Beschluss vom Finanzgericht Hamburg (2. Senat) - 2 V 55/17

Tatbestand

I.

1

Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen Hinzuschätzungen nach erfolgter Außenprüfung.

2

In den Streitjahren 2012 bis 2014 vertrieb der Antragsteller als Einzelunternehmer auf diversen Wochen- und Flohmärkten in Hamburg und ... sowie zur Weihnachtszeit auf Hamburger Weihnachtsmärkten im Rahmen eines Reisegewerbes Textilien. Seinen Gewinn ermittelte der Antragsteller gemäß § 4 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) mittels Einnahmenüberschussrechnung (EÜR). Ein Kassenbuch über seine täglichen Bareinnahmen führte er ebenso wenig wie Kassenberichte oder ähnliche Aufzeichnungen. Der Steuerberater des Antragstellers erfasste die Bareinnahmen als "Sammelbuchungen" jeweils zum Monatsende (2012), zum Jahresende (2013) bzw. zum 30. Juni, 30. September und 31. Dezember (2014). Der Antragsteller führte für die Streitjahre sogenannte Umsatzsteuerhefte gemäß § 22 Abs. 5 des Umsatzsteuergesetzes (UStG), in denen er unter Abschnitt 1 unter dem jeweiligen Tagesdatum seine Umsatzerlöse notierte und in Abteilung 2 die von ihm bezogenen Eingangsleistungen aufführte. Für die Streitjahre ermittelte der Antragsteller folgenden Gewinn aus Gewerbebetrieb, welchen er auch seinen Erklärungen zur Einkommenssteuer, zur Gewerbesteuer und zur Umsatzsteuer zugrunde legte:

3
        

 2012

 2013

 2014

Einnahmen (netto)

... €

... €

... €

Wareneinkauf (netto)

.. €

... €

... €

Gewinn

... €

... €

... €

4

Der Antragsgegner führte beim Antragsteller für die Streitjahre eine Außenprüfung durch. Die Prüferin forderte dabei den Antragsteller unter anderem zur Vorlage von in den Streitjahren verwendeten Preislisten auf. Diesem kam der Antragsteller mit dem Hinweis nicht nach, solche Preislisten seien nicht vorhanden. Preise würden vielmehr tagesaktuell unter Berücksichtigung der Preise der Konkurrenz festgesetzt. Oftmals sei Ware zum Einkaufspreis abgegeben worden. Zudem sei Ware durch Beschädigung unverkäuflich geworden.

5

In ihrem Prüfungsbericht vertrat die Prüferin die Auffassung, dass mangels täglicher Kassenaufzeichnung im Sinne eines retrograden Kassenberichtes die Buchführung des Antragstellers nicht ordnungsgemäß und daher der Gewinn aus Gewerbebetrieb zu schätzen sei. Die Schätzung nahm die Prüferin mithilfe externer Vergleichszahlen vor. Dazu ermittelte sie zunächst anhand des Wareneinkaufs des Antragstellers für 2014 die von ihm bezogenen einzelnen Produkte nach Art, Menge und Einkaufspreis. Zu Ermittlung möglicher Verkaufspreise besuchte sie am 28. September 2016 den Wochenmarkt in Hamburg-A. Unter Sichtung des Textilangebots der dort vertretenen Händler ermittelte sie die möglichen Verkaufspreise für die einzelnen Produktgruppen. Ergab sich eine Spanne möglicher Verkaufspreise, setzt die Prüferin den Mittelwert an. Durch Multiplikation dieser Verkaufspreise mit dem Wareneinsatz des Antragstellers gelangte sie zu einem möglichen Bruttoumsatz. Nach Abzug der Umsatzsteuer sowie des Materialeinsatzes ermittelte sie Rohgewinn und Rohgewinnaufschlagssatz (RGAS). Der RGAS betrug abgerundet 300 %. Durch Übertragung dieses Satzes auch auf die Streitjahre 2012 und 2013 gelangte die Prüferin zu folgenden geschätzten Nettoumsätzen und Gewinnen aus Gewerbebetrieb:

6
        

 2012

 2013

 2014

Wareneikauf (netto)

... €

... €

... €

Umsatz (netto mit RGAS von 300 %)

... €

... €

... €

Gewinn aus Gewerbebetrieb

... €

... €

... €

7

Der Antragsteller widersprach den Prüfungsfeststellungen mit Schreiben vom 24. Oktober 2016. Am 1. Dezember 2016 fand eine Schlussbesprechung statt, in welcher die Prüferin insbesondere ihre Schätzungsgrundlagen erläuterte.

8

Am 13. bzw. 14. Dezember 2016 erließ der Antragsgegner auf Grundlage der Ergebnisse der Betriebsprüfung geänderte Bescheide für die Streitjahre über Einkommen- und Umsatzsteuer und erließ zudem erstmalig Bescheide über den Gewerbesteuermessbetrag und die Gewerbesteuer für die Streitjahre sowie über den Gewerbesteuermessbetrag und die Gewerbesteuer für Zwecke der Vorauszahlungen für 2016 und ab 2017.

9

Mit Schreiben vom 10. Januar 2017 legte der Antragsteller gegen diese Bescheide Einspruch ein, über welchen bisher nicht entschieden ist. Gleichzeitig beantragte er die Aussetzung der Vollziehung (AdV), welche der Antragsgegner mit zwei Bescheiden vom 26. Januar 2017 ablehnte.

