Urteil vom Bundesverwaltungsgericht (9. Senat) - 9 C 13/11

Tatbestand

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Der Kläger wendet sich gegen eine vorläufige Anordnung der Flurbereinigungsbehörde nach § 36 Abs. 1 Satz 1 FlurbG. Er ist hauptberuflicher Landwirt und - als Rechtsnachfolger seines Vaters und von Frau Margaretha W. in deren der Flurbereinigung unterliegende Grundstücke - Teilnehmer des mit bestandskräftigem Beschluss vom 13. September 2004 angeordneten Regelflurneuordnungsverfahrens Aalen-Beuren.

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Mit Beschluss vom 11. Juni 2008 ordnete die Flurbereinigungsbehörde auf der Grundlage des am 16. August 2007 genehmigten Wege- und Gewässerplans mit landschaftspflegerischem Begleitplan und der Ausbaukarte vom 29. Oktober 2007 für den vorzeitigen Ausbau der gemeinschaftlichen Anlagen die Entziehung des Besitzes und der Nutzung mehrerer den Rechtsvorgängern des Klägers gehörender Grundstücksflächen zum 1. September 2008 an und wies diese Flächen der Teilnehmergemeinschaft zu; außerdem ordnete die Flurbereinigungsbehörde die sofortige Vollziehbarkeit der vorläufigen Anordnung an.

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Die hiergegen gerichteten Widersprüche wies das Landesamt für Flurneuordnung mit Bescheiden vom 6. und 8. Oktober 2008 zurück. Der Vorausbau gemeinschaftlicher Anlagen sei "in der Regel aus dringenden Gründen erforderlich". Es seien im vorliegenden Fall keine Anzeichen erkennbar, die ein Abweichen von dieser Regel notwendig machen würden, da der Vorausbau dem beschleunigten Erreichen des angestrebten Verfahrenszwecks diene. Der Wegfall bewirtschafteter Eigentumsflächen durch den Vorausbau betrage nur 65 a und damit weniger als 2 % der Einlagefläche. Das liege deutlich unter dem voraussichtlichen Landabzug.

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Das Flurbereinigungsgericht hat die hiergegen von den Rechtsvorgängern des Klägers erhobenen und von diesem fortgeführten Klagen mit Urteil vom 9. Dezember 2010 abgewiesen, nachdem es zuvor die Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zurückgewiesen hatte. Die vorläufige Anordnung sei hinreichend bestimmt. Zwar sei weder aus dem textlichen Teil der Anordnung noch aus der Ausbaukarte genau ersichtlich, in welchem Umfang Flächen in Anspruch genommen würden. Der Umfang der Inanspruchnahme und die genauen Flurstücksbezeichnungen seien jedoch in den Widerspruchsbescheiden im Einzelnen aufgeführt. Der Vorausbau sei auch dringlich und erforderlich. Dies sei dann der Fall, wenn die Flurbereinigungsbehörde aufgrund des Verfahrensstandes und nach Abwägung aller erheblichen Umstände zu dem Ergebnis kommen dürfe, dass die vorgezogene Besitzregelung schon zu dem in der Anordnung festzusetzenden Zeitpunkt dem - beschleunigten - Erreichen des angestrebten Verfahrenszwecks diene. Diese Voraussetzungen lägen vor. Durch den Vorausbau könne erreicht werden, dass die Teilnehmer bei der Neuzuteilung auf bereits ausgebauten Wegen zu ihren Grundstücken gelangen könnten und die Abfindungsflurstücke für eine ordnungsgemäße und zweckmäßige Bewirtschaftung vorbereitet seien. Zudem sei der Ausbau in einem Zuge kostengünstiger.

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Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger, Dringlichkeit und Erforderlichkeit der Anordnung seien nicht gegeben. Bei den vom Flurbereinigungsgericht genannten Gründen handele es sich nicht um dringende Gründe, sondern um allgemeine Zweckmäßigkeitsüberlegungen, die die Durchführung des Flurbereinigungsverfahrens an sich rechtfertigten. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts müssten zu den allgemeinen Gründen weitere dringende Gründe hinzukommen. Aus den Verwaltungsvorgängen ergebe sich zudem nicht, dass die Voraussetzungen für eine Plangenehmigung vorgelegen hätten. Die vorläufige Anordnung sei nicht hinreichend bestimmt. Der Maßstab der Ausbaukarte von 1:5 000 lasse eine zweifelsfreie Festlegung, welche Teile der Flurstücke des Klägers von den Maßnahmen betroffen seien, nicht zu.

