Urteil vom Finanzgericht Düsseldorf - 3 K 744/20 KV
Tenor
Es wird festgestellt, dass die den Kläger betreffenden Pfändungs- und Einziehungsverfügungen vom 05.06.2019 (Az.: 1470/19), 16.12.2019 (Az.: 2941/19), 24.01.2020 (Az.: 267/20) und 28.01.2020 (Az.: 325/20) und die die Klägerin betreffende Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 24.01.2020 (Az.: 268/20) rechtswidrig waren.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Kläger und der Beklagte je zur Hälfte.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Kläger abwenden, soweit nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
1
Tatbestand:
2Streitig ist, ob die Rechtswidrigkeit von sechs Pfändungs- und Einziehungsverfügungen festzustellen ist.
3Am 05.06.2019 richtete der Beklagte zwei Pfändungs- und Einziehungsverfügungen an die A Bank, mit denen er wegen Rückständen i.H.v. 1.649,61 € sämtliche Konten und Ansprüche des Klägers (Az. 1470/19) bzw. der Klägerin (Az. 1473/19) aus der Geschäftsbeziehung zu dem Bankinstitut pfändete. Bezüglich der Klägerin teilte die A Bank mit, dass es keine Geschäftsbeziehung gebe. Bezüglich des Klägers erkannte die Bank die Pfändung an und zahlte den gepfändeten Betrag am 08.07.2019 an den Beklagten aus. Die Pfändungs- und Einziehungsverfügung 1470/19 wurde daraufhin am 09.07.2019 aufgehoben.
4Am 16.12.2019 (Az. 2941/19) wurden die Konten des Klägers bei der A Bank erneut gepfändet, und zwar wegen Steuerrückständen i.H.v. 4.031,59 € (im Wesentlichen bestehend aus Säumniszuschlägen zur Einkommensteuer 2001). Der Kläger erhob hiergegen am 07.01.2020 Sprungklage, die als Einspruch behandelte wurde. Am 27.01.2020 zahlte die Drittschuldnerin den offenen Betrag an den Beklagten, woraufhin der Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 13.05.2020 als unzulässig verworfen wurde.
5Mit Pfändungs- und Einziehungsverfügungen vom 24.01.2020 pfändete der Beklagte auch sämtliche Konten und Ansprüche aus der Geschäftsbeziehung des Klägers zu der B Bank (Az. 267/20) bzw. aus der Geschäftsbeziehung der Klägerin zu der C Bank (Az. 268/20), und zwar jeweils wegen Steuerrückständen i.H.v. 5.821,59 €. In diesem Betrag sind die Steuerschulden, die Gegenstand der gegenüber der A Bank ergangenen Pfändungs- und Einziehungsverfügung 2941/19 waren, enthalten. Die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen 267/20 und 268/20 erledigten sich dadurch, dass die A Bank – wie bereits dargestellt – am 27.01.2020 4.031,59 € an den Beklagten überwies und der Restbetrag von der Tochter der Kläger überwiesen wurde (1.756 € am 28.01.2020 und 64,11 € am 11.02.2020). Auch gegen die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen 267/20 und 268/20 hatten die Kläger Sprungklagen erhoben, welche als Einspruch behandelt und mit Einspruchsentscheidungen vom 13.05.2020 als unzulässig verworfen wurden.
6Am 28.01.2020 (Az. 325/20) pfändete der Beklagte erneut die Konten des Klägers bei der A Bank, und zwar diesmal wegen Steuerrückständen i.H.v. 893,11 €. Es handelt sich hierbei um Aussetzungszinsen zur Einkommensteuer / Solidaritätszuschlag 2001, welche bis zum 05.12.2019 zu entrichten waren. Die Zahlung war mit Schreiben vom 23.12.2019 angemahnt worden; eine Vollstreckungsankündigung erging nicht. Die Pfändungs- und Einziehungsverfügung erledigte sich dadurch, dass die Tochter der Kläger am 07.02.2020 893,11 € an den Beklagten überwies. Der eingelegte Einspruch wurde als unzulässig verworfen.
7Weder die o.g. sechs Pfändungs- und Einziehungsverfügungen noch die entsprechenden Mitteilungen an die Kläger enthalten Ermessenserwägungen. Solche ergeben sich auch nicht aus den übersandten Akten.
