Entscheidung vom Finanzgericht Baden-Württemberg - 2 K 835/19

Tenor

1. Der Einkommensteuerbescheid für 2011, zuletzt geändert durch die Einspruchsentscheidung vom 12. August 2015, wird dahingehend abgeändert, dass Einkommensteuer 2011 in Höhe von 0,- EUR festgesetzt wird.

2. Der Beklagte trägt die Kosten des gesamten Verfahrens.

3. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.

4. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Ermöglicht der noch zu erlassende Kostenfestsetzungsbeschluss eine Vollstreckung im Wert von mehr als 1.500 EUR hat der Kläger in Höhe des vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruchs Sicherheit zu leisten. Liegt der vollstreckbare Kostenerstattungsanspruch im Wert bei 1.500 EUR oder darunter, ist das Urteil hinsichtlich der Kosten ohne Sicherheitsleistung vollstreckbar. In diesem Fall kann der Beklagte der vorläufigen Vollstreckung widersprechen, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung in Höhe des vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruchs Sicherheit leistet.

5. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

 
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Wegzugsbesteuerung nach § 6 Außensteuergesetz (AStG) in Verbindung mit § 17 Einkommensteuergesetz in der im Streitzeitraum gültigen Fassung (EStG). Grund hierfür ist ein Wohnsitzwechsel des Klägers in die Schweiz.
Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und seit dem xx.xx. 2008 Geschäftsführer der [ __ ] GmbH (im Weiteren GmbH) mit Sitz in X, Schweiz. Zugleich ist er, seit Anbeginn der Gesellschaft, mit einer Stammkapitaleinlage in Höhe von XXX CHF zu 50 % an ihr beteiligt. Die GmbH besteht seit Juli 2007. Im Streitjahr war der Kläger zwar verheiratet, beantragte aber eine von seiner Ehefrau getrennte Veranlagung zur Einkommensteuer. Seit dem 1. März 2011 ist er in der Schweiz wohnhaft (s. Schweizer Aufenthaltsbewilligung, Mietvertrag vom [ _ ] sowie dem Beklagten vorgelegte Nachweise über die Beförderung des Umzugsguts in die Schweiz; Einkommensteuerakten Blatt 27 ff.).
In seiner am 5. März 2013 beim Beklagten eingegangenen Einkommensteuererklärung für 2011 teilte der Kläger dem Beklagten unter anderem mit, dass er zwar am 1. März 2011 in die Schweiz, nach Y, verzogen sei. Seine Ehefrau wohne aber weiterhin in M / Deutschland. Seit dem xx.xx. 2008 sei er als Grenzgänger in der Schweiz beschäftigt. Im Streitjahr sei er „an mehr als 60 Arbeitstagen“ wegen beruflich begründeter Übernachtungen nicht an seinen Wohnsitz zurückgekehrt (laut der Bescheinigung seines Arbeitgebers vom 10. August 2011 ist der Kläger vom 1. Januar bis 28. Februar 2011 an mehr als 10 Arbeitstagen wegen seiner Arbeitsausübung nicht an seinen Wohnsitz zurückgekehrt; s. Einzelaufstellung). Gemäß Art. 15a Abs. 2 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 11. August 1971 (DBA Schweiz; Bundesgesetzblatt - BGBl - II 1972, 1022) in der Fassung des Protokolls vom 27. Oktober 2010 (BGBl II 2011, 1092) unterliege er insofern dem vollständigen Steuerzugriff der Schweiz. Die schweizerischen Einkünfte, in seinem Fall Bruttolohn, seien lediglich im Rahmen des Progressionsvorbehalts in Deutschland zu berücksichtigen. Sie lägen, laut dem Lohnausweis, bei XXX CHF (= XXX EUR).
Im November 2013 teilte der Beklagte dem steuerlichen Vertreter des Klägers mit, nach § 6 AStG müsse wegen Wegzugs in die Schweiz ein Veräußerungsgewinn versteuert werden. Er bat den Kläger darum, die Bilanzen der GmbH für 2010 und 2011 einzureichen. Dem kam der Kläger nach und übersandte zudem die Bilanz für 2012. Er teilte mit, dass für 2013 mit einem Verlust in Höhe von XXX CHF gerechnet werde. Für 2010 weist die Bilanz der GmbH einen Gewinn in Höhe von XXX CHF aus, für 2011 einen Gewinn in Höhe von XXX CHF und für 2012 einen Verlust in Höhe von XXX CHF.
Der Beklagte informierte den Kläger mit Schreiben vom 17. April 2014 darüber, dass er einen Gewinn nach § 6 AStG in Höhe von XXX EUR ansetzen werde. Die Berechnungsgrundlagen teilte er dem Kläger mit (Allgemeine Akten Blatt 42 ff.).
Damit zeigte sich der Kläger nicht einverstanden. Sein Bevollmächtigter wies den Beklagten darauf hin, dass die angedachte Besteuerung nicht mit dem Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit vom 21. Juni 1999 (Freizügigkeitsabkommen - FZA; BGBl II 2001, 811), in Kraft getreten am 1. Juni 2002 (BGBl II 2002, 1692), in Einklang stehe. Dadurch werde die Niederlassungsfreiheit generell in gleichem Umfang gewährt wie durch den EU-Vertrag, weshalb Beschränkungen in gleichem Maße verboten seien. Die Besteuerung nicht realisierter stiller Reserven sei geeignet, eine Person vom Wegzug in die Schweiz abzuhalten. Schließlich erfolge in diesem Fall kein Mittelzufluss. Anders als bei einer Veräußerung sei daher keine Liquidität vorhanden, um die Steuerschulden zu begleichen. Darin sei zusätzlich ein Verstoß gegen das Prinzip der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu sehen. Durch die Schrankenbestimmung des Art. 21 Abs. 3 FZA sei das nicht gerechtfertigt. § 6 AStG gehe über das hinaus, was zur Vermeidung von Steuerflucht nötig sei. Deutschland habe es versäumt, für den Bereich des FZA eine der Stundungsregelung des § 6 Abs. 5 AStG entsprechende Regelung vorzusehen. Daher finde die Wegzugsbesteuerung in seinem Fall keine Anwendung. Schließlich beschränke sie die Niederlassungsfreiheit in unzulässiger Weise.
Im Hinblick auf die ermittelte Höhe des Veräußerungsgewinns führte der Kläger aus, im Anwendungsbereich des vom Beklagten angewandten vereinfachten Ertragswertverfahrens sei es unzulässig, die effektive Ertragsteuerbelastung zu berücksichtigen. Ein Wahlrecht, statt der Minderung um 30 % den effektiven Ertragsteueraufwand anzusetzen, gebe es nicht. Stattdessen sei der effektive Ertragsteueraufwand hinzuzurechnen. Im Übrigen könne das vereinfachte Ertragswertverfahren nicht angewendet werden, wenn dies, wie hier, zu offensichtlich unzutreffenden Ergebnissen führt. Im Streitfall sei der Substanzwert als Mindestwert anzusetzen.
In der Folge ermittelte der Fachprüfer für Unternehmensbewertung den Wert der Anteile des Klägers in Anwendung des Substanzwertverfahrens mit XXX CHF (= XXX EUR)
Die Sachbearbeiterin des Beklagten für internationales Steuerrecht teilte im September 2014 dem für den Kläger zuständigen Veranlagungsbezirk mit, dass die Einkünfte des Klägers aus der Schweiz vor Wegzug von der deutschen Besteuerung auszunehmen seien. Das ergebe sich aus Art. 15 in Verbindung mit Art. 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. d DBA Schweiz. Diese Einkünfte unterlägen allerdings dem Progressionsvorbehalt nach § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG. Für das Jahr des Wegzugs sei eine Veranlagung zur unbeschränkten Steuerpflicht durchzuführen. Die ab dem Zeitpunkt des Wegzugs erzielten ausländischen Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit in Höhe von XXX EUR abzüglich Werbungskosten seien zwar von der Besteuerung freigestellt, unterlägen aber dem Progressionsvorbehalt nach § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG.
10 
Mit Bescheid vom 18. November 2014 setzte der Beklagte gegenüber dem Kläger Einkommensteuer 2011 in Höhe von XXX EUR fest.
11 
Als Besteuerungsgrundlagen berücksichtigte er
Einkünfte aus Gewerbebetrieb aus Veräußerungsgewinnen in Höhe von
XXX EUR
Sonderausgaben-Pauschbetrag in Höhe von
XXX EUR
für die beiden Kinder Freibeträge in Höhe von jeweils
XXX EUR.
12 
In den Erläuterungen zur Einkommensteuerfestsetzung führte er aus, die Besteuerung des Vermögenszuwachses nach § 6 AStG erfolge nur mit dem Substanzwert. Die Berechnung sei dem Kläger mitgeteilt worden. Der Bruttolohn vom 1. Januar bis 28. Februar 2011 sei mit XXX EUR zu versteuern (Bruttolohn: XXX CHF, Pkw-Versteuerung: XXX CHF, Spesen: XXX CHF). Dem Progressionsvorbehalt unterlägen Einkünfte in Höhe von XXX EUR.
13 
Dagegen legte der Kläger, vertreten durch seinen Bevollmächtigten, Einspruch ein. Zugleich beantragte er die Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts sowie, hilfsweise, die Stundung in regelmäßigen Teilbeträgen nach § 6 Abs. 4 AStG. Zur Begründung führte er, seine Ausführungen im Veranlagungsverfahren ergänzend, aus, die Wertermittlung des angesetzten Veräußerungsgewinns basiere auf offensichtlichen Fehlern. Anschaffungskosten seien zwar in Höhe von XXX EUR angesetzt worden. Allerdings habe der Beklagte das Teileinkünfteverfahren (§ 3 Nr. 40 Satz 1 Buchst. c EStG) nicht angewendet. Danach seien 40 % des Veräußerungsgewinns steuerfrei. Die Stundung sei zu gewähren, weil die Belastung mit der Einkommensteuer für ihn, den Kläger, eine nicht unerhebliche Härte sei. Er habe keine Mittel aus einem Anteilsverkauf, da er die Anteile an der GmbH noch halte. Er habe auch sonst keine Liquidität in nennenswertem Umfang. Ohne einen Verkauf seiner selbstgenutzten Immobilie oder der Firmenanteile bzw. die Liquidierung der GmbH könne er die Steuerlast nicht tragen. Wegen des laufenden Scheidungsverfahrens komme eine Immobilienveräußerung nicht in Betracht. Da die GmbH in den letzten beiden Geschäftsjahren Verluste gemacht habe und voraussichtlich auch in 2014 mit einem Verlust abschließen werde sowie wegen eines starken „personalistischen Einschlags“, sei eine Veräußerung der Anteile an einen Dritten nicht realistisch. Die Liquidierung der GmbH entzöge ihm, dem Kläger, und seinem Geschäftspartner die Existenzgrundlage.
14 
Mit Datum vom 23. Dezember 2014 erging ein Änderungsbescheid nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Abgabenordnung (AO). Die Einkommensteuer 2011 wurde in Höhe von XXX EUR festgesetzt. Die Einkünfte des Klägers aus Gewerbebetrieb aus Veräußerungsgewinnen reduzierte der Beklagte auf XXX EUR (= 60 % von XXX). In den Erläuterungen hierzu führte er aus, es sei eine getrennte Veranlagung durchgeführt worden. Die in diesem Bescheid ausgewiesenen Werte seien unter Anwendung des sogenannten Teileinkünfteverfahrens ermittelt worden.
15 
Im Laufe des Verfahrens hielt der Kläger an dem Antrag auf Stundung nicht mehr fest. Den ausgewiesenen Betrag werde er „vorläufig“ bezahlen (s. Schreiben des Bevollmächtigten vom 15. Januar 2015).
16 
Mit Datum vom 30. Januar 2015 erging erneut ein Änderungsbescheid. Die Einkommen-steuer 2011 reduzierte der Beklagte auf XXX EUR. Die Einkünfte des Klägers aus Gewerbebetrieb aus Veräußerungsgewinnen setzte er jetzt, unter Berücksichtigung eines anderen Umrechnungskurses, in Höhe von XXX EUR an. Dem Progressionsvorbehalt unterwarf er Einkünfte in Höhe von XXX EUR.
17 
Mit Schreiben vom 10. Februar 2015 teilte der Beklagte dem Kläger mit, ihm sei bei der Ermittlung des Progressionsvorbehalts ein (Rechen)Fehler unterlaufen. Nach den nun vorliegenden Lohnausweisen ermittle sich dieser wie folgt:
Bruttolohn:
   XXX CHF
Pauschalspesen:
   XXX CHF
private Pkw-Nutzung:
   XXX CHF
Beitrag des Arbeitgebers in die [ ___ ]-Versicherung:
         XXX CHF
        