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Der Kläger beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg - Flurbereinigungsgericht - vom 9. Dezember 2010 zu ändern und die vorläufige Anordnung des Landratsamtes Ostalbkreis vom 11. Juni 2008 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 6. und 8. Oktober 2008 aufzuheben.

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Der Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

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Der Dringlichkeit stehe nicht entgegen, dass das Flurbereinigungsgericht einen Obersatz aufgestellt habe, der für nahezu alle (Regel-)Flurbereinigungsverfahren Gültigkeit habe. Bestandteil der Aussage des Gerichts sei, dass stets eine Prüfung des Einzelfalls zu erfolgen habe. Das Flurbereinigungsgericht habe auch begründet, warum im konkreten Fall ein ausreichender Dringlichkeitsgrund vorliege. Zu einer tiefer gehenden schriftlichen Begründung sei es nicht verpflichtet gewesen, weil der Kläger im Prozess keine substantiellen Gründe, die gegen den Vorausbau sprechen könnten, vorgebracht habe. Unabhängig davon sei das Urteil angesichts der mit dem Vorausbau verbundenen gravierenden Vorteile zutreffend davon ausgegangen, dass er in der Regel dringlich sei.

Entscheidungsgründe

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Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).

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Gemäß § 36 Abs. 1 Satz 1 FlurbG kann die Flurbereinigungsbehörde eine vorläufige Anordnung erlassen, wenn es aus dringenden Gründen erforderlich wird, vor der Ausführung des Plans oder zur Vorbereitung und zur Durchführung von Änderungen des Flurbereinigungsplans den Besitz oder die Nutzung von Grundstücken oder die Ausübung anderer Rechte zu regeln. Das Flurbereinigungsgericht hat in dem angefochtenen Urteil das Vorliegen dieser Voraussetzungen bejaht. Das ist nicht in jeder Hinsicht mit Bundesrecht vereinbar.

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1. Ohne Rechtsfehler ist das Flurbereinigungsgericht allerdings davon ausgegangen, dass die vorläufige Anordnung nicht schon formell-rechtlichen Bedenken unter dem Gesichtspunkt der hinreichenden Bestimmtheit unterliegt. Das Bestimmtheitsgebot des mit § 37 Abs. 1 VwVfG seinem Wortlaut nach übereinstimmenden und daher gemäß § 137 Abs. 1 Nr. 2 VwGO revisiblen § 37 Abs. 1 LVwVfG Baden-Württemberg verlangt, dass der Adressat in die Lage versetzt wird, zu erkennen, was von ihm gefordert wird; zudem muss der Verwaltungsakt geeignete Grundlage für Maßnahmen zu seiner zwangsweisen Durchsetzung sein können. Im Einzelnen richten sich die Anforderungen an die notwendige Bestimmtheit eines Verwaltungsakts nach den Besonderheiten des jeweils anzuwendenden und mit dem Verwaltungsakt umzusetzenden materiellen Rechts (vgl. Urteile vom 15. Februar 1990 - BVerwG 4 C 41.87 - BVerwGE 84, 335 <338>, vom 18. April 1997 - BVerwG 8 C 43.95 - BVerwGE 104, 301 <317 f.> = Buchholz 401.0 § 191 AO Nr. 7 S. 13 f. und vom 27. Juni 2012 - BVerwG 9 C 7.11 - juris Rn. 15).