8Am 25.03.2020 haben die Kläger Klage erhoben, mit der sie die Rechtswidrigkeit der o.g. sechs Pfändungs- und Einziehungsverfügungen rügen. Im Wege einer Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO werde die Feststellung von deren Rechtswidrigkeit beantragt. Zudem seien sämtliche rechtswidrig eingezogenen Zinsen und Säumniszuschläge, die sich in der Summe auf 6.518,48 € belaufen würden, zu erstatten.
9Zu der zum Az. 1473/19 ergangenen Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 05.06.2019 sei anzumerken, dass diese nicht „ins Leere gegangen“ sei. Vielmehr habe “die Drittschuldnerin Bank A dem Beklagten aufgrund dieser Pfändung den durch diesen gepfändeten Betrag ausgezahlt“ (Zitat aus dem Schriftsatz der Kläger vom 05.07.2022). Ein Feststellungsinteresse sei schon deshalb zu bejahen, weil der Beklagte die Kosten einer rechtswidrigen Pfändungs- und Einziehungsverfügung zu tragen habe.
10Die Rechtswidrigkeit der einzelnen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen ergebe sich u.a. daraus, dass es für die in der jeweiligen „Rückstandsaufstellung“ genannten Einzelbeträge an Säumniszuschlägen und Zinsen keine Bescheide als Rechtsgrundlage gebe. Außerdem habe der Beklagte die Konten, die mit den streitgegenständlichen Pfändungs- und Einziehungsverfügung gepfändet worden seien, durch einen rechtswidrigen Kontenabruf nach § 93 b AO ermittelt, und teilweise seien vor der Pfändung keine Mahnungen oder Vollstreckungsankündigungen versendet worden. Hinsichtlich der Einzelheiten der Begründung der Kläger sowie zu der Berechnung des Betrags von 6.518,48 € wird auf die Ausführungen in der Klageschrift und im Schriftsatz vom 05.07.2022 Bezug genommen.
11Der zur mündlichen Verhandlung nicht erschienene Kläger beantragt,
12festzustellen, dass die ihn betreffenden Pfändungs- und Einziehungsverfügungen vom 05.06.2019, 16.12.2019, 24.01.2020 und 28.01.2020 rechtswidrig sind
13sowie den Beklagten zu verpflichten, den aufgrund der o.g. Pfändungs- und Einziehungsverfügungen bereits eingezogenen Betrag von 6.518,48 € an ihn zu erstatten.
14Die ebenfalls zur mündlichen Verhandlung nicht erschienene Klägerin beantragt,
15festzustellen, dass die sie betreffenden Pfändungs- und Einziehungsverfügungen vom 05.06.2019 und 24.01.2020 rechtswidrig sind.
16Der Beklagte beantragt,
17die Klage abzuweisen.
18Er ist der Auffassung, dass die Klage bereits unzulässig sei, da es an einem besonderen Feststellungsinteresse fehle. Zudem sei die Klage auch unbegründet. Die streitgegenständlichen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen seien rechtmäßig ausgesprochen.
19Insbesondere sei es unschädlich, dass weder die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen noch die hierzu ergangenen internen Verfügungen Ermessenserwägungen enthalten würden. Solche seien nicht erforderlich gewesen, da die Kläger sowohl Kenntnis von den Steuerrückständen als auch von der Möglichkeit von Vollstreckungsmaßnahmen bei Nichtzahlung gehabt hätten. Zudem habe sich die ausdrückliche Darlegung von Ermessenserwägungen schon deshalb erübrigt, weil er – der Beklagte – „sich bewusst für das mildeste Instrument einer Pfändungs- und Einziehungsverfügung entschieden habe“ (Zitat aus Schriftsatz vom 22.06.2022). Eine Kontenpfändung sei für den Vollstreckungsschuldner deutlich weniger belastend als z.B. die Pfändung von Arbeitseinkommen oder die Pfändung von Bauspar- und Lebensversicherungen.