Summe 
  XXX CHF
        
   =        XXX EUR
                 
anzusetzen für Januar und Februar 2011:
 XXX EUR
        
     ./.   1.000,- EUR
     (Werbungskostenpauschbetrag)
        
 XXX EUR
und für den Rest des Jahres 2011:
 XXX EUR
ergeben insgesamt:
XXX EUR
18 
Zusätzlich zu berücksichtigen sei eine zwar nicht auf dem Lohnzettel des Klägers aufgeführte, in der Bilanz der GmbH aber ausgewiesene Spesenpauschale für den Kläger in Höhe von XXX CHF (= XXX EUR). Dies erhöhe den Progressionsvorbehalt auf XXX EUR.
19 
Mit diesem Ansatz erklärte sich der Kläger einverstanden (s. Schreiben des Bevollmächtigten vom 2. März 2015).
20 
Mit Einspruchsentscheidung vom 12. August 2015 reduzierte der Beklagte die Einkommensteuer 2011 auf XXX EUR. Im Übrigen wies er den Einspruch des Klägers als unbegründet zurück. Dem Progressionsvorbehalt unterwarf er, wie angekündigt, Einkünfte in Höhe von XXX EUR.
21 
Der Beklagte führte aus, ein Verstoß gegen das FZA sei nicht gegeben. Da der Kläger die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Satz 1 AStG erfülle, sei für das Streitjahr die Wegzugsbesteuerung vorzunehmen. Der Wert der Anteile sei in Höhe des Substanzwerts berücksichtigt worden. Dagegen seien keine Einwendungen vorgebracht worden. Beschränkungen aufgrund des DBA Schweiz lägen keine vor, da die Vermögenszuwachsbesteuerung der letzte Akt der unbeschränkten Steuerpflicht sei. Zudem werde hierbei nur der Wertzuwachs der Beteiligung bis zum Wegzugszeitpunkt besteuert. Das habe der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) als zulässig eingestuft (Urteil vom 7. September 2006 C-470/04, EU:C:2006:525, „N“, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs - BFH/NV - 2007, Beilage 1, 28). Eine Gefahr der Doppelbesteuerung sei nicht gegeben. Die Schweiz sehe eine Besteuerung eines Verkaufs von im Privatvermögen gehaltenen Beteiligungen nicht vor. Auf die in Art. 49 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU mit Wirkung vom 1. Dezember 2009 (AEUV; Amtsblatt der EU - ABl. - Nr. C 115 vom 9. Mai 2008, Seite 47), zuletzt berichtigt am 28. Oktober 2016 (ABl. Nr. C 400, Seite 1), normierte Niederlassungsfreiheit könne sich der Kläger wegen seines Wegzugs in die Schweiz nicht berufen. Diese Norm komme nur innerhalb der Staaten der Europäischen Union (EU) zur Anwendung. Auch Art. 63 AEUV, der die Kapitalverkehrsfreiheit festschreibe, komme nicht in Betracht. Sofern man bei einer Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft überhaupt von Kapital sprechen könne, werde im Streitfall kein solches über die Grenze verbracht. Schließlich befinde sich die GmbH bereits in der Schweiz und damit im Zuzugsstaat. Ein grenzüberschreitendes Halten von Kapitalanlagen liege nicht vor. Die reine Wohnsitzverlegung in einen Drittstaat sei keine Kapitalbewegung im Sinne der Kapitalverkehrsfreiheit. Nicht der Vermögenstransfer werde besteuert, sondern das Ausscheiden aus der unbeschränkten Steuerpflicht.
22 
Regelungen des FZA seien nicht verletzt. Unterstellt, die Freizügigkeit werde durch die Anwendung des § 6 AStG beeinträchtigt, indem allein durch den Wohnsitzwechsel eine Besteuerung des Vermögenszuwachses der Kapitalbeteiligung erfolge, müsse beachtet werden, dass eine Besteuerung des Vermögenszuwachses sowohl bei einem Wegzug in einen EU-Mitgliedstaat als auch in einen Drittstaat vorgenommen werde. Eine Differenzierung beim Wegzugsstaat werde durch das Gesetz unter anderem erst im Rahmen der Stundungsregelung in § 6 Abs. 4 bzw. Abs. 5 AStG und bei der Berücksichtigung künftiger Änderungen des fiktiven Veräußerungsgewinns durch Ansatz des tatsächlichen Verkaufspreises vorgenommen. Da ein tatsächlicher Verkauf der GmbH-Anteile bislang nicht erfolgt sei, komme es derzeit nur wegen unterschiedlicher Stundungsregelungen zu unterschiedlichen Auswirkungen. Die Stundungsregelungen hätten jedoch auf die Festsetzung der Einkommensteuer, um die es hier gehe, keinen Einfluss.
23 
Denn sowohl im Falle eines Wegzugs in einen EU-Mitgliedstaat als auch bei einem Wegzug in einen Drittstaat seien entsprechende identische Festsetzungen vorzunehmen. Im Streitfall gehe es aber nicht um die Gewährung einer Stundung, sondern um die Rechtmäßigkeit der Einkommensteuerfestsetzung. Zu berücksichtigen sei daneben, dass § 6 Abs. 5 AStG eine zinslose Stundung bspw. bis zum tatsächlichen Verkauf von GmbH-Anteilen nur vorsehe, wenn der neue Wohnsitzstaat Amtshilfe und gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung der geschuldeten Steuer leistet. Ab 1. Januar 2011 leiste die Schweiz zwar Amtshilfe. Jedoch mangele es weiterhin an einem Abkommen zur Unterstützung bei der Beitreibung. Daher sei eine benachteiligende Behandlung von in die Schweiz ziehenden Steuerpflichtigen unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit steuerlicher Kontrolle gerechtfertigt. Die Besteuerung wirtschaftlicher Tätigkeiten innerhalb der Gemeinschaft sei mit der Besteuerung zwischen Mitgliedstaat und Drittstaat nicht immer vergleichbar. Der EuGH habe diese Unterscheidung gestützt (EuGH-Urteil vom 12. Dezember 2006 C-446/04,EU:C:2006:774, „Test Claimants in the FII Group Litigation“, BFH/NV 2007, Beilage 4, 173).
24 
Am 27. August 2015 erhob der Kläger, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, Klage. Er betont, dass, seiner Ansicht nach, die Anwendung des § 6 Abs. 1 AStG gegen das FZA verstoße und erst durch die Einführung der zinslosen Stundung in § 6 AStG dessen Europarechtswidrigkeit beseitigt worden sei.
25 
Zunächst beantragte er unter anderem die Änderung des Einkommensteuerbescheids für 2011, zuletzt geändert durch die Einspruchsentscheidung vom 12. August 2015, dahingehend, dass Einkünfte aus Gewerbebetrieb aus Veräußerungsgewinnen in Höhe von 0,- EUR angesetzt werden, hilfsweise, die „Rechtsfrage, ob § 6 Abs. 1 EStG mit dem FZA konform ist“ dem EuGH im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens gemäß Art. 267 AEUV vorzulegen.
26 
In dem am 18. Januar 2017 erfolgten Erörterungstermin verzichteten die Beteiligten auf eine mündliche Verhandlung vor dem Senat (s. Sitzungsniederschrift).
27 
Mit Beschluss vom 14. Juni 2017 setzte der Senat das Verfahren aus und legte dem EuGH gemäß Art.19 Abs. 3 Buchst. b des Vertrags über die EU und Art. 267 Abs. 1 Buchst. a, Abs. 2 AEUV dem EuGH folgende Frage zur Vorabentscheidung vor:
28 
„Sind die Vorschriften des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit vom 21. Juni 1999, in Kraft getreten am 1. Juni 2002, insbesondere dessen Präambel sowie Art. 1, 2, 4, 6, 7, 16 und 21 und Anhang I Art. 9 dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der, damit kein Besteuerungssubstrat entgeht, latente, noch nicht realisierte Wertsteigerungen von Gesellschaftsrechten (ohne Aufschub) besteuert werden, wenn ein in diesem Staat zunächst unbeschränkt steuerpflichtiger Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats seinen Wohnsitz von diesem Staat in die Schweiz und nicht in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einen Staat verlegt, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet?“.
29 
Der EuGH (Große Kammer) hat auf die mündliche Verhandlung vom 2. Juli 2018 und nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet in der Sitzung vom 27. September 2018 mit Urteil vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung (HFR) 2019, 439, für Recht erkannt:
30 
„Die Bestimmungen des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit, unterzeichnet in Luxemburg am 21. Juni 1999, sind dahin auszulegen, dass sie einem Steuersystem eines Mitgliedstaats entgegenstehen, das in einer Situation, in der ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, also eine natürliche Person, der im Hoheitsgebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft eine Erwerbstätigkeit ausübt, seinen Wohnsitz von dem Mitgliedstaat, dessen Steuersystem in Frage steht, in die Schweiz verlegt, vorsieht, dass die für die latenten Wertzuwächse von Gesellschaftsanteilen dieses Staatsangehörigen geschuldete Steuer im Zeitpunkt dieser Wohnsitzverlegung erhoben wird, während im Fall der Beibehaltung des Wohnsitzes im selben Mitgliedstaat die Erhebung erst im Zeitpunkt der Realisierung der Wertzuwächse, d. h. bei der Veräußerung der betreffenden Gesellschaftsanteile, erfolgt.“
31 
Das zuvor beim Finanzgericht (FG) Baden-Württemberg unter dem Aktenzeichen 2 K 2413/15 geführte Klageverfahren wurde unter dem Aktenzeichen 2 K 835/19 fortgesetzt.
32 
Trotz der Entscheidung des EuGH vom 26. Februar 2019 C-581/17 besteht zwischen den Beteiligten weiterhin Streit.
33 
Der Beklagte bleibt bei seiner bisher geäußerten Rechtsauffassung. Seiner Meinung nach habe der EuGH in seinem Urteil entschieden, dass nicht die Festsetzung einer Wegzugsbesteuerung gegen das FZA verstoße, sondern nur die sofortige Erhebung der Steuer. Das klägerische Vorbringen, das sich gegen die Einkommensteuerfestsetzung richte und nicht gegen die Erhebung der Einkommensteuer könne keinen Erfolg haben.
34 
In seiner Entscheidung vom 26. Februar 2019 C-581/17 habe der EuGH in Rn. 64 ausgeführt, dass im vorliegenden Fall festzustellen sei, dass zwar die Bestimmung der Höhe der fraglichen Steuer im Zeitpunkt der Verlegung des Wohnsitzes in die Schweiz eine geeignete Maßnahme sei, um die Erreichung des Ziels in Bezug auf die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen der Schweiz und Deutschland sicherzustellen. Dieses Ziel sei, so der EuGH, jedoch keine Rechtfertigung dafür, dass eine Stundung dieser Steuer unmöglich sei. Damit differenziere der EuGH in seiner Entscheidung zwischen dem Festsetzungs- und dem Erhebungsverfahren.
35 
Darüber hinaus habe der EuGH in seinem Urteil keine Vorschrift des nationalen Rechts für unionrechtswidrig erklärt, sondern allein die Vorgaben des Unionsrechts formuliert. Diese seien im deutschen Recht nach Maßgabe des allgemein anerkannten bloßen Anwendungsvorrangs des Unionsrechts umzusetzen. Dieser führe nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur „geltungserhaltenden Reduktion“ des Anwendungsbereichs der nationalen Norm, in die die vom EuGH formulierten unionsrechtlichen Vorgaben „hineinzulesen“ seien (bspw. BFH, Urteile vom 24. Juli 2018 I R 24/16 BFH/NV 2019, 274, und vom 18. Dezember 2013 I R 71/10, Bundessteuerblatt - BStBl - II 2015, 361). Demnach sei die Anwendung des § 6 AStG auf Wohnsitzverlagerungen in die Schweiz unionsrechtlich nur in dem Umfang untersagt, wie sie gegen die Vorgaben des EuGH verstoße. Da dessen Rechtsprechung aber nicht die Steuerfestsetzung des § 6 AStG an sich für ungeeignet erkläre, sondern nur die Frage der Sofortversteuerung, liege im Streitfall die unionsrechtliche Problematik im Steuererhebungs- und nicht im Steuerfestsetzungsverfahren begründet. Da die Steuerfestsetzung nicht zu beanstanden sei und der Anwendungsvorrang des Unionsrechts auch nicht die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten außer Kraft setze, sei die Klage gegen die Steuerfestsetzung unbegründet. Sofern die Klage gegen das Steuererhebungsverfahren ziele, sei sie mangels eines Vorverfahrens unzulässig.
36 
Der Beklagte verweist auf das Ergebnis der Sitzung der Außensteuerreferatsleiter des Bundes und der Länder vom 25. bis 26. Juni 2019. Danach solle das AStG in der Weise geändert werden, dass § 6 Abs. 4 AStG bei Wegzügen in die Schweiz auch ohne die Prüfung der erheblichen Härte Anwendung findet. Eine Sicherheitsleistung solle nur erforderlich sein, wenn der Steueranspruch gefährdet erscheint, was der Fall sein solle, wenn, wie mit der Schweiz, kein Beitreibungsabkommen besteht. Alle anderen Modalitäten (Erhebung der Steuer in fünf gleichen Jahresraten, Verzinsung) sollten unverändert auch im Verhältnis zur Schweiz weitergelten (s. Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen - BMF - vom 13. November 2019 IV B 5 - S 1325/18/10001:001 2019/0995000, BStBl I 2019, 1212).
37 
Dem entgegnet die Klägerseite, § 6 AStG sei in der vorliegenden Fassung abkommenswidrig. Er verweist auf die Rn. 62 in der Entscheidung des EuGH vom 26. Februar 2019 C-581/17. Danach sei eine angedachte Stundung in Teilbeträgen, hier auch noch verzinslich, keine zu rechtfertigende Maßnahme. Aus den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 27. September 2018 (Rn. 107 f.) ergebe sich zudem, dass eine Stundung „automatisch“, also von Amts wegen, erfolgen müsse. Die Möglichkeit einer Stundung sei dem Kläger aber von Gesetzes wegen weder eingeräumt worden noch werde sie eingeräumt. Daher sei die Grundlage für die Festsetzung unverhältnismäßig und infolgedessen rechtswidrig. Nach den europarechtlichen Grundsätzen sei die Festsetzung nur zu rechtfertigen, wenn gleichzeitig und von Amts wegen eine (zinslose und dauerhafte) Stundung gewährt werde. Zumindest müsse in seinem Fall nachträglich eine zinslose und analog § 6 Abs. 5 AStG dauerhafte Stundung von Amts wegen erfolgen, um die unverhältnismäßige Festsetzung zu rechtfertigen. Das sei hier nicht erfolgt. Der Kläger betont, der Verkauf der Anteile stehe nach wie vor nicht im Raum.
38 
Der Kläger beantragt,
den Einkommensteuerbescheid für 2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 12. August 2015 dahingehend zu ändern, dass die Einkommensteuer 2011 in Höhe von 0,- EUR festgesetzt wird.
39 
Der Beklagte beantragt,
1. die Klage abzuweisen,
2. hilfsweise, die Revision zuzulassen.
40 
Am 16. Januar 2020 fand ein Erörterungstermin statt (s. Sitzungsniederschrift). In diesem erklärten sich die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

