Stattgebender Kammerbeschluss vom Bundesverfassungsgericht (1. Senat 3. Kammer) - 1 BvR 1633/09
Tenor
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1. Das Urteil des Amtsgerichts Dortmund vom 7. November 2008 - 413 C 9435/08 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil wird aufgehoben und die Sache an das Amtsgericht Dortmund zurückverwiesen. Damit wird der Beschluss des Amtsgerichts Dortmund vom 3. Juni 2009 - 413 C 9435/08 - gegenstandslos.
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2. ...
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3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Gründe
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I.
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Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Gewährung rechtlichen Gehörs in einem Zivilrechtsstreit.
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1. Die Kläger des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Kläger) verlangten von der Beschwerdeführerin, einem Luftfahrtunternehmen, Schadensersatz für ersatzweise gebuchte Flüge. Sie seien über die vorverlegte Abflugzeit des bei der Beschwerdeführerin gebuchten Flugs nicht informiert worden.
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Das Amtsgericht ordnete das vereinfachte Verfahren nach § 495a ZPO an. Mit ihrer Klageerwiderung behauptete die Beschwerdeführerin unter Beweisantritt, sie habe die Kläger rechtzeitig per E-Mail über die Änderung der Flugzeit informiert und legte eine Reproduktion der Benachrichtigungsemail vor. Ausweislich des gespeicherten Versandprotokolls habe der E-Mail-Service-Provider der Kläger den Response-Code 250 zurückgemeldet. Dieser bedeute "message accepted" und werde versandt, wenn die Nachricht vollständig habe empfangen werden können.
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Das Gericht setzte mit Verfügung vom 9. Oktober 2008 eine Replikfrist von zwei Wochen. Mit Verfügungen vom 6. Februar 2009 erhielt die Beschwerdeführerin die Replik der Kläger vom 29. Oktober 2008 sowie das im schriftlichen Verfahren am 7. November 2008 ergangene, der Klage überwiegend stattgebende Urteil des Amtsgerichts. Die Beschwerdeführerin habe nicht dargetan, dass sie die Kläger über die Verlegung der Abflugzeit informiert habe. Aus der Benachrichtigungsemail lasse sich der "Code 250" gerade nicht entnehmen.
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2. Mit ihrer Anhörungsrüge wies die Beschwerdeführerin darauf hin, dass nach ihrem Vortrag der bestätigende "Code 250" nicht in der Benachrichtigungsemail, sondern in dem Versandprotokoll zu finden sei. Hätte das Gericht auf seine Bedenken hingewiesen, hätte sie ergänzend vorgetragen. Das rechtliche Gehör sei auch dadurch verletzt, dass die Replik erst mit dem Urteil übersandt worden sei. Auch sei keine abschließende Schriftsatzfrist gesetzt worden.
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Das Amtsgericht wies die Anhörungsrüge mit Beschluss vom 3. Juni 2009 zurück. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin sei umfassend gewürdigt worden, weitere Ausführungen seien nicht veranlasst.
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3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 2 und 3 sowie Art. 103 Abs. 1 GG.
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Das Gericht habe ihren Vortrag nicht vollständig zur Kenntnis genommen. Zumindest hätte es auf eine angebliche Lückenhaftigkeit hinweisen müssen. Sie habe zudem keine Gelegenheit gehabt, zu der Replik Stellung zu nehmen, und das Gericht habe sie nicht von seiner Absicht unterrichtet, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden.
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II.
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Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, soweit die Verletzung rechtlichen Gehörs gerügt wird, und gibt ihr insoweit statt. Die Annahme ist zur Durchsetzung des verfassungsmäßigen Rechts der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Entscheidung durch die Kammer liegen vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
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1. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG.
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a) Die Garantie rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 96, 205 <216>; stRspr). Eng damit zusammen hängt das ebenfalls aus Art. 103 Abs. 1 GG folgende Verbot von "Überraschungsentscheidungen". Die Beteiligten müssen die Gelegenheit erhalten, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern. Eine dem verfassungsrechtlichen Anspruch genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt zudem voraus, dass die Verfahrensbeteiligten bei Anwendung der von ihnen zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermögen, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankommen kann (vgl. BVerfGE 84, 188 <190>).
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b) Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht. Das Amtsgericht hat entscheidungserheblichen Vortrag der Beschwerdeführerin außer Acht gelassen, zumindest aber seine Hinweispflicht verletzt.
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Es hat den Vortrag der Beschwerdeführerin über den streitigen Zugang der Benachrichtigungsemail entweder nicht berücksichtigt oder - wofür vieles spricht - nicht oder falsch verstanden. Die Beschwerdeführerin hatte in der Klageerwiderung substantiiert und unter Beweisantritt sowohl zu der Benachrichtigungsemail als auch zu dem Versandprotokoll vorgetragen, wobei letzteres den Zugang der Benachrichtigungsemail bei den Klägern beweisen sollte. Der Vortrag zum Versandprotokoll findet im Urteil jedoch keine Berücksichtigung; das Amtsgericht setzt sich ausschließlich mit der Benachrichtigungsemail auseinander.
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Hat das Gericht dagegen den Vortrag zu dem Versandprotokoll nicht oder falsch verstanden, stellt es eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG dar, dass es die Beschwerdeführerin auf seine Zweifel an der hinreichenden Darlegung des Zugangs der Benachrichtigungsemail nicht hingewiesen hat. Die Beschwerdeführerin durfte nach dem bisherigen - ihr bekannten - Vortrag im Prozess davon ausgehen, den Vorgang der Benachrichtigung einschließlich des Zugangs ausreichend dargelegt zu haben. Dies gilt umso mehr, als sie von der Replik der Kläger erstmals zusammen mit dem Urteil Kenntnis erlangte.
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Das Urteil beruht auf dem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Hätte das Amtsgericht auf seine Zweifel an der hinreichenden Darlegung hingewiesen, hätte die Beschwerdeführerin, wie in der Anhörungsrüge dargelegt, dem Gericht die technischen Zusammenhänge erläutert und auf den Unterschied zwischen Benachrichtigungsemail und Versandprotokoll hingewiesen. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass das Gericht bei gebührender Auseinandersetzung mit dem Vorbringen zu einem anderen, für die Beschwerdeführerin günstigeren Ergebnis gelangt wäre. Daran ändert die Verkennung des Gehörsverstoßes im Anhörungsrügebeschluss nichts.
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Die Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs setzt sich in dem Beschluss über die Zurückweisung der Anhörungsrüge fort.
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2. Es bedarf wegen dieser erfolgreichen Rüge keiner Entscheidung darüber, ob eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG unter weiteren Gesichtspunkten vorliegt, insbesondere, weil das Amtsgericht keine abschließende Schriftsatzfrist gesetzt hat.
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3. Das Urteil vom 7. November 2008 ist wegen dieses Verstoßes gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht Dortmund zurückzuverweisen. Der Beschluss vom 3. Juni 2009 wird damit gegenstandslos.
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III.
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Soweit die Verfassungsbeschwerde ein Verletzung von Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 sowie Art. 20 Abs. 2 und 3 GG rügt, ist sie mangels hinreichender Begründung unzulässig.
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IV.
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Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG; die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG und den Grundsätzen für die Festsetzung des Gegenstandswerts im verfassungsgerichtlichen Verfahren (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).
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Referenzen
- BVerfGG § 93c 1x
- RVG § 14 Rahmengebühren 1x
- BVerfGG § 95 1x
- BVerfGG § 34a 1x
- 413 C 9435/08 2x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 495a Verfahren nach billigem Ermessen 1x