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Diesen Anforderungen ist durch die die zeichnerischen Darstellungen in der Ausbaukarte ergänzenden textlichen Angaben im Widerspruchsbescheid, welche Flurstücke des Klägers für welche Maßnahmen in welchem Umfang in Anspruch genommen werden, Genüge getan worden. Durch die Auflistung der in Anspruch zu nehmenden Flurstücke im Widerspruchsbescheid vom 6. Oktober 2008 hat der Beklagte die Grundflächen, hinsichtlich derer Besitz und Nutzungen teilweise entzogen werden, flurstücksgenau bezeichnet. Auch der Umfang der Inanspruchnahme der Flurstücke ist hinreichend konkretisiert. Aufgrund der metergenauen Angaben über die jeweilige Länge der Wege und der Angaben über die Breite der sonstigen Maßnahmen im Widerspruchsbescheid sowie der Festlegung der Fahrbahnbreite der Wege in der Ausbaukarte kann die in Anspruch genommene Fläche für jedes Flurstück ohne Weiteres errechnet werden. Die Lage der Wege lässt sich - zumal für einen mit den örtlichen Verhältnissen Vertrauten - der Ausbaukarte und den textlichen Beschreibungen im Widerspruchsbescheid mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen. Dass die Ausbaukarte dem Verwaltungsakt nicht beigefügt war, ist unerheblich. Die Karte war dem Kläger als Vorstandsmitglied der Teilnehmergemeinschaft bekannt und die Übersendung einer Abschrift ist ihm vom Beklagten ausdrücklich angeboten worden. Die von dem Kläger zitierte obergerichtliche Rechtsprechung, die Kartenmaßstäbe von 1:5 000 als bedenklich oder nicht ausreichend ansieht, betrifft andere Fallkonstellationen, die für die Beurteilung des vorliegenden Falls nichts hergeben.

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2. Das Flurbereinigungsgericht ist auch ohne Verstoß gegen Bundesrecht zu der Auffassung gelangt, dass der Wege- und Gewässerplan ohne vorherige Durchführung eines Planfeststellungsverfahrens durch eine Plangenehmigung der oberen Flurbereinigungsbehörde nach § 41 Abs. 4 Satz 1 FlurbG festgestellt werden konnte und die Genehmigungsvoraussetzungen vorlagen. Nach § 42 Abs. 1 Satz 2 FlurbG darf der Vorausbau gemeinschaftlicher Anlagen nur vorgenommen werden, soweit der Wege- und Gewässerplan mit landschaftspflegerischem Begleitplan festgestellt ist. Nach § 41 Abs. 4 Satz 1 FlurbG kann die Planfeststellung durch eine Plangenehmigung ersetzt werden, wenn mit Einwendungen nicht zu rechnen ist oder Einwendungen nicht erhoben oder nachträglich ausgeräumt werden. Die Plangenehmigung kann auch beim Vorausbau an die Stelle der Planfeststellung treten (Urteil vom 6. Februar 1986 - BVerwG 5 C 40.84 - BVerwGE 74, 1 <3 f.>). Ohne Erfolg rügt der Kläger, es sei nicht erkennbar, dass die Voraussetzungen des § 41 Abs. 4 Satz 1 FlurbG für eine Plangenehmigung vorgelegen hätten. Aus der vom Beklagten beim Flurbereinigungsgericht vorgelegten Niederschrift über die Termine zur Aufstellung der allgemeinen Grundsätze für die Neugestaltung des Flurbereinigungsgebietes und zur Erörterung des Entwurfs eines Wege- und Gewässerplans mit landschaftspflegerischem Begleitplan vom 24. April 2007 geht hervor, dass von den Einwendungsberechtigten keine Einwendungen gegen den Plan erhoben wurden. Soweit hinsichtlich eines Widerspruchs eines Eigentümers eines außerhalb des Flurbereinigungsgebietes liegenden Waldgrundstücks einer Änderung des Wegeplans von mehreren Einwendungsberechtigten widersprochen wurde, führt dies zu keinem anderen Ergebnis (zum Kreis der Einwendungsberechtigten vgl. Urteil vom 6. Februar 1986 a.a.O. S. 5 ff.; Schwantag/Wingerter, Flurbereinigungsgesetz, 8. Aufl. 2008, § 41 Rn. 22). Die zur Beilegung des Widerspruchs vorgeschlagene Änderung einer Wegeführung hat keinen Eingang in den Wege- und Gewässerplan gefunden. Im Übrigen sind die am Termin Beteiligten davon ausgegangen, dass eine einvernehmliche Lösung für den Widerspruch gefunden werden kann.