Entscheidungsgründe

 
41 
1. Die Klage ist begründet. Zu Unrecht hat der Beklagte eine Wegzugsbesteuerung ohne Aufschub der Zahlung der geschuldeten Steuer nach § 6 AStG in Verbindung mit § 17 EStG vorgenommen. Dies ist mit dem Unionsrecht nicht vereinbar. Es verstößt gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz und damit gegen das Niederlassungsrecht gemäß dem FZA, was im Streitfall nicht gerechtfertigt ist.
42 
a. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 6 Abs. 1 Satz 1 AStG sind erfüllt. Der Kläger war innerhalb der letzten fünf Jahre vor dem Wegzug in die Schweiz am Kapital der GmbH unmittelbar zu 50 % und damit zu mindestens 1 % beteiligt. Er war vor dem Wegzug für mindestens zehn Jahre im Inland unbeschränkt steuerpflichtig. Die Aufgabe seines inländischen Wohnsitzes und seines gewöhnlichen Aufenthalts hat zudem zur Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht des Klägers nach § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG geführt.
43 
Der angesetzte Wert der Beteiligung zum Zeitpunkt des Wegzugs ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Für das Gericht ergibt sich diesbezüglich, nach Lage der Akten, auch kein anderes Ergebnis.
44 
Die Anwendung des § 3 Nr. 40 Satz 1 Buchst. c EStG erfolgte zu Recht.
45 
Auf eine antragslose, zinslose und dauerhafte Stundung nach § 6 Abs. 5 AStG kann sich der Kläger nicht berufen. Die Schweiz ist weder EU-Mitgliedstaat noch ein Staat des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR).
46 
b. Ein Ausschluss oder eine Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts aufgrund des DBA Schweiz besteht nicht. Art. 13 Abs. 5 DBA-Schweiz, der wie folgt lautet:
47 
„Besteuert ein Vertragstaat bei Wegzug einer in diesem Staat ansässigen natürlichen Person den Vermögenszuwachs, der auf eine wesentliche Beteiligung an einer in diesem Staat ansässigen Gesellschaft entstanden ist, so wird bei späterer Veräußerung der Beteiligung, wenn der daraus erzielte Gewinn in dem anderen Staat gemäß [Art. 13] Absatz 3 [DBA-Schweiz] besteuert wird, dieser Staat bei der Ermittlung des Veräußerungs-gewinns als Anschaffungskosten den Betrag zugrunde legen, den der erstgenannte Staat im Zeitpunkt des Wegzugs als Erlös angenommen hat.“
48 
ist nicht einschlägig. Die GmbH hat ihren Sitz in der Schweiz und nicht in Deutschland. Im Falle des Wegzugs stellt die Besteuerung des Vermögenszuwachses den letzten Akt der unbeschränkten Steuerpflicht dar. Besteuert wird ausschließlich der Wertzuwachs der Beteiligung bis zum Wegzugszeitpunkt (s. dazu im Einzelnen und mit weiteren Nachweisen die Ausführungen des FG Baden-Württemberg in seinem Beschluss vom 14. Juni 2017 2 K 2413/15, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 2018, 18). Trotzdem ist eine Gefahr der Doppelbesteuerung, nach Lage der Akten, nicht gegeben. Die Schweiz sieht eine Besteuerung des Verkaufs von im Privatvermögen gehaltenen Beteiligungen grundsätzlich nicht vor (Art. 16 Abs. 3 Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer - DBG - sowie Art. 7 Abs. 4 Buchst. b Bundesgesetz über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden - StHG - mit den Ausnahmen des Art. 20a DBG sowie der Art. 7a und Art. 7 Abs. 4 Buchst. b in Verbindung mit Art. 12 Abs. 2 Buchst. d StHG; vgl. hierzu auch Hardt in Wassermeyer, Stand: 1/2020, DBA Schweiz, Art. 13 Rn. 146, sowie allgemein zu Fragen der Anwendung des § 6 Abs. 1 AStG im Verhältnis zur Schweiz Häck, IStR 2011, 521).
49 
c. Nach Ergehen des EuGH-Urteils vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, „Wächtler“, HFR 2019, 439, ist der erkennende Senat allerdings der Auffassung, dass die Wegzugsbesteuerung ohne Aufschub der Zahlung der geschuldeten Einkommensteuer für 2011 nach § 6 AStG in Verbindung mit § 17 EStG im Streitfall eine nicht gerechtfertigte Verletzung des Klägers in seinem Recht auf Gleichbehandlung gemäß Art. 15 Abs. 2 Anhang I in Verbindung mit Art. 9 Anhang I FZA ist und damit seines Niederlassungsrechts gemäß der Präambel, Art. 1 Buchst. a, Art. 4, Art. 16 FZA sowie Art. 12 Anhang I FZA.
50 
Der EuGH hat entschieden, dass „die Bestimmungen des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit, unterzeichnet in Luxemburg am 21. Juni 1999, […] dahin auszulegen [sind], dass sie einem Steuersystem eines Mitgliedstaats entgegenstehen, das in einer Situation, in der ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, also eine natürliche Person, der im Hoheitsgebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft eine Erwerbstätigkeit ausübt, seinen Wohnsitz von dem Mitgliedstaat, dessen Steuersystem in Frage steht, in die Schweiz verlegt, vorsieht, dass die für die latenten Wertzuwächse von Gesellschaftsanteilen dieses Staatsangehörigen geschuldete Steuer im Zeitpunkt dieser Wohnsitzverlegung erhoben wird, während im Fall der Beibehaltung des Wohnsitzes im selben Mitgliedstaat die Erhebung erst im Zeitpunkt der Realisierung der Wertzuwächse, d. h. bei der Veräußerung der betreffenden Gesellschaftsanteile, erfolgt.“ Der Tenor dieses für den zur Entscheidung im Klageverfahren berufenen und erkennenden Senat unmittelbar verbindlichen Urteils (sog. „inter-partes“-Wirkung; s. BFH, Urteil vom 11. Februar 2003 VII R 1/01, BFH/NV 2003, 1100, sowie zur Verbindlichkeit für Instanzgerichte: EuGH, Urteil vom 24. Juni 1969 29/68, „Milch-, Fett- und Eierkontor GmbH/Hauptzollamt Saarbrücken“, Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs - Slg. - 1969, 165 und Schwarze/Wunderlich, in Schwarze: EU-Kommentar, 4. Aufl., 2019, Art. 267 AEUV Rn. 69 mit weiteren Nachweisen) ist im „Lichte der Entscheidungsgründe“ auszulegen (EuGH, Urteil vom 19. Januar 1993 C-101/91, „Kommission/Italien“, HFR 1995, 105 und Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 267 AEUV, Rn. 68).
51 
Demnach kommt das FZA im Streitfall zur Anwendung.
52 
Gemäß Art. 216 f. AEUV ist das FZA Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung und stellt die Handlung eines Gemeinschaftsorgans dar. Damit nimmt der Abkommensinhalt, der für die Organe der Union und die Mitgliedstaaten verbindlich ist (Art. 216 Abs. 2 AEUV), am Vorrang des EU-Rechts gegenüber nationalem Recht teil. Im Fall einer abkommenswidrigen innerstaatlichen Vorschrift bewirkt es deren Nichtanwendbarkeit (BFH, Urteil vom 9. Mai 2012 X R 3/11,BStBl II 2012, 585, mit weiteren Nachweisen).
53 
Die Bestimmungen des FZA sind dabei nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, ihnen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte des Ziels und Zwecks des FZA auszulegen (Art. 31 des Gesetzes zu dem Wiener Übereinkommen vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge vom 3. August 1985, BGBl II 1985, 926; EuGH, Urteil vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, „Wächtler“, HFR 2019, 439, mit weiteren Nachweisen). Dabei ist zu berücksichtigen, dass das FZA in einem allgemeineren Rahmen der Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz steht. Diese hat sich zwar gerade nicht für die Teilnahme am Europäischen Wirtschaftsraum und am Binnenmarkt der Union entschieden, ist aber gleichwohl durch eine Vielzahl von Abkommen mit dieser verbunden, die weite Bereiche abdecken und spezifische Rechte und Pflichten vorsehen, die in mancher Hinsicht den im Vertrag festgelegten entsprechen. Die allgemeine Zielsetzung dieser Abkommen, einschließlich des FZA, besteht darin, die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz zu intensivieren (EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2011 C-506/10, EU:C:2011:643, „Graf und Engel“, Slg. 2011, I-9345).
54 
Da die Schweiz nicht dem Binnenmarkt der Union beigetreten ist, kann die Auslegung der unionsrechtlichen Bestimmungen über den Binnenmarkt nicht automatisch auf die Auslegung des FZA übertragen werden. Vielmehr muss dies im FZA selbst ausdrücklich vorgesehen sein (EuGH, Urteil vom 15. März 2018 C-355/16, EU:C:2018:184, „Picart“, HFR 2018, 586, mit weiteren Nachweisen).
55 
Die Zielsetzung des FZA und seine Auslegung ergeben sich aus der Präambel sowie Art. 1 und Art. 16 Abs. 2 FZA. Danach hat das FZA zum Ziel, zu Gunsten der Staatsangehörigen der Union und der Schweiz die Freizügigkeit im Hoheitsgebiet dieser Parteien zu verwirklichen. Hierzu stützt es sich auf die in der Union geltenden Vorschriften, deren Begriffe unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung des FZA, dem 21. Juni 1999, auszulegen sind (Art. 16 Abs. 2 Satz 1 FZA). Über die Rechtsprechung nach diesem Zeitraum wird die Schweiz gemäß Art. 16 Abs. 2 Satz 2 FZA zum einen unterrichtet. Zum anderen stellt, um das ordnungsgemäße Funktionieren des FZA sicherzustellen, der in Art. 14 FZA vorgesehene Gemischte Ausschuss auf Antrag einer Vertragspartei die Auswirkungen dieser Rechtsprechung fest (Art. 16 Abs. 2 Satz 3 FZA). Auch ohne diese Feststellung ist diese Rechtsprechung bei der Auslegung zu berücksichtigen, sofern sie lediglich Grundsätze präzisiert oder bestätigt, die zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des FZA durch den EuGH bereits aufgestellt waren (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2019C-581/17, EU:C:2019:138, „Wächtler“, HFR 2019, 439).
56 
Der Kläger ist, so der EuGH, Selbständiger im Sinne des FZA, der Anwendungsbereich desselben gemäß Art. 1 Buchst. a FZA somit eröffnet.
57 
Aus dem Vergleich zwischen Art. 6 und 7 sowie Art. 12 und 13 des Anhangs I FZA ergebe sich, dass für die Unterscheidung zwischen Arbeitnehmern und Selbständigen maßgebend sei, ob die fragliche Erwerbstätigkeit als „abhängige Beschäftigung“ oder „selbständige Erwerbstätigkeit“ anzusehen ist. Der Kläger habe seine Tätigkeit in der GmbH ausgeübt, an der er zu 50 % beteiligt und deren Geschäftsführer er ist. An einem eine abhängige Beschäftigung kennzeichnenden Unterordnungsverhältnis im Sinne des Unionsrechts fehle es demnach (s. dazu im Einzelnen EuGH, Urteil vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, „Wächtler“, HFR 2019, 439).
