter gesetzliche Tatbestandsmerkmale beantworten ließe. Jedenfalls zielt die Frage der Beschwerde ersichtlich auf den Einzelfall des Klägers ab. Das macht insbesondere ihre erläuternde Formulierung "derzeit wird ausschließlich darauf abgestellt …" deutlich. Jedenfalls eine grundsätzliche, fallübergreifende Bedeutung dieser Rechtsfrage hat die Beschwerde damit nicht dargelegt.

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Soweit die Beschwerde schließlich ausführt, sie halte das angefochtene Urteil inhaltlich für falsch, kann sie damit ebenfalls keine Revisionszulassung erreichen. Die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung des LSG im Einzelfall ist nicht Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde (BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).

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Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2, § 169 SGG).

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Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

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3. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.

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