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3. Die Auffassung des Flurbereinigungsgerichts, der Vorausbau sei als dringlich und erforderlich im Sinne des § 36 Abs. 1 Satz 1 FlurbG anzusehen, steht dagegen nicht in jeder Hinsicht mit Bundesrecht in Einklang.

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a) Die vorläufige Anordnung nach § 36 Abs. 1 FlurbG ist eine den Flurbereinigungsplan und dessen Ausführung vorbereitende Maßnahme. Sie dient dazu, den Übergang in den durch die Flurbereinigung angestrebten neuen Zustand vorzubereiten und zu sichern sowie die Aufstellung des Plans und die Durchführung des Verfahrens zu erleichtern und zu beschleunigen; insoweit muss mit der Realisierung von Maßnahmen nicht bis zur Aufstellung des Flurbereinigungsplans und seiner Ausführung gewartet werden (Beschlüsse vom 6. März 1961 - BVerwG 1 B 141.60 - Buchholz 424.01 § 36 FlurbG Nr. 2 S. 4 und vom 25. Januar 2007 - BVerwG 10 B 42.06 - Buchholz 424.01 § 36 FlurbG Nr. 9 Rn. 4). Die vorläufige Anordnung dient nicht dazu, die mit der Flurbereinigung angestrebten Strukturverbesserungen vorzeitig herbeizuführen und damit die Vorteile, die mit der Flurbereinigung verbunden sind, schon vorzeitig für die Teilnehmer wirksam werden zu lassen. Sie ist vielmehr darauf gerichtet, die Umsetzung der geplanten Strukturverbesserungen vorzubereiten und sicherzustellen, dass der neue Zustand nach der Planausführung oder der vorzeitigen Besitzeinweisung möglichst schnell greifen kann und den Teilnehmern keine Bewirtschaftungshindernisse entstehen, sondern sie die Strukturverbesserungen ohne Zeitverzug nutzen können. Zu diesem Zweck ermöglicht sie, Besitz oder Nutzungen von Grundstücken oder die Ausübung anderer Rechte zeitweilig zu entziehen oder in anderer Weise zu regeln.

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Ebenso wie die vorläufige Anordnung ist der Wege- und Gewässerplan nach § 41 FlurbG auf die Zukunft ausgerichtet. Er bildet im Rahmen des abschnittsweise durchgeführten Flurbereinigungsverfahrens das "Gerippe" für die erst noch vorzunehmende Neuordnung im Verfahrensgebiet (Urteil vom 6. Februar 1986 a.a.O. S. 10). Er hat für die angestrebte Neuordnung vorbereitende Funktion und wird zu einem Zeitpunkt festgestellt, in dem die konkrete Zuordnung der Grundstücksflächen, auf die er sich auswirkt, noch nicht feststeht. Zur beschleunigten Umsetzung dieses für das gesamte weitere Verfahren grundlegenden Plans hat der Gesetzgeber den Vorausbau der gemeinschaftlichen Anlagen in § 42 Abs. 1 Satz 2 FlurbG zugelassen. Mit dem vorgezogenen Ausbau insbesondere des Wegenetzes wird sichergestellt, dass den Teilnehmern schon vor der Ausführung des Flurbereinigungsplans und damit zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt, als wenn der Ausbau erst nach Erlass der Ausführungsanordnung (§ 61 FlurbG) erfolgen würde, das neue Wegenetz zur Verfügung steht und damit die Bewirtschaftungsnachteile vermieden werden, die entstünden, wenn die neuen Wege im neuen Bestand gebaut werden müssten. Auch für eine vorläufige Besitzeinweisung in die neuen Grundstücke (§ 65 FlurbG) ist der Vorausbau des Wegenetzes vielfach eine unverzichtbare Voraussetzung.