58 
Der persönliche Anwendungsbereich des Begriffs „Selbständiger“ im Sinne des FZA werde in Art. 12 und 13 des Anhangs I FZA definiert, auf deren Anwendung Art. 4 FZA verweist. Da sich der Kläger als deutscher Staatsangehöriger im Hoheitsgebiet der Schweiz niedergelassen hat, um dort im Rahmen der GmbH eine selbständige Tätigkeit auszuüben, unterliege dies, so der EuGH, Art. 12 Abs. 1 des Anhangs I FZA. Dem stehe nicht entgegen, dass der Kläger an der GmbH, in deren Rahmen er die selbständige Tätigkeit ausübt, zu 50 % beteiligt ist. Das Recht auf Niederlassung als Selbständiger im Sinne des FZA umfasse, mit Ausnahme der Erbringung von Dienstleistungen, jede Erwerbstätigkeit einer natürlichen Person, die nicht unter den Begriff des „Arbeitnehmers“ falle. Außerdem setze die wirksame Ausübung dieses Rechts die Möglichkeit voraus, die zu diesem Zweck geeignete Rechtsform zu wählen. Ein Staatsbürger einer Vertragspartei könne die aus dem FZA abgeleiteten Rechte auch gegenüber seinem eigenen Land geltend machen. Denn nach einer bereits im Zeitpunkt der Unterzeichnung des FZA bestehenden Rechtsprechung des EuGH solle das Niederlassungsrecht nicht nur die Inländerbehandlung im Aufnahmemitgliedstaat sicherstellen, sondern auch Behinderungen verbieten, die vom Herkunftsmitgliedstaat des betreffenden Staatsangehörigen ausgehen. Anderenfalls wäre die Freizügigkeit, die das FZA garantiert, beeinträchtigt, sollte der Staatsangehörige eines Vertragstaats in seinem Herkunftsland einen Nachteil allein deshalb erleiden, weil er sein Freizügigkeitsrecht ausgeübt hat. Im Ergebnis kann ein Selbständiger, der in den Anwendungsbereich des FZA fällt, hier der Kläger, den Grundsatz der Gleichbehandlung gemäß Art. 15 Abs. 2 des Anhangs I FZA in Verbindung mit Art. 9 dieses Anhangs auch gegenüber seinem Herkunftsstaat geltend machen.
59 
Dieser Grundsatz ist im Streitfall verletzt. Der Kläger hat sein Niederlassungsrecht als Selbständiger gemäß dem FZA ausgeübt. Im Vergleich zu anderen deutschen Staatsangehörigen, die, wie er, eine selbständige Tätigkeit im Rahmen einer Gesellschaft ausüben, an der sie Anteile halten, aber im Unterschied zu ihm ihren Wohnsitz in Deutschland beibehalten, erleidet er einen steuerlichen Nachteil. Die ersteren müssen die Steuer für latente Wertzuwächse der betreffenden Gesellschaftsanteile erst zahlen, wenn diese Wertzuwächse realisiert werden, d. h. bei der Veräußerung der Gesellschaftsanteile, während der Kläger die fragliche Steuer für die latenten Wertzuwächse solcher Gesellschaftsanteile bereits im Zeitpunkt der Verlegung seines Wohnsitzes in die Schweiz zahlen muss, ohne einen Zahlungsaufschub bis zur Veräußerung der Anteile erhalten zu können. Diese Wegzugsbesteuerung ohne Aufschub der Zahlung der geschuldeten Steuer ist ein Liquiditätsnachteil für den Kläger, der geeignet ist, ihn davon abzuhalten, von seinem Niederlassungsrecht gemäß dem FZA tatsächlich Gebrauch zu machen (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, „Wächtler“, HFR 2019, 439).
60 
Diese Ungleichbehandlung ist durch das FZA nicht gerechtfertigt. Weder Art. 21 Abs. 2 FZA noch Art. 21 Abs. 3 FZA berechtigen hierzu.
61 
Nach Art. 21 Abs. 2 FZA ist im Bereich der Steuern eine differenzierte Behandlung von Steuerpflichtigen zulässig, die sich, insbesondere hinsichtlich ihres Wohnsitzes, nicht in vergleichbaren Situationen befinden (EuGH, Urteil vom 21. September 2016 C-478/15, EU:C:2016:705, „Radgen“, Deutsches Steuerrecht - DStR - 2016, 2331). Der nationale Gesetzgeber hat sich gemäß § 6 AStG dazu entschieden, in Bezug auf die Wertzuwächse von Gesellschaftsanteilen deutscher Staatsangehöriger, die während deren unbeschränkter Steuerpflicht als steuerlich in Deutschland Ansässige entstanden sind, die Besteuerungsbefugnis unabhängig davon auszuüben, in welchem Hoheitsgebiet die Wertzuwächse entstanden sind. Ziel des Gesetzgebers ist es, die Wertzuwächse von Gesellschaftsanteilen, die im Rahmen der Besteuerungsbefugnis der Bundesrepublik Deutschland entstanden sind, zu besteuern. Allerdings ist die Situation eines Angehörigen eines Mitgliedstaats, der seinen Wohnsitz von Deutschland in die Schweiz verlegt, vergleichbar mit der eines Angehörigen eines Mitgliedstaats, der seinen Wohnsitz in Deutschland beibehält. Denn in beiden Fällen liegt die Befugnis, diese Wertzuwächse zu besteuern, bei der Bundesrepublik Deutschland, da diese Befugnis nach nationalem Recht an den steuerlichen Wohnsitz des Staatsangehörigen in ihrem Hoheitsgebiet während des Entstehungszeitraums dieser Wertzuwächse geknüpft ist, unabhängig vom Ort ihrer Entstehung (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, „Wächtler“, HFR 2019, 439). Art. 21 Abs. 2 FZA kommt daher nicht zur Anwendung.
62 
Nach Art. 21 Abs. 3 FZA hindert keine Bestimmung des FZA die Vertragsparteien daran, Maßnahmen zu beschließen, um nach Maßgabe der Bestimmungen der nationalen Steuergesetzgebung einer Vertragspartei oder der zwischen der Schweiz einerseits und einem oder mehreren Mitgliedstaaten andererseits geschlossenen DBA oder sonstiger steuerrechtlicher Vereinbarungen die Besteuerung sowie die Zahlung und die tatsächliche Erhebung der Steuern zu gewährleisten oder die Steuerflucht zu verhindern. Zu diesen zwingenden Gründen des Allgemeinwohls gehören somit die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den betreffenden Vertragsparteien des FZA, die Wirksamkeit der steuerlichen Kontrollen und die Notwendigkeit, zur Vermeidung von Steuermindereinnahmen eine wirksame Steuererhebung zu gewährleisten. Dabei müssen die aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls ergriffenen Maßnahmen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten. Zur Erreichung der Ziele müssen sie geeignet sein und dürfen nicht über das hinausgehen, was hierfür erforderlich ist (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, „Wächtler“, HFR 2019, 439, mit weiteren Nachweisen).
63 
Zwar ist im Streitfall die Bestimmung der Höhe der fraglichen Steuer im Zeitpunkt der Verlegung des Wohnsitzes in die Schweiz eine geeignete Maßnahme, um die Erreichung des Ziels in Bezug auf die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen der Schweiz und Deutschland sicherzustellen. Jedoch ist dieses Ziel keine Rechtfertigung dafür, dass ein Aufschub der Zahlung der geschuldeten Steuer unmöglich ist. Eine Stundung würde nicht dazu führen, dass Deutschland zu Gunsten der Schweiz auf die Befugnis der Besteuerung der Wertzuwächse verzichten würde, die während des Zeitraums der unbeschränkten Steuerpflicht des Klägers in Deutschland entstanden sind (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, „Wächtler“, HFR 2019, 439, mit weiteren Nachweisen).
64 
Auch geht die Wegzugsbesteuerung ohne Aufschub der Zahlung der geschuldeten Steuer über das hinaus, was zur Erreichung einer wirksamen steuerlichen Kontrolle nötig ist. Das DBA Schweiz sieht bspw. in Art. 27 die Möglichkeit eines Austauschs von Steuerinformationen zwischen den Vertragstaaten vor. Auf diese Weise kann Deutschland von den schweizerischen Behörden die notwendigen Informationen über die Veräußerung der Gesellschaftsanteile mit den in Rede stehenden latenten Wertzuwächsen erhalten (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, „Wächtler“, HFR 2019, 439).
65 
Schließlich wird die alsbaldige Einziehung der Steuer im Zeitpunkt der Verlegung des Wohnsitzes hinsichtlich des Ziels der Vermeidung von Steuermindereinnahmen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht gerecht. Ein Aufschub der Einziehung der Steuer kann ggf. von einer Sicherheitsleistung abhängig gemacht werden, insbesondere in Fällen, in denen ein Risiko der Nichteinziehung der geschuldeten Steuer besteht, da, wie hier mit der Schweiz, Mechanismen der gegenseitigen Unterstützung bei der Beitreibung von Steuerforderungen fehlen (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, „Wächtler“, HFR 2019, 439).
66 
Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass § 6 Abs. 4 AStG die Möglichkeit der Zahlung der Steuer in Teilbeträgen vorsieht, wenn die alsbaldige Einziehung der Steuer mit erheblichen Härten für den Steuerpflichtigen verbunden wäre. Abgesehen davon, dass diese Maßnahme der Ratenzahlung nur in diesem speziellen Fall möglich ist, ist sie nicht geeignet, in einem solchen Fall den Liquiditätsnachteil aufzuheben, den die Verpflichtung des Steuerpflichtigen darstellt, bereits im Zeitpunkt der Verlegung seines Wohnsitzes in die Schweiz einen Teil der für die latenten Wertzuwächse der betreffenden Gesellschaftsanteile geschuldeten Steuer zu zahlen. Zudem ist sie für den Steuerpflichtigen kostspieliger als die Stundung der Steuer bis zur Veräußerung der betreffenden Gesellschaftsanteile (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, „Wächtler“, HFR 2019, 439).
67 
Im Streitfall ist nicht erst das Leistungsgebot im Einkommensteuerbescheid für 2011 rechtswidrig, sondern bereits die unzweifelhaft mit Einspruch und Klage angefochtene Steuerfestsetzung. Nach dem für den Aussagegehalt bzw. die Deutung der Beantwortung der Vorlagefrage durch den EuGH bindenden Tenor der Entscheidung Wächtler vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, HFR 2019, 439, stehen die Bestimmungen des FZA nicht nur einer sofortigen Erhebung, also einer Wegzugsbesteuerung ohne Aufschub der Zahlung der geschuldeten Steuer, entgegen. Vielmehr benennt der EuGH in diesem Zusammenhang ausdrücklich ein Steuersystem, das eine solche Erhebung vorsieht. Hätte der EuGH die Entscheidung treffen wollen, dass lediglich die einschlägige Erhebungsregel gegen Bestimmungen des FZA verstoße, wie es der Beklagte behauptet, hätte er das in seinem Tenor entsprechend formuliert, dass der sofortigen Steuererhebung die Bestimmungen des FZA entgegenstehen. Stattdessen hat er entschieden, dass die Bestimmungen des FZA einem Steuersystem entgegenstehen, das eine sofortige Steuererhebung vorsieht. Die Vorlagefrage des Senats (FG Baden-Württemberg, Beschluss vom 14. Juni 2017 2 K 2413/15, EFG 2018, 18), ob die Bestimmungen des FZA einer Regelung entgegenstehen, nach der noch nicht realisierte Wertsteigerungen von Gesellschaftsanteilen ohne Aufschub der Zahlung der geschuldeten Steuer besteuert werden, hätte eine solche Antwort, dass allein der sofortigen Steuererhebung die Bestimmungen des FZA entgegenstehen, ermöglicht. Der EuGH geht jedoch „erst“ im Zusammenhang mit der Beschreibung des Steuersystems im Tenor bzw. am Ende der Urteilsbegründung auf die Steuererhebung ein.