20Auch habe keine Verpflichtung bestanden, vor der Vollstreckung Mahnungen und Vollstreckungsankündigungen zu versenden. Eine Mahnung sei keine unerlässliche Voraussetzung der Vollstreckung und berühre daher die Wirksamkeit einer Vollstreckungsmaßnahme nicht (BFH, Urteil vom 04.10.1983 – VII R 16/82 und vom 03.02.1970 – VII R 67/67). § 259 AO bestimme lediglich, dass der Vollstreckungsschuldner in der Regel vor Beginn der Vollstreckung mit einer Zahlungsfrist von einer Woche gemahnt werden solle (Ermessensvorschrift). Ebenso wenig gebe es eine gesetzliche Regelung, die die Versendung einer Vollstreckungsankündigung vor Einleitung der Vollstreckung verlange. Insbesondere finde § 63 des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (VwVG NRW) keine Anwendung, da die getroffene Beitreibungsmaßnahme kein Zwangsmittel i.S.d. § 57 VwVG NRW sei. Zweck einer Vollstreckungsankündigung sei es, die Ernsthaftigkeit der Situation zu verdeutlichen. Sie könne von der Vollstreckungsstelle ausgebracht werden, wenn damit zu rechnen sei, dass der Schuldner daraufhin leisten werde. Da die Kläger bereits auf die Mahnungen vom 23.09.2019 und 15.11.2019 sowie die Vollstreckungsankündigung vom 28.10.2019 nicht vollständig gezahlt hätten, erscheine es ermessensgerecht, Beitreibungsmaßnahmen auch ohne weitere Mahnung und Vollstreckungsankündigung auszubringen.
21Dem stehe auch nicht der von den Klägern herangezogene Grundsatz der „Selbstbindung der Verwaltung“ entgegen, und zwar schon deshalb nicht, weil er – der Beklagte – keinesfalls stets Vollstreckungsankündigungen versende, sondern hiervon in geeigneten Fällen auch Ausnahmen mache. Auch wenn die Kläger früher Mahnungen und Vollstreckungsankündigungen erhalten hätten, könnten sie hieraus keinen Vertrauensschutz ableiten, da derjenige, der sich fortgesetzt weigere, fällige Beträge zu bezahlen, damit rechnen müsse, dass das Finanzamt zukünftig vom Versenden zusätzlicher Mahnungen und Vollstreckungsankündigungen absehen werde.
22Die Verpflichtung des Finanzamts, die Steuern nach Maßgabe der Gesetze gleichmäßig zu erheben (§ 85 Satz 1 AO), erfordere eine konsequente Vollstreckung. Es seien daher zeitnah alle möglichen Vollstreckungsmaßnahmen zu ergreifen, die geeignet seien, den angestrebten Erfolg – d.h. die zumindest teilweise Tilgung der Rückstände - zu erreichen. Dabei es auch zulässig, mehrere Vollstreckungsmaßnahmen gleichzeitig zu ergreifen (Abschn. 23 Abs. 3 Satz 1 der Vollstreckungsanweisung -VollstrA-).
23Rechtsgrundlage für das im Januar 2020 durchgeführte Kontenabrufersuchen sei § 93 Abs. 7 Satz 1 Nr. 4 AO. Ein vorheriges Auskunftsersuchen an die Kläger sei nicht erfolgversprechend gewesen und hätte die Vollstreckungsmaßnahmen möglicherweise sogar gefährdet.
24Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten der Begründung und der Ermessenserwägungen wird auf die Schriftsätze des Beklagten vom 13.05.2020 und 22.06.2022 Bezug genommen.
25Entscheidungsgründe:
26A. Das Gericht war durch das Nichterscheinen der Kläger zur mündlichen Verhandlung nicht an einer Entscheidung gehindert. Hinsichtlich der Einzelheiten der Begründung wird zwecks Vermeidung von Wiederholungen auf die Begründung im Urteil vom 22.07.2022 zum Parallelverfahren 3 K 2405/19 E Bezug genommen.
27B. Die auf Erstattung der eingezogenen bzw. freiwillig gezahlten Säumniszuschläge und Zinsen gerichtete Klage hat keinen Erfolg.
28Ist eine Steuer ohne rechtlichen Grund gezahlt worden, so hat derjenige, auf dessen Rechnung die Zahlung bewirkt worden ist, an den Leistungsempfänger einen Anspruch auf Erstattung des gezahlten Betrages (§ 37 Abs. 2 Satz 1 AO). Ohne rechtlichen Grund gezahlt ist eine Steuer, wenn der rechtliche Grund entweder von Anfang an fehlt oder später wegfällt (§ 37 Abs. 2 Satz 2 AO).