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Die Gleichgerichtetheit des mit dem Vorausbau nach § 42 Abs. 1 Satz 2 FlurbG und der vorläufigen Anordnung nach § 36 Abs. 1 FlurbG verfolgten Gesetzeszwecks bedeutet nicht, dass der Vorausbau einer gemeinschaftlichen Anlage in jedem Fall, gewissermaßen automatisch, zum Erlass einer Anordnung nach § 36 Abs. 1 FlurbG berechtigen würde. In   d i e s e m   Sinne sind, wie im Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. Februar 1958 - BVerwG 1 B 74.57 - (Buchholz 424.01 § 36 FlurbG Nr. 1) formuliert wurde, vielmehr "weitere dringende" Gründe für die Anordnung nach § 36 Abs. 1 Satz 1 FlurbG erforderlich. Es bedarf daher zur Beurteilung der Frage, ob der beabsichtigte Vorausbau eines Weges den Erlass einer vorläufigen Anordnung rechtfertigt, einer Feststellung der dringenden Gründe im Einzelfall. Dies schließt es nicht aus, dass diese Einzelfallprüfung angesichts des mit dem Vorausbau und der vorläufigen Anordnung gleichermaßen angestrebten Vorbereitungs- und Sicherungszwecks hinsichtlich des künftigen Zustandes in vielen Fällen zu dem Ergebnis kommen wird, dass die für den Vorausbau sprechenden Gründe auch unter Berücksichtigung der Interessen der sich gegen den Vorausbau wehrenden Teilnehmer den Erlass einer die Besitz-, Nutzungs- oder sonstigen Rechtsverhältnisse regelnden vorläufigen Anordnung rechtfertigen. Wenn im Ergebnis dieser Prüfung mit dem Vorausbau nicht bis zum Flurbereinigungsplan und seiner Ausführung (§§ 61 ff. FlurbG) gewartet werden kann, ist eine Anordnung nach § 36 Abs. 1 Satz 1 FlurbG gerechtfertigt, ohne dass noch über diese Gründe hinausgehende "weitere" dringende Gründe hinzutreten müssten. Unerheblich ist ferner, dass - wie der Beklagte einräumt - nach diesem Maßstab dringende Gründe für den Vorausbau in Regelflurbereinigungsverfahren regelmäßig vorliegen werden. § 36 Abs. 1 Satz 1 FlurbG beschränkt seinem Wortlaut und seinem Sinn und Zweck nach vorläufige Anordnungen nicht auf atypische Fälle. Soweit aus dem Beschluss vom 6. Februar 1958 (a.a.O.) zur Frage der im Rahmen des § 36 Abs. 1 Satz 1 FlurbG erforderlichen "weiteren" dringenden Gründe etwas anderes folgt, wird hieran nicht festgehalten.

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Dieses Ergebnis wird durch die Gesetzessystematik bestätigt. § 42 FlurbG steht im Ersten Abschnitt des Dritten Teils des Flurbereinigungsgesetzes, ("Gemeinschaftliche und öffentliche Anlagen"). § 36 FlurbG steht dagegen im Fünften Abschnitt des Zweiten Teils des Gesetzes unter der Überschrift "Zeitweilige Einschränkungen des Eigentums". Der sachliche Inhalt einer auf § 36 Abs. 1 FlurbG gestützten vorläufigen Anordnung ist nicht auf den Vorausbau beschränkt oder auch nur speziell auf ihn ausgerichtet. Gegenstand einer vorläufigen Anordnung können vielmehr alle nach § 37 Abs. 1 FlurbG zulässigen und zweckerforderlichen Maßnahmen sein (vgl. Urteil vom 21. Januar 1988 - BVerwG 5 C 5.84 - BVerwGE 79, 9 <10 f.>). Für die vom Gesetzgeber - anders als der Vorausbau - nicht generell zur vorzeitigen Durchführung vorgesehenen Maßnahmen behalten die besonderen Dringlichkeitsvoraussetzungen des § 36 Abs. 1 FlurbG ihren Sinn, auch wenn für den Vorausbau keine über die allgemein für einen Vorausbau sprechenden Gründe hinausgehenden weiteren Dringlichkeitsgründe verlangt werden.