68 
Beurteilungsgegenstand des EuGH ist demnach das „Steuersystem“. Ein System ist ein Gebilde, das aus mehreren Komponenten besteht. Im Rechtssinne kann ein Gebilde mehrerer Komponenten in einer oder mehreren Vorschrift(en) beschrieben bzw. normiert werden. So enthält § 6 AStG Komponenten der Festsetzung und der Erhebung. Letztere finden sich in der Teilbetragszahlungsregelung in § 6 Abs. 4 AStG, allerdings nur im Falle erheblicher Härten, und in § 6 Abs. 5 AStG bei Wegzug in das EU-/EWR-Ausland. Im Falle des Wegzugs in die Schweiz greift mangels einer Sonderregelung die einkommensteuerliche Erhebungsregelung des § 36 Abs. 4 Satz 1 EStG, wonach der Steuerpflichtige (Steuerschuldner), wenn sich nach der Abrechnung ein Überschuss zu seinen Ungunsten ergibt, diesen Betrag, soweit er den fällig gewordenen, aber nicht entrichteten Einkommensteuer-Vorauszahlungen entspricht, sofort, im Übrigen innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Steuerbescheids zu entrichten hat (Abschlusszahlung).
69 
Dies wird den Vorgaben des EuGH nicht gerecht. Das System der Wegzugsbesteuerung, das dieser in seiner Entscheidung Wächtler vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, HFR 2019, 439, als mit den Bestimmungen des FZA konform beschreibt, lässt zwar im Ergebnis die Feststellung der Höhe der Steuer im Wegzugszeitpunkt zu, verlangt aber zugleich eine dauerhafte Stundung der festgesetzten Steuer, ohne Liquiditätsnachteil für den Wegziehenden, bis zur tatsächlichen Realisation des Wertzuwachses der Gesellschaftsanteile, wobei die Stundung von einer Sicherheitsleistung abhängig gemacht werden kann. Im nationalen Recht existiert ein so beschriebenes Steuersystem nicht.
70 
Auch die mit BMF-Schreiben vom 13. November 2019 IV B 5 - S 1325/18/10001:001 2019/0995000, BStBl I 2019, 1212, geänderte Verwaltungspraxis wird den Vorgaben des EuGH nicht gerecht. Darin ist keine automatische, dauerhafte und zinslose Stundung vorgesehen.
71 
Im Ergebnis beruht die streitgegenständliche Steuerfestsetzung auf einem Steuersystem, das den Bestimmungen des FZA nicht gerecht wird, da die Normierung für den Fall der Wegzugsbesteuerung in die Schweiz ein Defizit aufweist. Damit ist sie rechtswidrig.
72 
Entgegen der Auffassung des Beklagten ist es nicht möglich, in die bestehenden nationalen Vorschriften die vom EuGH formulierten unionsrechtlichen Vorgaben hineinzulesen. Die vom Beklagten in diesem Zusammenhang genannte „geltungserhaltende Reduktion“ ist eine Form der Auslegung einer Rechtsvorschrift. Bei der Auslegung einer Norm darf sich das Gericht aber nicht aus der Rolle des Rechtsanwenders in die einer normersetzenden Instanz begeben, weswegen die Auslegung nicht in Widerspruch zum Willen des Gesetzgebers stehen darf (s. Bundesverfassungsgericht - BVerfG, Beschluss vom 27. März 2012 2 BvR 2258/19, BGBl I 2012, 1021). Den vom EuGH in seiner Entscheidung Wächtler vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, HFR 2019, 439, formulierten unionsrechtlichen Vorgaben steht das Regelungsgebilde des § 6 Abs. 1 AStG in Verbindung mit § 36 Abs. 4 Satz 1 EStG diametral entgegen. Im Falle des § 36 Abs. 4 Satz 1 EStG war es der Wille des Gesetzgebers, dass bei Nichtvorliegen einer speziellen Erhebungsvorschrift die Einkommensteuer im Streitfall innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Einkommensteuerbescheids zu zahlen ist. Dagegen erklärte der EuGH, dass das System der Festsetzung der Wegzugsteuer, bei Wegzug in die Schweiz, ohne eine unmittelbar erfolgende dauerhafte Stundung, die einen Liquiditätsnachteil verhindert, nicht den Bestimmungen des FZA entspricht. So wie die Unionsrechtskonformität der Wegzugsbesteuerung im Falle des Wegzugs in das EU-/EWR-Ausland nach § 6 Abs. 1 nur in systematischem Zusammenhang mit § 6 Abs. 5 AStG beurteilt bzw. erreicht werden kann (Strunk/Kaminski in: Strunk/Kaminski/Köhler, AStG/DBA, Stand: 1/2020, § 6 AStG Rn. 236), so kann die Wegzugsbesteuerung im Falle des Wegzugs in die Schweiz nur in systematischem Zusammenhang mit einer fehlenden antragslosen, dauerhaften, zinslosen Stundung beurteilt werden. Letztere steht, entgegen der Auffassung des Beklagten, an sich gerade nicht im Einklang mit den Bestimmungen des FZA. Zwar ist sie eine geeignete Maßnahme, um die Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen der Schweiz und Deutschland zu wahren, was nach der Rechtsprechung des EuGH einem zwingenden Grund des Allgemeinwohls entspricht. Allerdings wahrt sie nicht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Denn das Ziel der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen der Schweiz und Deutschland ist keine Rechtfertigung für eine Besteuerung ohne Aufschub der Zahlung der geschuldeten Steuer. Im Streitfall erfolgte die Steuerfestsetzung nach § 6 Abs. 1 AStG. Dieser folgte nach § 36 Abs. 4 Satz 1 EStG unmittelbar und von Amts wegen die Erhebung ohne Aufschub. Somit fehlt der Steuerfestsetzung ein Element bzw. ein Mechanismus, durch den die Maßnahme nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des tauglichen Rechtfertigungsgrundes erforderlich ist. Nötig wäre eine dauerhafte und zinslose Stundung, die unmittelbar und von Amts wegen der Festsetzung folgt, wie sie etwa § 6 Abs. 5 AStG für andere Fallkonstellationen vorsieht. Ein solcher Mechanismus fehlt im nationalen Recht.
73 
Folgte man der Argumentation des Beklagten und würde man den Kläger isoliert auf das Erhebungsverfahren verweisen, hätte das zur Folge, dass sich der Kläger um eine verzinsliche Stundung nach § 222 AO bemühen müsste, die als Ermessensentscheidung grundsätzlich bei einer persönlichen Härte und in der Regel auf Antrag erfolgt. Ohne Vorliegen einer persönlichen Härte gewährt die Finanzverwaltung zwar inzwischen alternativ eine Stundung durch das BMF-Schreiben vom 13. November 2019 IV B 5 – S 1325/18/10001:001 2019/0995000, BStBl I 2019, 1212, dem Rechtsgedanken des § 6 Abs. 4 AStG entsprechend. Allerdings erfolgt auch bei dieser vom Beklagten favorisierten Vorgehensweise zunächst eine Steuerfestsetzung mit sofortiger Fälligkeit der Steuer, der sich der Kläger gegenübersieht. Bereits damit hat er einen Liquiditätsnachteil, da diese Fälligkeit der Steuerforderung verschiedenste Konsequenzen für den Steuerschuldner hat. So hat das fruchtlose Verstreichenlassen des Fälligkeitstermins für ihn in unterschiedlichen Zusammenhängen rechtliche Nachteile zur Folge. Wird eine Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages entrichtet, so entstehen für jeden angefangenen Monat der Säumnis Säumniszuschläge in Höhe von 1 % des abgerundeten rückständigen Steuerbetrags (§ 240 Abs. 1 Satz 1 AO). Daneben ist die Fälligkeit neben dem Leistungsgebot gemäß § 254 Abs. 1 Satz 1 AO eine Voraussetzung für den Beginn der Vollstreckung. Auch kann die Finanzbehörde nur mit fälligen Steuerforderungen gegen Erstattungs-       oder Vergütungsansprüche des Steuerpflichtigen aufrechnen (§ 226 AO in Verbindung mit §§ 387 ff. Bürgerliches Gesetzbuch) und den Anspruch auf diese Weise durch eine einseitige Erklärung zum Erlöschen bringen. Erst nach Bearbeitung und möglicher Bewilligung des Stundungs- bzw. Ratenzahlungsantrags würde sich die Liquidationslage des Klägers verbessern, allerdings auch nicht in dem Maße, wie es der EuGH fordert, so dass die Festsetzung der Wegzugsteuer verhältnismäßig und damit gerechtfertigt wäre. Bei einem isolierten Begehren günstigerer Erhebungsbedingungen kann der Kläger im Ergebnis keine Bedingungen erreichen, unter denen sein Niederlassungsrecht nicht ungerechtfertigt eingeschränkt würde.
74 
2. Nachdem sich die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt haben, hält es der Senat für sachgerecht, gemäß § 90 a Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne mündliche Verhandlung im Wege des Gerichtsbescheids zu entscheiden.
75 
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
76 
4. Die Klägerseite beantragte, die Zuziehung des Bevollmächtigten zum Vorverfahren für notwendig zu erklären. Dem Verfahren lag ein Sachverhalt zugrunde, der in rechtlicher Hinsicht nicht von vornherein als einfach zu beurteilen war. Die Klägerseite durfte sich daher eines Rechtskundigen bedienen, um eine erfolgversprechende Rechtsverfolgung zu erreichen. Der Senat hält hiernach die Zuziehung des Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig (§ 139 Abs. 3 Satz 3 FGO).
77 
5. Der Ausspruch der vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 709, 711 Zivilprozessordnung.
78 
6. Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO). Die Folgen der Anwendung des EuGH-Urteils vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, „Wächtler“, HFR 2019, 439, auf nationaler Ebene werden nicht einheitlich gesehen. Vielmehr werden unterschiedliche, entgegengesetzte Konsequenzen gezogen (s. bspw. Finanzverwaltung im BMF-Schreiben vom 13. November 2019 IV B 5 - S 1325/18/10001:001 2019/0995000, BStBl I 2019, 1212, auf der einen Seite und die in der Literatur geäußerten Auffassungen, bspw. Escher/Grzella, BB 2020, 540; Kahlenberg, IStR 2020, 378; Hörnicke/Quilitzsch, IStR 2020, 152; Weiss, EStB 2019, 117; Strunk/Kaminski in: Strunk/Kaminski/Köhler, AStG/DBA, Stand: 1/2020, § 6 AStG Rn. 95.1; Häck in: Flick/Wassermeyer/Baumhoff u. a., Außensteuerrecht, Stand: 5/2020, § 6 AStG Rn. 531, auf der anderen Seite.

