Beschluss vom Bundessozialgericht (9. Senat) - B 9 SB 73/16 B
Tenor
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Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachen-Bremen vom 21. September 2016 wird als unzulässig verworfen.
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Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
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I. Das LSG Niedersachen-Bremen hat mit Urteil vom 21.9.2016 einen Anspruch der Klägerin auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens Bl (Blindheit) ab dem 1.3.2013 bejaht und den Beklagten entsprechend zur Feststellung verurteilt.
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Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat der Beklagte Beschwerde zum BSG eingelegt und diese mit dem Bestehen einer grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) sowie mit einer Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) begründet. Bei der dementen Klägerin könne nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob das Sehvermögen 1/50 oder weniger oder vielleicht 1/20 oder weniger betrage. Somit könne der erforderliche Blindheitsnachweis nicht geführt werden, da eine Quantifizierung und Qualifizierung des Sehvermögens an den allgemeinen Beeinträchtigungen der Klägerin und auch an den weiteren vorliegenden medizinischen Besonderheiten scheitere. Insoweit müsse die Klägerin nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast die Folgen tragen, dass eine (große) Ungewissheit bezüglich der für sie günstigen Tatsachen verblieben sei. Das in der vorliegenden Rechtssache gleichwohl die Voraussetzungen für das Merkzeichen Bl festgestellt worden seien, werfe die entscheidungserhebliche und klärungsbedürftige sowie klärungsfähige Rechtsfrage auf. Denn im sozialgerichtlichen Verfahren seien die einen Anspruch begründenden Tatsachen grundsätzlich im Vollbeweis, dh mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen. Darüber hinaus weiche die Entscheidung des LSG von der ständigen Rechtsprechung des BSG ab.
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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil weder eine behauptete grundsätzliche Bedeutung (1.) noch die zudem geltend gemachte Divergenz (2.) ordnungsgemäß dargetan worden sind (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG).
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1. Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern die Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; siehe auch BSG SozR 3-2500 § 204 Nr 33 S 151 f mwN).
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Eine solche Rechtsfrage hat die Beschwerde nicht herausgearbeitet. Ihre Kritik, dass LSG habe sich in seinem Urteil nicht mit den insgesamt vorliegenden Funktionsstörungen beim Sehen ausreichend auseinandergesetzt und den erforderlichen Beweismaßstab nicht beachtet, wendet sich in der Sache lediglich gegen die Beweiswürdigung des LSG. Damit kann sie keinen Erfolg haben, weil die Richtigkeit der Entscheidung nicht Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).
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Die Beschwerde hätte sich vielmehr unter Darlegung einer konkreten Rechtsfrage mit der verbindlichen Rechtsgrundlage für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens Bl und der darauf basierenden Rechtsprechung des BSG auseinandersetzen müssen. Insofern wäre insbesondere eine Darlegung der Senatsentscheidung vom 11.8.2015 (B 9 BL 1/14 R, BSGE 119, 224 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 3) erforderlich gewesen, in der das BSG unter anderem ausgeführt hat, dass eine der Blindheit entsprechende gleich schwere cerebrale Störung des Sehvermögens keine spezifische Sehstörung voraussetzt. Denn zur Darlegung der Klärungsbedürftigkeit reicht es nicht aus, lediglich die eigene Rechtsmeinung auszubreiten. Vielmehr ist eine substantielle Auseinandersetzung mit den einschlägigen oberstgerichtlichen Entscheidungen erforderlich (vgl BSG Beschluss vom 10.12.2012 - B 13 R 361/12 B - Juris RdNr 6). Dies hat die Beschwerde versäumt.
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2. Wer eine Rechtsprechungsdivergenz entsprechend den gesetzlichen Anforderungen (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) darlegen will, muss entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze in der Entscheidung des Berufungsgerichts einerseits und in der herangezogenen höchstrichterlichen Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG andererseits gegenüberstellen und dazu ausführen, weshalb beide miteinander unvereinbar sein sollen (vgl zB BSG Beschluss vom 28.7.2009 - B 1 KR 31/09 B - RdNr 4; BSG Beschluss vom 28.6.2010 - B 1 KR 26/10 B - RdNr 4; BSG Beschluss vom 22.12.2010 - B 1 KR 100/10 B - Juris RdNr 4 mwN).
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Erforderlich ist, dass das LSG bewusst einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt und nicht etwa lediglich das Recht fehlerhaft angewendet hat (vgl zB BSG Beschluss vom 15.1.2007 - B 1 KR 149/06 B - RdNr 4; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26 S 44 f mwN). Der Beklagte legt allerdings die für eine Divergenz notwendigen Voraussetzungen nicht in der gesetzlich gebotenen Weise dar.
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Zwar führt der Beklagte die Entscheidung des BSG mit Urteil vom 28.6.2000 (B 9 VG 3/99 R) an und macht geltend, dass das LSG die Voraussetzungen für einen Vollbeweis verkannt habe, weil hierfür ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit erforderlich sei, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifele. Denn an der Erforderlichkeit der Prüfung, ob die visuellen Fähigkeiten der Betroffenen unterhalb der vorgegebenen Blindheitsschwelle lägen, habe sich auch durch die neue Rechtsprechung nichts geändert; der Blindheitsnachweis müsse weiterhin erbracht werden. Mit diesen Ausführungen legt der Beklagte weder einen Rechtssatz aus der LSG-Entscheidung noch einen Rechtssatz aus der BSG-Entscheidung dar und behauptet nicht einmal, dass das LSG in seiner Entscheidung insbesondere den Kriterien des BSG in dessen Rechtsprechung ausdrücklich habe widersprechen wollen und andere - eigene - rechtliche Maßstäbe entwickelt habe. Tatsächlich rügt die Beschwerdebegründung, das LSG habe die gesetzlichen Vorgaben für die Feststellung eines Vollbeweises unrichtig angewandt und daher den Beklagten zu Unrecht verurteilt, bei der Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens Bl festzustellen. Damit rügt der Beklagte die unrichtige Anwendung des Gesetzes. Die behaupteten Fehler der Rechtsanwendung sind jedoch für sich allein, wie oben bereits dargestellt, kein Zulassungsgrund (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).
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3. Von einer weitergehenden Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
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4. Die Verwerfung der Beschwerde erfolgt ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 SGG).
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Referenzen
- 1 KR 100/10 1x (nicht zugeordnet)
- 13 R 361/12 1x (nicht zugeordnet)
- 1 KR 26/10 1x (nicht zugeordnet)
- 9 VG 3/99 1x (nicht zugeordnet)
- 1 KR 149/06 1x (nicht zugeordnet)
- SGG § 193 1x
- 9 BL 1/14 1x (nicht zugeordnet)
- SGG § 169 1x
- 1 KR 31/09 1x (nicht zugeordnet)
- SGG § 160 4x