291) Unabhängig davon, ob die Voraussetzungen eines Erstattungsanspruchs im Streitfall vorliegen, fehlt es jedenfalls an den formalen Voraussetzungen für dessen Geltendmachung. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH kann eine auf Zahlung gerichtete Leistungsklage nur dann Erfolg haben, wenn der Auszahlungsanspruch zuvor aufgrund eines abgeschlossenen Vorverfahrens durch Verwaltungsakt – nämlich durch einen Bescheid i.S. des § 218 Abs. 1 AO - festgesetzt worden ist und nur dessen Verwirklichung (Erfüllung) noch aussteht (z.B. Urteil vom 12.06.1986 - VII R 103/83, BStBl II 1986, 702, Beschluss vom 21.02.1992 – V B 75/91, BFH/NV 1992, 678 m.w.N., Urteil vom 30.11.1999 – VII R 97/98, BFH/NV 2000, 412, Beschluss vom 10.05.2007 – VII B 195/06, juris). Im Streitfall existiert jedoch kein Bescheid, in dem festgestellt wird, dass der Kläger – wie von ihm geltend gemacht wird - gegen den Beklagten einen Anspruch auf (Rück)Zahlung von Säumniszuschlägen und Zinsen i.H.v. 6.518,48 € hat.
302) Der Leistungsantrag hat auch unter dem Gesichtspunkt der Folgenbeseitigung (Rückgängigmachung der durch die Vollstreckungsmaßnahme bewirkten Vermögensverschiebung) keinen Erfolg. Insoweit ist zu beachten, dass für die Beantwortung der Frage, ob eine Zahlung ohne rechtlichen Grund i.S.d. § 37 Abs. 2 AO erfolgt ist, nicht auf die Pfändungs- und Einziehungsverfügung abzustellen ist, sondern die der Pfändung zugrundeliegenden Steuerbescheide (bzw. - bei den kraft Gesetzes entstehenden Säumniszuschlägen - die Vorschrift des § 240 AO) den Grund für das Behaltendürfen der eingezogenen Gelder darstellen. Deshalb ist der Erstattungsanspruch auch dann durch Abrechnungsbescheid i.S.d. § 218 Abs. 2 AO festzustellen, wenn Gelder durch eine rechtswidrige Vollstreckungsmaßnahme erlangt worden sind. Eine Ausnahme hiervon gilt nur dann, wenn die Vollstreckungsmaßnahme gegen ein Pfändungs- und Vollstreckungsverbot verstoßen hat. In diesem Fall muss das Finanzamt das Erlangte an den Vollstreckungsschuldner herausgeben, da das Vollstreckungsverbot anderen falls keinerlei Schutzwirkung für den dadurch unmittelbar oder mittelbar begünstigten Vollstreckungsschuldner entfalten könnte (BFH, Beschluss vom 11.04.2001 – VII B 304/00, BStBl II 2001, 525).
31Nach diesen Grundsätzen kann der Kläger die Rückzahlung der vom Beklagten vereinnahmten Summe von 6.518,48 € nicht als Folgenbeseitigung beanspruchen. Denn weder rügt er einen Verstoß gegen ein Pfändungs- und Vollstreckungsverbot noch ist ein solcher Verstoß anderweitig ersichtlich. Die „einfache“ Rechtswidrigkeit einer Pfändungs- und Einziehungsverfügung reicht - wie dargestellt - nicht aus, um eine von der (Steuer)Bescheidlage losgelöste Rückzahlungspflicht der Vollstreckungsbehörde zu begründen.
32C. I. Soweit die Kläger die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Pfändungs- und Einziehungsverfügungen begehrt wird, ist die Klage - außer betreffend die zum Az. 1473/19 ergangene Pfändungs- und Einziehungsverfügung (hierzu unter 2) - zulässig.
331) Dadurch, dass die Steuerforderungen, aufgrund derer die Vollstreckung betrieben wurde, durch freiwillige Zahlungen bzw. Drittschuldnerzahlungen erloschen sind, haben sich die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen erledigt. Erledigte Verwaltungsakte können (zulässig) weder mit dem Einspruch noch mit einer Anfechtungsklage angefochten werden. Tritt die Erledigung bereits während des außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens oder – bei noch laufender Einspruchsfrist – sogar schon vor der Einspruchseinlegung ein, kann mit einer Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO die Feststellung der Rechtswidrigkeit des erledigten Verwaltungsakts begehrt werden (z.B. BFH, Beschluss vom 11.04.2001 – VII B 304/00, BStBl II 2001, 525). Lediglich dann, wenn der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Erledigung bereits bestandskräftig gewesen war oder ein Einspruch aus anderen Gründen nicht (mehr) zulässig gewesen wäre, ist eine Fortsetzungsfeststellungsklage ausgeschlossen. Im Streitfall war im Zeitpunkt der jeweiligen Erledigung noch keine Bestandskraft eingetreten. Gegen die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen 2941/19, 267/20, 268/20 und 325/20 wurde fristgerecht Einspruch eingelegt und bezüglich der Pfändungs- und Einziehungsverfügung 1470/19 war die Einspruchsfrist im Zeitpunkt der Erledigung noch nicht abgelaufen.