Gründe

 
41 
1. Die Klage ist begründet. Zu Unrecht hat der Beklagte eine Wegzugsbesteuerung ohne Aufschub der Zahlung der geschuldeten Steuer nach § 6 AStG in Verbindung mit § 17 EStG vorgenommen. Dies ist mit dem Unionsrecht nicht vereinbar. Es verstößt gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz und damit gegen das Niederlassungsrecht gemäß dem FZA, was im Streitfall nicht gerechtfertigt ist.
42 
a. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 6 Abs. 1 Satz 1 AStG sind erfüllt. Der Kläger war innerhalb der letzten fünf Jahre vor dem Wegzug in die Schweiz am Kapital der GmbH unmittelbar zu 50 % und damit zu mindestens 1 % beteiligt. Er war vor dem Wegzug für mindestens zehn Jahre im Inland unbeschränkt steuerpflichtig. Die Aufgabe seines inländischen Wohnsitzes und seines gewöhnlichen Aufenthalts hat zudem zur Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht des Klägers nach § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG geführt.
43 
Der angesetzte Wert der Beteiligung zum Zeitpunkt des Wegzugs ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Für das Gericht ergibt sich diesbezüglich, nach Lage der Akten, auch kein anderes Ergebnis.
44 
Die Anwendung des § 3 Nr. 40 Satz 1 Buchst. c EStG erfolgte zu Recht.
45 
Auf eine antragslose, zinslose und dauerhafte Stundung nach § 6 Abs. 5 AStG kann sich der Kläger nicht berufen. Die Schweiz ist weder EU-Mitgliedstaat noch ein Staat des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR).
46 
b. Ein Ausschluss oder eine Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts aufgrund des DBA Schweiz besteht nicht. Art. 13 Abs. 5 DBA-Schweiz, der wie folgt lautet:
47 
„Besteuert ein Vertragstaat bei Wegzug einer in diesem Staat ansässigen natürlichen Person den Vermögenszuwachs, der auf eine wesentliche Beteiligung an einer in diesem Staat ansässigen Gesellschaft entstanden ist, so wird bei späterer Veräußerung der Beteiligung, wenn der daraus erzielte Gewinn in dem anderen Staat gemäß [Art. 13] Absatz 3 [DBA-Schweiz] besteuert wird, dieser Staat bei der Ermittlung des Veräußerungs-gewinns als Anschaffungskosten den Betrag zugrunde legen, den der erstgenannte Staat im Zeitpunkt des Wegzugs als Erlös angenommen hat.“
48 
ist nicht einschlägig. Die GmbH hat ihren Sitz in der Schweiz und nicht in Deutschland. Im Falle des Wegzugs stellt die Besteuerung des Vermögenszuwachses den letzten Akt der unbeschränkten Steuerpflicht dar. Besteuert wird ausschließlich der Wertzuwachs der Beteiligung bis zum Wegzugszeitpunkt (s. dazu im Einzelnen und mit weiteren Nachweisen die Ausführungen des FG Baden-Württemberg in seinem Beschluss vom 14. Juni 2017 2 K 2413/15, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 2018, 18). Trotzdem ist eine Gefahr der Doppelbesteuerung, nach Lage der Akten, nicht gegeben. Die Schweiz sieht eine Besteuerung des Verkaufs von im Privatvermögen gehaltenen Beteiligungen grundsätzlich nicht vor (Art. 16 Abs. 3 Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer - DBG - sowie Art. 7 Abs. 4 Buchst. b Bundesgesetz über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden - StHG - mit den Ausnahmen des Art. 20a DBG sowie der Art. 7a und Art. 7 Abs. 4 Buchst. b in Verbindung mit Art. 12 Abs. 2 Buchst. d StHG; vgl. hierzu auch Hardt in Wassermeyer, Stand: 1/2020, DBA Schweiz, Art. 13 Rn. 146, sowie allgemein zu Fragen der Anwendung des § 6 Abs. 1 AStG im Verhältnis zur Schweiz Häck, IStR 2011, 521).
49 
c. Nach Ergehen des EuGH-Urteils vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, „Wächtler“, HFR 2019, 439, ist der erkennende Senat allerdings der Auffassung, dass die Wegzugsbesteuerung ohne Aufschub der Zahlung der geschuldeten Einkommensteuer für 2011 nach § 6 AStG in Verbindung mit § 17 EStG im Streitfall eine nicht gerechtfertigte Verletzung des Klägers in seinem Recht auf Gleichbehandlung gemäß Art. 15 Abs. 2 Anhang I in Verbindung mit Art. 9 Anhang I FZA ist und damit seines Niederlassungsrechts gemäß der Präambel, Art. 1 Buchst. a, Art. 4, Art. 16 FZA sowie Art. 12 Anhang I FZA.
50 
Der EuGH hat entschieden, dass „die Bestimmungen des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit, unterzeichnet in Luxemburg am 21. Juni 1999, […] dahin auszulegen [sind], dass sie einem Steuersystem eines Mitgliedstaats entgegenstehen, das in einer Situation, in der ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, also eine natürliche Person, der im Hoheitsgebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft eine Erwerbstätigkeit ausübt, seinen Wohnsitz von dem Mitgliedstaat, dessen Steuersystem in Frage steht, in die Schweiz verlegt, vorsieht, dass die für die latenten Wertzuwächse von Gesellschaftsanteilen dieses Staatsangehörigen geschuldete Steuer im Zeitpunkt dieser Wohnsitzverlegung erhoben wird, während im Fall der Beibehaltung des Wohnsitzes im selben Mitgliedstaat die Erhebung erst im Zeitpunkt der Realisierung der Wertzuwächse, d. h. bei der Veräußerung der betreffenden Gesellschaftsanteile, erfolgt.“ Der Tenor dieses für den zur Entscheidung im Klageverfahren berufenen und erkennenden Senat unmittelbar verbindlichen Urteils (sog. „inter-partes“-Wirkung; s. BFH, Urteil vom 11. Februar 2003 VII R 1/01, BFH/NV 2003, 1100, sowie zur Verbindlichkeit für Instanzgerichte: EuGH, Urteil vom 24. Juni 1969 29/68, „Milch-, Fett- und Eierkontor GmbH/Hauptzollamt Saarbrücken“, Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs - Slg. - 1969, 165 und Schwarze/Wunderlich, in Schwarze: EU-Kommentar, 4. Aufl., 2019, Art. 267 AEUV Rn. 69 mit weiteren Nachweisen) ist im „Lichte der Entscheidungsgründe“ auszulegen (EuGH, Urteil vom 19. Januar 1993 C-101/91, „Kommission/Italien“, HFR 1995, 105 und Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 267 AEUV, Rn. 68).
51 
Demnach kommt das FZA im Streitfall zur Anwendung.
52 
Gemäß Art. 216 f. AEUV ist das FZA Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung und stellt die Handlung eines Gemeinschaftsorgans dar. Damit nimmt der Abkommensinhalt, der für die Organe der Union und die Mitgliedstaaten verbindlich ist (Art. 216 Abs. 2 AEUV), am Vorrang des EU-Rechts gegenüber nationalem Recht teil. Im Fall einer abkommenswidrigen innerstaatlichen Vorschrift bewirkt es deren Nichtanwendbarkeit (BFH, Urteil vom 9. Mai 2012 X R 3/11,BStBl II 2012, 585, mit weiteren Nachweisen).
53 
Die Bestimmungen des FZA sind dabei nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, ihnen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte des Ziels und Zwecks des FZA auszulegen (Art. 31 des Gesetzes zu dem Wiener Übereinkommen vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge vom 3. August 1985, BGBl II 1985, 926; EuGH, Urteil vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, „Wächtler“, HFR 2019, 439, mit weiteren Nachweisen). Dabei ist zu berücksichtigen, dass das FZA in einem allgemeineren Rahmen der Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz steht. Diese hat sich zwar gerade nicht für die Teilnahme am Europäischen Wirtschaftsraum und am Binnenmarkt der Union entschieden, ist aber gleichwohl durch eine Vielzahl von Abkommen mit dieser verbunden, die weite Bereiche abdecken und spezifische Rechte und Pflichten vorsehen, die in mancher Hinsicht den im Vertrag festgelegten entsprechen. Die allgemeine Zielsetzung dieser Abkommen, einschließlich des FZA, besteht darin, die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz zu intensivieren (EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2011 C-506/10, EU:C:2011:643, „Graf und Engel“, Slg. 2011, I-9345).
54 
Da die Schweiz nicht dem Binnenmarkt der Union beigetreten ist, kann die Auslegung der unionsrechtlichen Bestimmungen über den Binnenmarkt nicht automatisch auf die Auslegung des FZA übertragen werden. Vielmehr muss dies im FZA selbst ausdrücklich vorgesehen sein (EuGH, Urteil vom 15. März 2018 C-355/16, EU:C:2018:184, „Picart“, HFR 2018, 586, mit weiteren Nachweisen).
55 
Die Zielsetzung des FZA und seine Auslegung ergeben sich aus der Präambel sowie Art. 1 und Art. 16 Abs. 2 FZA. Danach hat das FZA zum Ziel, zu Gunsten der Staatsangehörigen der Union und der Schweiz die Freizügigkeit im Hoheitsgebiet dieser Parteien zu verwirklichen. Hierzu stützt es sich auf die in der Union geltenden Vorschriften, deren Begriffe unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung des FZA, dem 21. Juni 1999, auszulegen sind (Art. 16 Abs. 2 Satz 1 FZA). Über die Rechtsprechung nach diesem Zeitraum wird die Schweiz gemäß Art. 16 Abs. 2 Satz 2 FZA zum einen unterrichtet. Zum anderen stellt, um das ordnungsgemäße Funktionieren des FZA sicherzustellen, der in Art. 14 FZA vorgesehene Gemischte Ausschuss auf Antrag einer Vertragspartei die Auswirkungen dieser Rechtsprechung fest (Art. 16 Abs. 2 Satz 3 FZA). Auch ohne diese Feststellung ist diese Rechtsprechung bei der Auslegung zu berücksichtigen, sofern sie lediglich Grundsätze präzisiert oder bestätigt, die zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des FZA durch den EuGH bereits aufgestellt waren (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2019C-581/17, EU:C:2019:138, „Wächtler“, HFR 2019, 439).
56 
Der Kläger ist, so der EuGH, Selbständiger im Sinne des FZA, der Anwendungsbereich desselben gemäß Art. 1 Buchst. a FZA somit eröffnet.
57 
Aus dem Vergleich zwischen Art. 6 und 7 sowie Art. 12 und 13 des Anhangs I FZA ergebe sich, dass für die Unterscheidung zwischen Arbeitnehmern und Selbständigen maßgebend sei, ob die fragliche Erwerbstätigkeit als „abhängige Beschäftigung“ oder „selbständige Erwerbstätigkeit“ anzusehen ist. Der Kläger habe seine Tätigkeit in der GmbH ausgeübt, an der er zu 50 % beteiligt und deren Geschäftsführer er ist. An einem eine abhängige Beschäftigung kennzeichnenden Unterordnungsverhältnis im Sinne des Unionsrechts fehle es demnach (s. dazu im Einzelnen EuGH, Urteil vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, „Wächtler“, HFR 2019, 439).
58 
