Beschluss vom Bundessozialgericht (5. Senat) - B 5 RE 7/16 B
Tenor
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Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 18. Mai 2016 aufgehoben.
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Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Die Beteiligten streiten, ob der Kläger als Selbstständiger der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung unterliegt.
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Der Kläger ist seit 1993 als Versicherungsvermittler für die D. Beratungs- und Vermittlungs AG in K. tätig. Nach Betriebsprüfung am 12.9.2011 stellte die Beklagte gegenüber dem Kläger den Eintritt der Versicherungspflicht als selbstständig tätiger Handelsvertreter (§ 2 S 1 Nr 9 SGB VI) und die Verpflichtung zur Zahlung des Regelbeitrags ab 28.6.2011 fest (Bescheid vom 5.3.2012). Mit weiterem Beitragsbescheid vom 17.4.2012 setzte sie Säumniszuschläge für die Zeit vom 26.6.2011 bis 31.3.2012 fest. Mit Bescheid vom 5.6.2012 hob die Beklagte "die Forderungsbescheide vom 17. April 2012" sowie die darauffolgenden Mahnungen auf.
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Mit Bescheid vom 12.9.2012 stellte die Beklagte das Vorliegen von Versicherungspflicht ab 1.1.1999 gemäß § 2 S 1 Nr 9 SGB VI fest, der Regelbeitrag sei ab 1.1.2009 zu zahlen. Weiter werde ein rückständiger Beitrag in Höhe von 28 785,30 Euro (1.1.2008 bis 30.9.2012) und ein laufender Beitrag von 514,50 Euro ab 1.10.2012 gefordert. Den Antrag vom Januar 2013, ihn von der Versicherungspflicht zu befreien, lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 25.1.2013). Die Versicherungspflicht sei bereits am 1.1.1999 eingetreten, der Antrag hätte gemäß § 231 Abs 5 SGB VI bis zum 31.3.1999 gestellt werden müssen. Mit Widerspruchsbescheid vom 24.5.2013 hat die Beklagte die Widersprüche gegen die Bescheide vom 12.9.2012 und 25.1.2013 zurückgewiesen. Ein früherer Befreiungsantrag liege nicht vor, der Kläger sei versicherungspflichtig.
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Mit weiterem Bescheid vom 23.5.2013 setzte die Beklagte Säumniszuschläge für die Zeit vom 1.1.2008 bis 30.4.2013 fest. Mit Bescheid vom 5.6.2013 nahm die Beklagte den Bescheid vom 23.5.2013 hinsichtlich der geforderten Säumniszuschläge zurück. Das Verfahren werde bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens ausgesetzt.
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Mit Urteil vom 7.10.2014 hat das SG Gießen den Bescheid vom 12.9.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.5.2013 insoweit aufgehoben, als eine Beitragspflicht des Klägers von Januar bis Mai 2008 festgestellt worden sei und im Übrigen die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Hessische LSG das SG-Urteil insoweit aufgehoben, als damit der Bescheid vom 12.9.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.5.2013 aufgehoben werde. Im Übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 18.5.2016).
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Mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger Verfahrensmängel. Das LSG habe gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verstoßen. Es habe ihm - dem Kläger - eine Frist zur Stellungnahme zum Schriftsatz der Beklagten vom 19.4.2016 bis zum 6.6.2016 gesetzt. Gleichwohl habe das LSG ohne mündliche Verhandlung durch Urteil vom 18.5.2016 - und damit vor Fristablauf - über die Berufung entschieden. Auf diesem Verfahrensmangel könne die Entscheidung beruhen. Er - der Kläger - hätte darauf hinweisen können, dass die Beteiligten in der Sitzung am 2.7.2015 ihr Einverständnis mit dem Ruhen des Verfahrens erklärt hätten, bis die Beklagte über seinen Antrag entschieden habe, "ob die ausstehenden Beitragszahlungen über Ratenzahlungen zu zahlen sind bzw. gestundet oder sogar niedergeschlagen werden" können. Zwar habe die Beklagte im Schreiben vom 19.4.2016 behauptet, ihr "diesbezügliches Schreiben vom 3.9.2015 ("Information zur Ratenzahlung von selbständig Tätigen" mit Antragsvordruck)" sei unbeantwortet geblieben, was sich aber weder auf die Überprüfung der Möglichkeit der Stundung noch der Niederschlagung der streitgegenständlichen Forderung bezogen habe. Unabhängig davon sei in der Sitzung vom 2.7.2015 keine Rede davon gewesen, dass der Kläger noch einen gesonderten Antrag stellen müsse. Damit sei für ihn noch keine Entscheidungsreife eingetreten, vielmehr hätte die Beklagte eine entsprechende Prüfung durchführen müssen.
