Stattgebender Kammerbeschluss vom Bundesverfassungsgericht (2. Senat 2. Kammer) - 2 BvR 977/16

Tenor

Das Urteil des Amtsgerichts Tostedt vom 25. Februar 2016 - 4 C 14/16 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem verfassungsmäßigen Recht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil wird aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Tostedt zurückverwiesen. Der Beschluss des Amtsgerichts Tostedt vom 30. März 2016 - 4 C 14/16 - wird damit gegenstandslos.

Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine unterlassene Durchführung der mündlichen Verhandlung im vereinfachten Verfahren nach § 495a ZPO.

I.

2

Der Beschwerdeführer erwarb vom Beklagten des Ausgangsverfahrens eine gebrauchte Digitalkamera. In der Folge entbrannte zwischen den Parteien ein Streit darüber, ob der Beklagte zugesichert hatte, dass die Kamera über eine bestimmte, tatsächlich nicht vorhandene Funktion verfüge. Nachdem der Beschwerdeführer vergeblich die Rückabwicklung des Kaufvertrags verlangt hatte, erhob er Klage zum Amtsgericht Tostedt. In der Klageschrift trug er unter anderem vor, der Beklagte habe vor Abschluss des Kaufvertrags telefonisch bestätigt, dass die Kamera die fragliche Funktion aufweise. Ferner schrieb er, dass er "einer Entscheidung durch Aktenlage nicht zustimmen wird". Daraufhin ordnete das Amtsgericht das schriftliche Vorverfahren gemäß § 276 ZPO an. In der Klageerwiderung bestritt der Beklagte den Tatsachenvortrag des Klägers.

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Das Amtsgericht wies die Klage "im Verfahren gem. § 495a ZPO" durch Urteil vom 25. Februar 2016 ab. Eine mündliche Verhandlung hatte es nicht durchgeführt. Zur Begründung der Klagabweisung führte es aus, dass der Beschwerdeführer keinen Beweis für seine Behauptung angeboten habe, dass der Kamera eine vereinbarte Beschaffenheit fehle. Daraufhin erhob der Beschwerdeführer Anhörungsrüge gemäß § 321a ZPO. In der Rügeschrift monierte der Beschwerdeführer unter anderem, dass keine mündliche Verhandlung durchgeführt worden sei, und beantragte, den Beklagten im Rahmen einer mündlichen Verhandlung zu vernehmen. Das Amtsgericht wies die Anhörungsrüge durch Beschluss vom 30. März 2016 als unbegründet zurück. Auf die Frage, ob eine mündliche Verhandlung durchzuführen gewesen sei, ging das Amtsgericht nicht ein.

II.

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1. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 103 Abs. 1 GG. Das Urteil sei eine Überraschungsentscheidung, da das Amtsgericht trotz des Hinweises in der Klageschrift, dass der Beschwerdeführer einer Entscheidung nach Aktenlage nicht zustimmen werde, ohne mündliche Verhandlung entschieden habe. Außerdem sei sein Beweisantrag übergangen worden.

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2. Der Beklagte des Ausgangsverfahrens und das Niedersächsische Justizministerium hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akte des Ausgangsverfahrens lag der Kammer vor.

III.

6

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Rechts des Beschwerdeführers aus Art. 103 Abs. 1 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

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1. Zwar folgt aus Art. 103 Abs. 1 GG nicht unmittelbar ein Anspruch auf eine mündliche Verhandlung (vgl. BVerfGE 5, 9 <11>; 21, 73 <77>; 36, 85 <87>; 60, 175 <210>; 89, 381 <391>; 112, 185 <206>). Es ist vielmehr Sache des Gesetzgebers, zu entscheiden, in welcher Weise das rechtliche Gehör gewährt werden soll (vgl. BVerfGE 9, 89 <95 f.>; 60, 175 <210 f.>; 67, 208 <211>; 74, 1 <5>; 89, 381 <391>). Hat eine mündliche Verhandlung aber von Gesetzes wegen stattzufinden, wie dies in den Fällen des § 495a Satz 2 ZPO auf Antrag einer Partei vorgeschrieben ist, begründet der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG ein Recht auf Äußerung in der mündlichen Verhandlung und zugleich auf deren Durchführung durch das Gericht (vgl. BVerfGK 19, 377 <382>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2015 - 1 BvR 367/15 -, juris, Rn. 7). Da die nach § 495a Satz 2 ZPO beantragte Verhandlung zwingend durchzuführen ist, muss mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung dann nicht gerechnet werden (vgl. BVerfGK 19, 377 <381 ff.> m.w.N.).

8

Ferner folgt aus Art. 103 Abs. 1 GG die Pflicht des Gerichts, die Parteien darauf hinzuweisen, wenn im schriftlichen Verfahren entschieden werden soll, wie es § 495a ZPO ermöglicht, und bis zu welchem Zeitpunkt die Parteien vortragen können (vgl. BVerfGE 64, 203 <207>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. August 1993 - 1 BvR 279/93 -, juris, Rn. 9; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. November 2008 - 2 BvR 290/08 -, juris, Rn. 10). Eine erst mit dem Urteilserlass erfolgende Mitteilung, dass im schriftlichen Verfahren entschieden werde, verletzt daher das Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. November 2008 - 2 BvR 290/08 -, juris, Rn. 9).

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2. Hieran gemessen hat das Amtsgericht das Recht des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in zweifacher Hinsicht verletzt. Zum einen hat das Amtsgericht das Urteil erlassen, ohne die Parteien zuvor darauf hingewiesen zu haben, dass im Verfahren nach § 495a ZPO und ohne mündliche Verhandlung entschieden werden soll. Dass es dieses Verfahren gewählt hat, ergibt sich erst aus dem Urteil selbst. Eine Frist, bis zu deren Ablauf vorgetragen werden konnte, wurde nicht gesetzt. Zum andern hatte der Beschwerdeführer durch seinen in der Klageschrift enthaltenen Hinweis, einer Entscheidung nach Aktenlage nicht zuzustimmen, erkennbar die Durchführung der mündlichen Verhandlung beantragt. Gemäß § 495a Satz 2 ZPO hätte das Amtsgericht daher mündlich verhandeln müssen. Dem steht nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer für die umstrittene Behauptung zunächst keinen Beweis angeboten hatte. Das Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung steht nicht unter Praktikabilitätsvorbehalt. Darauf, ob dem in der Rügeschrift gestellten Beweisantrag nach der Zivilprozessordnung nachzugehen war, kam es daher nicht an.

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3. Das angegriffene Urteil beruht auf dem Gehörsverstoß. Da sich der Rechtsstreit im Kern darum dreht, ob die Parteien telefonisch eine bestimmte Vereinbarung getroffen haben, ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass das Amtsgericht nach Anhörung der Parteien in der mündlichen Verhandlung zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.

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4. Die Verfassungsbeschwerde ist zur Entscheidung anzunehmen, da dies zur Durchsetzung der verfassungsmäßigen Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die festgestellte Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör ist besonders gewichtig, weil sie auf eine generelle Vernachlässigung von Grundrechten hindeutet. Das Amtsgericht setzt sich über den Antrag auf mündliche Verhandlung hinweg, ohne auf diesen auch nur einzugehen, und führt dazu auch in dem auf die Anhörungsrüge hin ergangenen Beschluss nichts aus.

IV.

12

Das Urteil des Amtsgerichts ist aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG). Der die Anhörungsrüge zurückweisende Beschluss des Amtsgerichts wird damit gegenstandslos.

13

Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

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