Der persönliche Anwendungsbereich des Begriffs „Selbständiger“ im Sinne des FZA werde in Art. 12 und 13 des Anhangs I FZA definiert, auf deren Anwendung Art. 4 FZA verweist. Da sich der Kläger als deutscher Staatsangehöriger im Hoheitsgebiet der Schweiz niedergelassen hat, um dort im Rahmen der GmbH eine selbständige Tätigkeit auszuüben, unterliege dies, so der EuGH, Art. 12 Abs. 1 des Anhangs I FZA. Dem stehe nicht entgegen, dass der Kläger an der GmbH, in deren Rahmen er die selbständige Tätigkeit ausübt, zu 50 % beteiligt ist. Das Recht auf Niederlassung als Selbständiger im Sinne des FZA umfasse, mit Ausnahme der Erbringung von Dienstleistungen, jede Erwerbstätigkeit einer natürlichen Person, die nicht unter den Begriff des „Arbeitnehmers“ falle. Außerdem setze die wirksame Ausübung dieses Rechts die Möglichkeit voraus, die zu diesem Zweck geeignete Rechtsform zu wählen. Ein Staatsbürger einer Vertragspartei könne die aus dem FZA abgeleiteten Rechte auch gegenüber seinem eigenen Land geltend machen. Denn nach einer bereits im Zeitpunkt der Unterzeichnung des FZA bestehenden Rechtsprechung des EuGH solle das Niederlassungsrecht nicht nur die Inländerbehandlung im Aufnahmemitgliedstaat sicherstellen, sondern auch Behinderungen verbieten, die vom Herkunftsmitgliedstaat des betreffenden Staatsangehörigen ausgehen. Anderenfalls wäre die Freizügigkeit, die das FZA garantiert, beeinträchtigt, sollte der Staatsangehörige eines Vertragstaats in seinem Herkunftsland einen Nachteil allein deshalb erleiden, weil er sein Freizügigkeitsrecht ausgeübt hat. Im Ergebnis kann ein Selbständiger, der in den Anwendungsbereich des FZA fällt, hier der Kläger, den Grundsatz der Gleichbehandlung gemäß Art. 15 Abs. 2 des Anhangs I FZA in Verbindung mit Art. 9 dieses Anhangs auch gegenüber seinem Herkunftsstaat geltend machen.
59 
Dieser Grundsatz ist im Streitfall verletzt. Der Kläger hat sein Niederlassungsrecht als Selbständiger gemäß dem FZA ausgeübt. Im Vergleich zu anderen deutschen Staatsangehörigen, die, wie er, eine selbständige Tätigkeit im Rahmen einer Gesellschaft ausüben, an der sie Anteile halten, aber im Unterschied zu ihm ihren Wohnsitz in Deutschland beibehalten, erleidet er einen steuerlichen Nachteil. Die ersteren müssen die Steuer für latente Wertzuwächse der betreffenden Gesellschaftsanteile erst zahlen, wenn diese Wertzuwächse realisiert werden, d. h. bei der Veräußerung der Gesellschaftsanteile, während der Kläger die fragliche Steuer für die latenten Wertzuwächse solcher Gesellschaftsanteile bereits im Zeitpunkt der Verlegung seines Wohnsitzes in die Schweiz zahlen muss, ohne einen Zahlungsaufschub bis zur Veräußerung der Anteile erhalten zu können. Diese Wegzugsbesteuerung ohne Aufschub der Zahlung der geschuldeten Steuer ist ein Liquiditätsnachteil für den Kläger, der geeignet ist, ihn davon abzuhalten, von seinem Niederlassungsrecht gemäß dem FZA tatsächlich Gebrauch zu machen (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, „Wächtler“, HFR 2019, 439).
60 
Diese Ungleichbehandlung ist durch das FZA nicht gerechtfertigt. Weder Art. 21 Abs. 2 FZA noch Art. 21 Abs. 3 FZA berechtigen hierzu.
61 
Nach Art. 21 Abs. 2 FZA ist im Bereich der Steuern eine differenzierte Behandlung von Steuerpflichtigen zulässig, die sich, insbesondere hinsichtlich ihres Wohnsitzes, nicht in vergleichbaren Situationen befinden (EuGH, Urteil vom 21. September 2016 C-478/15, EU:C:2016:705, „Radgen“, Deutsches Steuerrecht - DStR - 2016, 2331). Der nationale Gesetzgeber hat sich gemäß § 6 AStG dazu entschieden, in Bezug auf die Wertzuwächse von Gesellschaftsanteilen deutscher Staatsangehöriger, die während deren unbeschränkter Steuerpflicht als steuerlich in Deutschland Ansässige entstanden sind, die Besteuerungsbefugnis unabhängig davon auszuüben, in welchem Hoheitsgebiet die Wertzuwächse entstanden sind. Ziel des Gesetzgebers ist es, die Wertzuwächse von Gesellschaftsanteilen, die im Rahmen der Besteuerungsbefugnis der Bundesrepublik Deutschland entstanden sind, zu besteuern. Allerdings ist die Situation eines Angehörigen eines Mitgliedstaats, der seinen Wohnsitz von Deutschland in die Schweiz verlegt, vergleichbar mit der eines Angehörigen eines Mitgliedstaats, der seinen Wohnsitz in Deutschland beibehält. Denn in beiden Fällen liegt die Befugnis, diese Wertzuwächse zu besteuern, bei der Bundesrepublik Deutschland, da diese Befugnis nach nationalem Recht an den steuerlichen Wohnsitz des Staatsangehörigen in ihrem Hoheitsgebiet während des Entstehungszeitraums dieser Wertzuwächse geknüpft ist, unabhängig vom Ort ihrer Entstehung (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, „Wächtler“, HFR 2019, 439). Art. 21 Abs. 2 FZA kommt daher nicht zur Anwendung.
62 
Nach Art. 21 Abs. 3 FZA hindert keine Bestimmung des FZA die Vertragsparteien daran, Maßnahmen zu beschließen, um nach Maßgabe der Bestimmungen der nationalen Steuergesetzgebung einer Vertragspartei oder der zwischen der Schweiz einerseits und einem oder mehreren Mitgliedstaaten andererseits geschlossenen DBA oder sonstiger steuerrechtlicher Vereinbarungen die Besteuerung sowie die Zahlung und die tatsächliche Erhebung der Steuern zu gewährleisten oder die Steuerflucht zu verhindern. Zu diesen zwingenden Gründen des Allgemeinwohls gehören somit die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den betreffenden Vertragsparteien des FZA, die Wirksamkeit der steuerlichen Kontrollen und die Notwendigkeit, zur Vermeidung von Steuermindereinnahmen eine wirksame Steuererhebung zu gewährleisten. Dabei müssen die aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls ergriffenen Maßnahmen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten. Zur Erreichung der Ziele müssen sie geeignet sein und dürfen nicht über das hinausgehen, was hierfür erforderlich ist (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, „Wächtler“, HFR 2019, 439, mit weiteren Nachweisen).
63 
Zwar ist im Streitfall die Bestimmung der Höhe der fraglichen Steuer im Zeitpunkt der Verlegung des Wohnsitzes in die Schweiz eine geeignete Maßnahme, um die Erreichung des Ziels in Bezug auf die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen der Schweiz und Deutschland sicherzustellen. Jedoch ist dieses Ziel keine Rechtfertigung dafür, dass ein Aufschub der Zahlung der geschuldeten Steuer unmöglich ist. Eine Stundung würde nicht dazu führen, dass Deutschland zu Gunsten der Schweiz auf die Befugnis der Besteuerung der Wertzuwächse verzichten würde, die während des Zeitraums der unbeschränkten Steuerpflicht des Klägers in Deutschland entstanden sind (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, „Wächtler“, HFR 2019, 439, mit weiteren Nachweisen).
64 
Auch geht die Wegzugsbesteuerung ohne Aufschub der Zahlung der geschuldeten Steuer über das hinaus, was zur Erreichung einer wirksamen steuerlichen Kontrolle nötig ist. Das DBA Schweiz sieht bspw. in Art. 27 die Möglichkeit eines Austauschs von Steuerinformationen zwischen den Vertragstaaten vor. Auf diese Weise kann Deutschland von den schweizerischen Behörden die notwendigen Informationen über die Veräußerung der Gesellschaftsanteile mit den in Rede stehenden latenten Wertzuwächsen erhalten (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, „Wächtler“, HFR 2019, 439).
65 
Schließlich wird die alsbaldige Einziehung der Steuer im Zeitpunkt der Verlegung des Wohnsitzes hinsichtlich des Ziels der Vermeidung von Steuermindereinnahmen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht gerecht. Ein Aufschub der Einziehung der Steuer kann ggf. von einer Sicherheitsleistung abhängig gemacht werden, insbesondere in Fällen, in denen ein Risiko der Nichteinziehung der geschuldeten Steuer besteht, da, wie hier mit der Schweiz, Mechanismen der gegenseitigen Unterstützung bei der Beitreibung von Steuerforderungen fehlen (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, „Wächtler“, HFR 2019, 439).
66 
Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass § 6 Abs. 4 AStG die Möglichkeit der Zahlung der Steuer in Teilbeträgen vorsieht, wenn die alsbaldige Einziehung der Steuer mit erheblichen Härten für den Steuerpflichtigen verbunden wäre. Abgesehen davon, dass diese Maßnahme der Ratenzahlung nur in diesem speziellen Fall möglich ist, ist sie nicht geeignet, in einem solchen Fall den Liquiditätsnachteil aufzuheben, den die Verpflichtung des Steuerpflichtigen darstellt, bereits im Zeitpunkt der Verlegung seines Wohnsitzes in die Schweiz einen Teil der für die latenten Wertzuwächse der betreffenden Gesellschaftsanteile geschuldeten Steuer zu zahlen. Zudem ist sie für den Steuerpflichtigen kostspieliger als die Stundung der Steuer bis zur Veräußerung der betreffenden Gesellschaftsanteile (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, „Wächtler“, HFR 2019, 439).
67 
Im Streitfall ist nicht erst das Leistungsgebot im Einkommensteuerbescheid für 2011 rechtswidrig, sondern bereits die unzweifelhaft mit Einspruch und Klage angefochtene Steuerfestsetzung. Nach dem für den Aussagegehalt bzw. die Deutung der Beantwortung der Vorlagefrage durch den EuGH bindenden Tenor der Entscheidung Wächtler vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, HFR 2019, 439, stehen die Bestimmungen des FZA nicht nur einer sofortigen Erhebung, also einer Wegzugsbesteuerung ohne Aufschub der Zahlung der geschuldeten Steuer, entgegen. Vielmehr benennt der EuGH in diesem Zusammenhang ausdrücklich ein Steuersystem, das eine solche Erhebung vorsieht. Hätte der EuGH die Entscheidung treffen wollen, dass lediglich die einschlägige Erhebungsregel gegen Bestimmungen des FZA verstoße, wie es der Beklagte behauptet, hätte er das in seinem Tenor entsprechend formuliert, dass der sofortigen Steuererhebung die Bestimmungen des FZA entgegenstehen. Stattdessen hat er entschieden, dass die Bestimmungen des FZA einem Steuersystem entgegenstehen, das eine sofortige Steuererhebung vorsieht. Die Vorlagefrage des Senats (FG Baden-Württemberg, Beschluss vom 14. Juni 2017 2 K 2413/15, EFG 2018, 18), ob die Bestimmungen des FZA einer Regelung entgegenstehen, nach der noch nicht realisierte Wertsteigerungen von Gesellschaftsanteilen ohne Aufschub der Zahlung der geschuldeten Steuer besteuert werden, hätte eine solche Antwort, dass allein der sofortigen Steuererhebung die Bestimmungen des FZA entgegenstehen, ermöglicht. Der EuGH geht jedoch „erst“ im Zusammenhang mit der Beschreibung des Steuersystems im Tenor bzw. am Ende der Urteilsbegründung auf die Steuererhebung ein.