34Bei vorprozessualer Erledigung eines vor Eintritt der Bestandskraft unwirksam gewordenen Verwaltungsaktes unterliegt die Fortsetzungsfeststellungsklage keiner Klagefrist (vgl. BFH, Urteil vom 24.02.1989 - III R 36/88, BStBl II 1989, 445). Sie ist gemäß § 100 Abs. 1 S. 4 FGO jedoch nur zulässig, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit eines zurückgenommenen oder anders erledigten Verwaltungsaktes hat. Für das berechtigte Interesse genügt jedes konkrete, vernünftigerweise anzuerkennende schutzwürdige Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art. Bei hoheitlichen Maßnahmen wie z.B. Pfändungs- und Einziehungsverfügungen, die nicht unwesentlich in den Grundrechtsbereich des Betroffenen eingreifen, sich aber typischerweise kurzfristig erledigen, ist das besondere Feststellungsinteresse regelmäßig zu bejahen. Denn ansonsten wäre eine gerichtliche Überprüfung der Maßnahme und eine Beseitigung ihrer Folgen in der von der Prozessordnung gegebenen Instanz kaum möglich, was einen mit Art. 19 Abs. 4 GG nicht zu vereinbarenden Ausschluss jeglichen Rechtsschutzes zur Folge hätte (vgl. BFH, Urteil vom 11.12.2007 – VII R 52/06, BFH/NV 2008, 749). Entsprechend dieser Grundsätze ist auch im Streitfall das besondere Feststellungsinteresse zu bejahen. Hinzu kommt, dass der Beklagte regelmäßig – auch über den Streitfall hinaus – Konten der Kläger pfändet und somit Wiederholungsgefahr besteht.
352) Ungeachtet dessen ist die Klage unzulässig, soweit sie die mit Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 05.06.2019 erfolgte Pfändung von Konten der Klägerin bei der A Bank (Az.: 1473/19) betrifft. Da die Klägerin mit dieser Bank keine Geschäftsbeziehung unterhielt, ist die Pfändung ins Leere gegangen. Soweit die Kläger mit Schriftsatz vom 06.07.2022 das Gegenteil behaupten – nämlich, dass die Pfändung nicht ins Leere gegangen sei, sondern die Bank den gepfändeten Betrag ausgezahlt habe – wird dieser Vortrag durch das Schreiben der A Bank vom 02.07.2019 widerlegt. Darin weist die Bank die Pfändung „mangels Geschäftsbeziehung“ zur Klägerin ausdrücklich zurück.
36Durch eine ins Leere gegangene Pfändung wird der Vollstreckungsschuldner nicht beschwert. Bezogen auf den Streitfall hat dies zur Folge, dass die Klägerin gegen die Pfändungs- und Einziehungsverfügung 1473/19 keinen (zulässigen) Einspruch einlegen konnte und deshalb auch keine (zulässige) Fortsetzungsfeststellungsklage erhoben werden konnte. Eine Fortsetzungsfeststellungsklage ist nur statthaft, wenn gegen den Verwaltungsakt vor dessen Erledigung zulässig Einspruch/Klage eingelegt/erhoben wurde oder – bei Wegdenken der Erledigung – noch zulässig hätte eingelegt/erhoben werden können.
37II. Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist – soweit sie zulässig ist – auch begründet.
38Die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen 1470/19, 2941/19, 267/20, 268/20 und 325/20 sind rechtswidrig. Dabei kann dahinstehen, ob die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen der §§ 249, 251, 254 AO vorlagen. Denn es fehlt zumindest an einer ordnungsgemäßen Ermessensausübung.
391) Wenngleich es zweifelhaft ist, ob den Finanzbehörden für das „Ob“ der Vollstreckung ein Ermessen eingeräumt ist (vgl. hierzu BFH, Urteil vom 22.10.2002 - VII R 56/00, BStBl II 2003, 109, unter 3 b), so liegt gleichwohl die Entscheidung über die weiteren Fragen des „Wann“ und des „Wie“ der Vollstreckung im pflichtgemäßen Ermessen der Finanzbehörden; dabei ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Ist - wie im Bereich der Auswahl zwischen verschiedenen möglichen Vollstreckungsmaßnahmen nach § 249 AO - für die Finanzbehörde ein Ermessensspielraum eröffnet, so hat sie nach § 5 AO das Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Die Behörde muss ihre Maßnahmen in jedem Einzelfall auf das unumgänglich Notwendige beschränken und prüfen, welche der zur Erreichung des verfolgten Zwecks geeigneten Maßnahmen den Betroffenen am wenigsten belasten (BFH, Urteil vom 24.09.1991 - VII R 34/90, BStBl II 1992, 57).