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Dass § 36 Abs. 1 FlurbG im Falle des Vorausbaus des Wegenetzes nicht zwingend "weitere" Dringlichkeitsgründe verlangt, bedeutet - wie bereits ausgeführt - keine Automatik in dem Sinne, dass auf eine Prüfung des Einzelfalls verzichtet werden könnte. Eine die Beweislast umkehrende tatsächliche Vermutung, dass in jedem (Regel-)Flurbereinigungsverfahren ein Vorausbau dringend erforderlich ist, existiert weder nach den Feststellungen des Flurbereinigungsgerichts noch nach den Ausführungen des Beklagten in der Revisionserwiderung. Die vorzunehmende Einzelfallprüfung hat die jeweils betroffenen Interessen des in seiner Nutzung beschränkten Teilnehmers und der übrigen Teilnehmer zu ermitteln und zu bewerten, und zwar auch und gerade im Hinblick darauf, ob die vorläufige Anordnung bereits im Zeitpunkt ihrer Anordnung "dringlich erforderlich" ist. Zu einer solchen Prüfung in Bezug auf den Zeitpunkt und die Zeitdauer der vorläufigen Anordnung besteht deswegen besonderer Anlass, weil sich die mit einer vorläufigen Anordnung verbundenen Besitz- und Nutzungseinschränkungen vor dem Hintergrund der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG und der bis zu dem im Ausführungsbeschluss benannten Zeitpunkt nicht veränderten Eigentumslage in angemessenen zeitlichen Grenzen halten müssen (vgl. bereits Beschluss vom 6. März 1961 - BVerwG 1 B 141.60 - Buchholz § 36 FlurbG Nr. 2 S. 3). Damit nicht vereinbar ist es, wenn die Besitzentziehung bereits zu einem Zeitpunkt angeordnet wird, zu dem die Ausführung des Wegebaus noch nicht konkret absehbar ist, etwa weil die Bauaufträge noch nicht vergeben sind oder die Finanzierung nicht gesichert ist oder der Ausbau abschnittsweise vorgesehen ist, die Grundstücke des betroffenen Teilnehmers aber erst in einem später auszubauenden Abschnitt liegen. Mit Blick auf den Zweck der vorläufigen Anordnung, den Übergang in den durch die Flurbereinigung angestrebten neuen Zustand vorzubereiten, zu erleichtern und zu beschleunigen, ist unter Abwägung der oben genannten Interessen auch zu bewerten, wann die Anordnung - im Laufe des Gesamt-Verfahrens - erforderlich wird. Dabei wiegen die durch die Einschränkungen des Besitzes und der Nutzungen hervorgerufenen zeitweiligen Bewirtschaftungsnachteile umso schwerer, je länger die absehbare Dauer der Beschränkung bis zum Eintritt des neuen Rechtszustandes ist.

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b) Diesen an die Prüfung der Dringlichkeit und Erforderlichkeit in § 36 Abs. 1 Satz 1 FlurbG zu stellenden Anforderungen wird das angegriffene Urteil nicht in jeder Hinsicht gerecht.

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Die Auffassung des Flurbereinigungsgerichts, ein Vorausbau sei als dringlich und erforderlich anzusehen, wenn die Flurbereinigungsbehörde aufgrund des Verfahrensstandes und nach Abwägung aller erheblichen Umstände zu dem Ergebnis komme, dass die vorgezogene Besitzregelung schon zu dem in der Anordnung festzusetzenden Zeitpunkt dem - beschleunigten - Erreichen des angestrebten Verfahrenszwecks diene, ist allerdings nicht schon deswegen zu beanstanden, weil sich der Hinweis auf die mit der Anordnung verfolgte Beschleunigung des Verfahrenszwecks dahin verstehen lässt, als dringender Grund genüge bereits die Verbesserung der Bewirtschaftungsmöglichkeiten im alten Bestand. Ein solches Verständnis der Dringlichkeit und Erforderlichkeit wäre mit dem Ziel des § 36 FlurbG, die mit der Schaffung des neuen Bestandes angestrebten Strukturverbesserungen im Interesse der Teilnehmer vorzubereiten und damit die mit jeder Neuordnung verbundenen zeitweisen Einschränkungen des Besitzes und der Nutzung des Bodens zu mindern, nicht vereinbar. Die Ausführungen des Flurbereinigungsgerichts in seiner anschließenden Prüfung zeigen allerdings, dass das Gericht der Sache nach davon ausgeht, dass die Anordnung des Vorausbaus des Wegenetzes die Vorbereitung und Sicherung des neuen Zustandes im Interesse der Teilnehmergemeinschaft zum Ziel haben muss. Das Flurbereinigungsgericht stellt nicht darauf ab, dass die neu anzulegenden Wege dazu dienen, die vorhandenen Grundstücke besser erreichbar zu machen und damit schon im alten Bestand Produktionsverbesserungen zu erzielen, sondern darauf, dass die Teilnehmer bei der Neuzuteilung auf bereits gebauten Wegen zu ihren Grundstücken gelangen können und die Abfindungsflurstücke für eine ordnungsgemäße und zweckmäßige Bewirtschaftung vorbereitet sind.