68 
Beurteilungsgegenstand des EuGH ist demnach das „Steuersystem“. Ein System ist ein Gebilde, das aus mehreren Komponenten besteht. Im Rechtssinne kann ein Gebilde mehrerer Komponenten in einer oder mehreren Vorschrift(en) beschrieben bzw. normiert werden. So enthält § 6 AStG Komponenten der Festsetzung und der Erhebung. Letztere finden sich in der Teilbetragszahlungsregelung in § 6 Abs. 4 AStG, allerdings nur im Falle erheblicher Härten, und in § 6 Abs. 5 AStG bei Wegzug in das EU-/EWR-Ausland. Im Falle des Wegzugs in die Schweiz greift mangels einer Sonderregelung die einkommensteuerliche Erhebungsregelung des § 36 Abs. 4 Satz 1 EStG, wonach der Steuerpflichtige (Steuerschuldner), wenn sich nach der Abrechnung ein Überschuss zu seinen Ungunsten ergibt, diesen Betrag, soweit er den fällig gewordenen, aber nicht entrichteten Einkommensteuer-Vorauszahlungen entspricht, sofort, im Übrigen innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Steuerbescheids zu entrichten hat (Abschlusszahlung).
69 
Dies wird den Vorgaben des EuGH nicht gerecht. Das System der Wegzugsbesteuerung, das dieser in seiner Entscheidung Wächtler vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, HFR 2019, 439, als mit den Bestimmungen des FZA konform beschreibt, lässt zwar im Ergebnis die Feststellung der Höhe der Steuer im Wegzugszeitpunkt zu, verlangt aber zugleich eine dauerhafte Stundung der festgesetzten Steuer, ohne Liquiditätsnachteil für den Wegziehenden, bis zur tatsächlichen Realisation des Wertzuwachses der Gesellschaftsanteile, wobei die Stundung von einer Sicherheitsleistung abhängig gemacht werden kann. Im nationalen Recht existiert ein so beschriebenes Steuersystem nicht.
70 
Auch die mit BMF-Schreiben vom 13. November 2019 IV B 5 - S 1325/18/10001:001 2019/0995000, BStBl I 2019, 1212, geänderte Verwaltungspraxis wird den Vorgaben des EuGH nicht gerecht. Darin ist keine automatische, dauerhafte und zinslose Stundung vorgesehen.
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Im Ergebnis beruht die streitgegenständliche Steuerfestsetzung auf einem Steuersystem, das den Bestimmungen des FZA nicht gerecht wird, da die Normierung für den Fall der Wegzugsbesteuerung in die Schweiz ein Defizit aufweist. Damit ist sie rechtswidrig.
72 
Entgegen der Auffassung des Beklagten ist es nicht möglich, in die bestehenden nationalen Vorschriften die vom EuGH formulierten unionsrechtlichen Vorgaben hineinzulesen. Die vom Beklagten in diesem Zusammenhang genannte „geltungserhaltende Reduktion“ ist eine Form der Auslegung einer Rechtsvorschrift. Bei der Auslegung einer Norm darf sich das Gericht aber nicht aus der Rolle des Rechtsanwenders in die einer normersetzenden Instanz begeben, weswegen die Auslegung nicht in Widerspruch zum Willen des Gesetzgebers stehen darf (s. Bundesverfassungsgericht - BVerfG, Beschluss vom 27. März 2012 2 BvR 2258/19, BGBl I 2012, 1021). Den vom EuGH in seiner Entscheidung Wächtler vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, HFR 2019, 439, formulierten unionsrechtlichen Vorgaben steht das Regelungsgebilde des § 6 Abs. 1 AStG in Verbindung mit § 36 Abs. 4 Satz 1 EStG diametral entgegen. Im Falle des § 36 Abs. 4 Satz 1 EStG war es der Wille des Gesetzgebers, dass bei Nichtvorliegen einer speziellen Erhebungsvorschrift die Einkommensteuer im Streitfall innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Einkommensteuerbescheids zu zahlen ist. Dagegen erklärte der EuGH, dass das System der Festsetzung der Wegzugsteuer, bei Wegzug in die Schweiz, ohne eine unmittelbar erfolgende dauerhafte Stundung, die einen Liquiditätsnachteil verhindert, nicht den Bestimmungen des FZA entspricht. So wie die Unionsrechtskonformität der Wegzugsbesteuerung im Falle des Wegzugs in das EU-/EWR-Ausland nach § 6 Abs. 1 nur in systematischem Zusammenhang mit § 6 Abs. 5 AStG beurteilt bzw. erreicht werden kann (Strunk/Kaminski in: Strunk/Kaminski/Köhler, AStG/DBA, Stand: 1/2020, § 6 AStG Rn. 236), so kann die Wegzugsbesteuerung im Falle des Wegzugs in die Schweiz nur in systematischem Zusammenhang mit einer fehlenden antragslosen, dauerhaften, zinslosen Stundung beurteilt werden. Letztere steht, entgegen der Auffassung des Beklagten, an sich gerade nicht im Einklang mit den Bestimmungen des FZA. Zwar ist sie eine geeignete Maßnahme, um die Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen der Schweiz und Deutschland zu wahren, was nach der Rechtsprechung des EuGH einem zwingenden Grund des Allgemeinwohls entspricht. Allerdings wahrt sie nicht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Denn das Ziel der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen der Schweiz und Deutschland ist keine Rechtfertigung für eine Besteuerung ohne Aufschub der Zahlung der geschuldeten Steuer. Im Streitfall erfolgte die Steuerfestsetzung nach § 6 Abs. 1 AStG. Dieser folgte nach § 36 Abs. 4 Satz 1 EStG unmittelbar und von Amts wegen die Erhebung ohne Aufschub. Somit fehlt der Steuerfestsetzung ein Element bzw. ein Mechanismus, durch den die Maßnahme nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des tauglichen Rechtfertigungsgrundes erforderlich ist. Nötig wäre eine dauerhafte und zinslose Stundung, die unmittelbar und von Amts wegen der Festsetzung folgt, wie sie etwa § 6 Abs. 5 AStG für andere Fallkonstellationen vorsieht. Ein solcher Mechanismus fehlt im nationalen Recht.
73 
Folgte man der Argumentation des Beklagten und würde man den Kläger isoliert auf das Erhebungsverfahren verweisen, hätte das zur Folge, dass sich der Kläger um eine verzinsliche Stundung nach § 222 AO bemühen müsste, die als Ermessensentscheidung grundsätzlich bei einer persönlichen Härte und in der Regel auf Antrag erfolgt. Ohne Vorliegen einer persönlichen Härte gewährt die Finanzverwaltung zwar inzwischen alternativ eine Stundung durch das BMF-Schreiben vom 13. November 2019 IV B 5 – S 1325/18/10001:001 2019/0995000, BStBl I 2019, 1212, dem Rechtsgedanken des § 6 Abs. 4 AStG entsprechend. Allerdings erfolgt auch bei dieser vom Beklagten favorisierten Vorgehensweise zunächst eine Steuerfestsetzung mit sofortiger Fälligkeit der Steuer, der sich der Kläger gegenübersieht. Bereits damit hat er einen Liquiditätsnachteil, da diese Fälligkeit der Steuerforderung verschiedenste Konsequenzen für den Steuerschuldner hat. So hat das fruchtlose Verstreichenlassen des Fälligkeitstermins für ihn in unterschiedlichen Zusammenhängen rechtliche Nachteile zur Folge. Wird eine Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages entrichtet, so entstehen für jeden angefangenen Monat der Säumnis Säumniszuschläge in Höhe von 1 % des abgerundeten rückständigen Steuerbetrags (§ 240 Abs. 1 Satz 1 AO). Daneben ist die Fälligkeit neben dem Leistungsgebot gemäß § 254 Abs. 1 Satz 1 AO eine Voraussetzung für den Beginn der Vollstreckung. Auch kann die Finanzbehörde nur mit fälligen Steuerforderungen gegen Erstattungs-       oder Vergütungsansprüche des Steuerpflichtigen aufrechnen (§ 226 AO in Verbindung mit §§ 387 ff. Bürgerliches Gesetzbuch) und den Anspruch auf diese Weise durch eine einseitige Erklärung zum Erlöschen bringen. Erst nach Bearbeitung und möglicher Bewilligung des Stundungs- bzw. Ratenzahlungsantrags würde sich die Liquidationslage des Klägers verbessern, allerdings auch nicht in dem Maße, wie es der EuGH fordert, so dass die Festsetzung der Wegzugsteuer verhältnismäßig und damit gerechtfertigt wäre. Bei einem isolierten Begehren günstigerer Erhebungsbedingungen kann der Kläger im Ergebnis keine Bedingungen erreichen, unter denen sein Niederlassungsrecht nicht ungerechtfertigt eingeschränkt würde.
74 
2. Nachdem sich die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt haben, hält es der Senat für sachgerecht, gemäß § 90 a Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne mündliche Verhandlung im Wege des Gerichtsbescheids zu entscheiden.
75 
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
76 
4. Die Klägerseite beantragte, die Zuziehung des Bevollmächtigten zum Vorverfahren für notwendig zu erklären. Dem Verfahren lag ein Sachverhalt zugrunde, der in rechtlicher Hinsicht nicht von vornherein als einfach zu beurteilen war. Die Klägerseite durfte sich daher eines Rechtskundigen bedienen, um eine erfolgversprechende Rechtsverfolgung zu erreichen. Der Senat hält hiernach die Zuziehung des Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig (§ 139 Abs. 3 Satz 3 FGO).
77 
5. Der Ausspruch der vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 709, 711 Zivilprozessordnung.
78 
6. Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO). Die Folgen der Anwendung des EuGH-Urteils vom 26. Februar 2019 C-581/17, EU:C:2019:138, „Wächtler“, HFR 2019, 439, auf nationaler Ebene werden nicht einheitlich gesehen. Vielmehr werden unterschiedliche, entgegengesetzte Konsequenzen gezogen (s. bspw. Finanzverwaltung im BMF-Schreiben vom 13. November 2019 IV B 5 - S 1325/18/10001:001 2019/0995000, BStBl I 2019, 1212, auf der einen Seite und die in der Literatur geäußerten Auffassungen, bspw. Escher/Grzella, BB 2020, 540; Kahlenberg, IStR 2020, 378; Hörnicke/Quilitzsch, IStR 2020, 152; Weiss, EStB 2019, 117; Strunk/Kaminski in: Strunk/Kaminski/Köhler, AStG/DBA, Stand: 1/2020, § 6 AStG Rn. 95.1; Häck in: Flick/Wassermeyer/Baumhoff u. a., Außensteuerrecht, Stand: 5/2020, § 6 AStG Rn. 531, auf der anderen Seite.

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