40Damit der Betroffene und gegebenenfalls die Gerichte die Ermessenserwägungen der Finanzbehörde überprüfen können, muss eine Ermessensentscheidung grundsätzlich begründet werden. Die Begründung muss zeigen, dass die Finanzbehörde den Ermessensspielraum erkannt hat und von welchen Gesichtspunkten sie bei ihrer Ermessensentscheidung ausgegangen ist. Zwar ist unter den Voraussetzungen des § 121 Abs. 2 AO oder in Fällen, in denen die Ermessenserwägungen dem Betroffenen bereits bekannt sind, eine Begründung der Entscheidung nicht erforderlich. Daneben ist in bestimmten Bereichen des den Finanzbehörden eingeräumten Ermessens wie z.B. der Anordnung von Außenprüfungen die Ermessensentscheidung in einer Weise vorgeprägt, die eine besondere Begründung in der Regel entbehrlich macht. Der Bereich der Vollstreckung nach den Vorschriften der §§ 249 ff. AO zählt hierzu jedoch nicht (vgl. zu allem Niedersächsisches Finanzgericht, Beschluss vom 25.07.2014 – 15 V 164/14, EFG 2014, 1838).
412) Nach diesen Grundsätzen waren die angefochtenen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen rechtswidrig, weil der Beklagte bei deren Erlass bzw. Änderung nicht diejenigen Erwägungen dargelegt hat, die der Auswahl und den Zeitpunkt der Vollstreckungsmaßnahme zugrunde lagen. Insbesondere enthalten die Mitteilungen, mit denen der Beklagte die Kläger über den Erlass von Pfändungs- und Einziehungsverfügungen gegenüber dem einzelnen Banken unterrichtet hat, keine Ermessenserwägungen. Aus den vorliegenden Akten ist nicht einmal erkennbar, ob dem Sachbearbeiter des Beklagten überhaupt bewusst war, dass er Ermessen auszuüben hatte. Es liegt damit ein Fall des sog. Ermessensnichtgebrauchs vor.
423) Der Beklagte war auch nicht berechtigt, die Ermessenserwägungen im Klageverfahren nachzuholen. Eine Ergänzung von Ermessenserwägungen nach § 102 Satz 2 FGO ist nur möglich, solange der Verwaltungsakt noch wirksam ist, und kommt deshalb bei einer Fortsetzungsfeststellungsklage nicht in Betracht (BFH, Urteil vom 17.01.2017 – VIII R 52/14, BStBl II 2018, 740). Ungeachtet dessen würden die vom Beklagten im Schriftsatz vom 22.06.2022 dargelegten Ermessenserwägungen einer gerichtlichen Prüfung auch nicht standhalten, da es sich bei der Pfändung in Bankkonten keinesfalls um „die mildeste Form einer Pfändungs- und Einziehungsverfügung“ handelt. Vielmehr stellt diese Art der Zwangsvollstreckung aufgrund der hierdurch typischerweise ausgelösten Folgen (u.a. Kündigung des Vertragsverhältnisses durch die Bank, Minderung der Kreditwürdigkeit des Vollstreckungsschuldners wegen Meldung an die SchuFa, Gefährdung sonstiger Vertragsverhältnisse durch Zahlungsverzug) regelmäßig die den Vollstreckungsschuldner am meisten belastende Form der Zwangsvollstreckung dar.
43Im Streitfall gilt dies in besonderem Maße bei Vergleich mit der – vom Beklagten in keiner Weise in Betracht gezogenen – Möglichkeit der Pfändung der erheblichen Pensions- und Rentenansprüche, welche für die Kläger (außer der Minderung der an sie ausgezahlten Leistungen) keine weiteren Folgen gehabt hätte. Soweit der Beklagte im Klageverfahren darauf verweist, dass Lohnpfändungen bei Arbeitnehmern die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber zur Folge haben könnten, vermag dies selbst bei aktiven Arbeitsverhältnissen angesichts weitgreifender Kündigungsschutzvorschriften kaum zu überzeugen. Bei Rentnern bzw. Pensionären kann es zu der vom Beklagten „befürchteten“ Kündigung schon deshalb nicht kommen, weil der Versorgungsträger kein Kündigungsrecht hat.
44D. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO.
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