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Zutreffend hat das Flurbereinigungsgericht ferner die flächenmäßige Belastung, die die vorläufige Anordnung für den Kläger voraussichtlich mit sich bringt, ermittelt und gewürdigt. Es hat insbesondere den für den Vorausbau vorgesehenen Gesamtflächenentzug berücksichtigt und zusätzlich mit dem Vertreter des Klägers in der mündlichen Verhandlung die zu erwartenden Bewirtschaftungserschwernisse auf den einzelnen Grundstücken erörtert.

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Als mit den Vorgaben des § 36 Abs. 1 FlurbG nicht vereinbar erweist sich allerdings, dass das Gericht keine tatsächlichen Feststellungen zu der Frage getroffen hat, ob die Durchführung des Vorausbaus bereits im Zeitpunkt seiner Anordnung nach dem damaligen Verfahrensstand des Flurbereinigungsverfahrens notwendig war, um sicherzustellen, dass die mit der Neuordnung beabsichtigten Strukturverbesserungen nach Abschluss des Verfahrens greifen können. Die Formulierung im angegriffenen Urteil, die Frage der Dringlichkeit und Erforderlichkeit sei aufgrund des Verfahrensstandes zu beurteilen, ersetzt tatsächliche Feststellungen in diesem Punkt nicht, sondern erschöpft sich in der Wiedergabe eines abstrakten Obersatzes. Dem angegriffenen Urteil lassen sich auch keine Angaben oder Hinweise entnehmen, die eine Beurteilung der zeitlichen Abläufe des konkreten Verfahrens zuließen. Auch in dem vom Kläger angestrengten Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes finden sich insoweit keine Ausführungen in der gerichtlichen Entscheidung. Soweit das Flurbereinigungsgericht keine Anhaltspunkte dafür gefunden hat, dass der für den Vorausbau benötigte Flächenentzug den Kläger unzumutbar belastet, betrifft dies nur die Belastung des Klägers im Verhältnis zur Belastung aller Teilnehmer, aber nicht die Frage, ob der Vorausbau unter Berücksichtigung der vom Kläger geltend gemachten Beeinträchtigungen in dem hier maßgebenden Zeitpunkt erforderlich war.

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Die Sache ist daher zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Flurbereinigungsgericht zurückzuverweisen. Einer solchen Zurückverweisung steht nicht entgegen, dass bei der Beantwortung der Frage, ob der Vorausbau dringlich und erforderlich ist, eine umfassende Einzelfallprüfung unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Interessen der vom Vorausbau Betroffenen und der Teilnehmergemeinschaft zu treffen ist. Die Frage, ob die Tatbestandsvoraussetzungen des § 36 Abs. 1 FlurbG vorliegen, unterliegt voller gerichtlicher Kontrolle. Weder seiner Normstruktur nach noch hinsichtlich der Komplexität des normierten Entscheidungsprogramms weist § 36 Abs. 1 FlurbG Besonderheiten auf, die es rechtfertigten könnten, die Pflicht zur gerichtlichen Überprüfung einzuschränken (vgl. zu einem solchen Fall Urteil vom 28. November 2007 - BVerwG 6 C 42.06 - BVerwGE 130, 39 Rn. 29).

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