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Des Weiteren habe das LSG gegen die Berücksichtigungs- und Erwägungspflicht als Teil des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs verstoßen. Insbesondere habe das LSG zur Rüge, der Widerspruchsbescheid sei infolge fehlender Unterzeichnung (§ 85 Abs 3 S 1 SGG) nichtig, nicht Stellung genommen. Die unrichtige Anwendung des § 153 Abs 2 SGG führe dazu, dass die Entscheidungsgründe iS von § 136 Abs 1 Nr 6 SGG fehlten, was einen absoluten Revisionsgrund nach § 202 S 1 SGG iVm § 547 Nr 6 ZPO begründe. Das Gericht habe auch sein Recht auf Akteneinsicht verletzt, weil es den Antrag auf Einsicht in die vollständigen Behördenakten hinsichtlich der Betriebsprüfung bei der S. Finanzberatungs GmbH F. übergangen habe, selbst wenn das LSG seiner Tätigkeit bei dieser Firma keine Bedeutung beigemessen habe. Schließlich weise das Urteil des LSG nicht die gesetzliche Form auf. Die ihm übersandte Urteilsabschrift enthalte weder den Namen noch die Unterzeichnung durch den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle.
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II. Auf die Beschwerde des Klägers war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
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Der Kläger hat formgerecht (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG) und auch in der Sache zutreffend die Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) gerügt (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
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Das LSG hat § 62 SGG verletzt, wonach den Beteiligten vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren ist. Der Verstoß des Berufungsgerichts gegen diese Verfahrensvorschrift liegt darin begründet, dass es dem Kläger mit Schreiben vom 25.4.2016 eine Frist zur Stellungnahme (bis zum 6.6.2016) zum Schreiben der Beklagten vom 19.4.2016 eingeräumt und diese selbst nicht beachtet hat. In diesem Fall setzt sich das Gericht in Widerspruch zu seinem eigenen Verhalten und verletzt das aus Art 2 Abs 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende allgemeine verfassungsrechtliche Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren (vgl BVerfG
Beschluss vom 15.4.2004 - 1 BvR 622/98 - Juris RdNr 11 im Rahmen prozessualer Hinweispflichten; BVerfG . Aus diesem ergibt sich des Weiteren, dass das Gericht verpflichtet ist, die selbst gesetzte Frist einzuhalten (vgl BVerfGBeschluss vom 15.8.1996 - 2 BvR 2600/95 - Juris RdNr 21 mwN) Beschluss vom 24.10.1991 - 1 BvR 604/90 - Juris RdNr 16, 22 mwN) .
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Die Entscheidung des LSG kann auf der Verletzung von § 62 SGG beruhen. Hierzu hat der Kläger in der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde vorgetragen, er hätte darauf hingewiesen, dass die Beteiligten in der Sitzung am 2.7.2015 ihr Einverständnis mit dem Ruhen des Verfahrens erklärt hätten, bis die Beklagte über seinen Antrag entschieden habe, "ob die ausstehenden Beitragszahlungen über Ratenzahlungen zu zahlen sind bzw. gestundet oder sogar niedergeschlagen werden" können. Zwar habe die Beklagte im Schreiben vom 19.4.2016 behauptet, ihr "diesbezügliches Schreiben vom 3.9.2015 ("Information zur Ratenzahlung von selbständig Tätigen" mit Antragsvordruck)" sei unbeantwortet geblieben, was sich aber weder auf die Überprüfung der Möglichkeit der Stundung noch der Niederschlagung der streitgegenständlichen Forderung bezogen habe. Unabhängig davon sei in der Sitzung vom 2.7.2015 keine Rede davon gewesen, dass der Kläger noch einen gesonderten Antrag stellen müsse. Damit sei für ihn noch keine Entscheidungsreife eingetreten, vielmehr hätte die Beklagte eine entsprechende Prüfung durchführen müssen. Dieser Vortrag ist ausreichend im Rahmen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, wonach die Revision nur dann zuzulassen ist, wenn die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensmangel beruhen kann. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das LSG ein weiteres Ruhen des Verfahrens bis zu einer Entscheidung der Beklagten angeordnet hätte.
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Da die Beschwerde bereits aus den oben dargelegten Gründen erfolgreich ist, bedarf es keiner Entscheidung des Senats zu den übrigen Verfahrensrügen.
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Gemäß § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen macht der Senat von dieser ihm eingeräumten Möglichkeit Gebrauch.
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Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
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Referenzen
- SGG § 160a 1x
- SGG § 153 1x
- 1 BvR 604/90 1x (nicht zugeordnet)
- SGG § 136 1x
- ZPO § 547 Absolute Revisionsgründe 1x
- 2 BvR 2600/95 1x (nicht zugeordnet)
- SGG § 62 3x
- § 231 Abs 5 SGB VI 1x (nicht zugeordnet)
- 1 BvR 622/98 1x (nicht zugeordnet)
- SGG § 160 3x