10

Am 13. Februar 2017 hat der Antragsteller einen Antrag auf AdV bei Gericht gestellt, welchen er wie folgt begründet:

11

An der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide bestünden ernstliche Zweifel. Der Antragsgegner sei nicht zu Schätzung befugt gewesen und verkenne die Reichweite der Aufzeichnungspflichten. Er, der Antragsteller, der seinen Gewinn gemäß § 4 Abs. 3 EStG ermittle, sei nicht gehalten, ein Kassenbuch zu führen. Zwar habe ein Unternehmer, der seinen Gewinn mittels EÜR ermittele, auch die Aufzeichnungspflichten des § 22 des UStG i. V. m. §§ 63 bis 68 der Umsatzsteuerdurchführungsverordnung (UStDV) zu erfüllen. Aus diesen Vorschriften ergebe sich allerdings keine Pflicht, vereinnahmtes Barentgelt in einem Kassenbuch aufzuzeichnen. Bei der EÜR gebe es keine Bestandskonten, mithin auch kein Kassenkonto. Vereinnahmtes Geld werde sofort Privatvermögen. Die Feststellung eines Kassenbestandes sei anders als bei der Gewinnermittlung nach Bestandsvergleich im Rahmen der EÜR nicht erforderlich.

12

Gemäß § 146 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 der Abgabenordnung (AO) müssten die Aufzeichnungen lediglich so geführt werden, dass sie dem konkreten Besteuerungszweck entsprächen. Dafür sei auch bei einer EÜR erforderlich, dass die Bareinnahmen und Ausgaben täglich durch den Steuerpflichtigen selbst zu erfassen seien. Als Einzelhändler, der Waren an der Person nach unbekannte Kunden über den Ladentisch gegen Barzahlung verkaufe, habe er im Wege der gebotenen Vereinfachung täglich nur den Saldo der getätigten Geschäftsvorfälle festhalten müssen. Die Einnahmenermittlung müsse in solch einem Fall nachvollziehbar dokumentiert und überprüfbar sein. Dies könne z. B. mithilfe eines Kassenberichts erfolgen, in dem Bareinnahmen mit dem Anfangs- und Endbestand der Kasse abgestimmt würden, wobei der geschäftliche Bargeldbestand zu Ermittlung der Tageslosung auszuzählen sei. Eben dieser Verpflichtung sei er, der Antragsteller, durch die Führung seines Umsatzsteuerheftes in vollem Umfang nachgekommen. Das Umsatzsteuerheft gelte dabei für alle Steuerarten.

13

Die Schätzung sei auch der Höhe nach nicht nachvollziehbar. Anstatt sich auf die erzielbaren Rohgewinnaufschlagsätze im Bereich der Richtsätze für Textilwaren zu beziehen, habe der Antragsgegner eigene statistische Erhebungen angestrengt. Diese könnten keine taugliche Schätzungsgrundlage darstellen. Auch habe der Antragsgegner den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, da die Schätzungsgrundlagen trotz mehrfacher Anforderung ihm, dem Antragsteller, nicht übersandt worden sein.

14

Der Antragsgegner könne auch nicht darauf verweisen, dass ihm weder Preislisten vorgelegt noch Standzeiten mitgeteilt worden seien. Diese Angaben seien für die Ermittlung der jeweiligen Steuer nicht aussagekräftig. Er habe den Antragsgegner darauf hingewiesen, dass Preislisten nicht existierten, die Preiskalkulation täglich in Ansehung des jeweiligen Marktplatzes sowie der Konkurrenz individuell festgelegt worden sei und die Ware mit schlichten Pappschildern ausgezeichnet worden seien.

15

Im Übrigen sei ihm, dem Antragsteller, Vertrauensschutz zu gewähren. Über Jahre hinweg hätten die Finanzbehörden bei ihm und anderen Marktbeschickern die Erfüllung der Aufzeichnungspflichten über ein Umsatzsteuerheft nicht beanstandet. Auf diese gesicherte Rechtsauffassung habe er vertrauen dürfen. Erstmals im Jahr 2016 sei er zur Führung eines Kassenbuchs aufgefordert worden.

16

Im Hinblick auf die erheblichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide wäre die AdV mit Sicherheitsleistung im Übrigen unverhältnismäßig.

17

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
die Vollziehung der Bescheide für 2012, 2013 und 2014 über Einkommensteuer, Umsatzsteuer, den Gewerbesteuermessbetrag und die Gewerbesteuer vom 13. Dezember 2016 sowie die Vollziehung der Bescheide für 2016 und ab 2017 über den Gewerbesteuermessbetrag für Zwecke der Vorauszahlungen vom 14. Dezember 2016 ohne Sicherheitsleistungen auszusetzen.

18

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.

19

Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide bestünden nicht. Eine Schätzungsbefugnis sei dem Grunde nach gegeben. Bereits der nach § 22 Abs. 5 UStG bestehenden Verpflichtung zur Führung eines Umsatzsteuerheftes sei der Antragsteller unzureichend nachgekommen. Das Umsatzsteuerheft habe in der Prüfung nicht lückenlos vorgelegen. Geschäftsvorfälle seien zum Teil lediglich als Sammelbuchungen zum Monatsende (für 2012) bzw. zum Jahresende (2013) bzw. quartalsweise (2014) verbucht worden. Im Übrigen habe es der Antragsteller versäumt, in seinem Umsatzsteuerheft sämtliche Eingangsumsätze einzeln zu erfassen, um eine Nachprüfung zu ermöglichen. Im Übrigen blieben die weitergehenden Aufzeichnungs- und Aufbewahrungspflichten, wie sie sich z.B. aus den §§ 140 ff. AO, dem Handelsgesetzbuch sowie den Grundsätzen zur ordnungsmäßigen Führung und Aufbewahrung von Büchern, Aufzeichnungen und Unterlagen in elektronischer Form sowie dem Datenzugriff ergäben, von § 22 Abs. 5 UStG unberührt.

20

Der Antragsteller habe seine Verkäufe mittels einer "offenen Ladenkasse" abgewickelt. Bei einer offenen Ladenkasse bzw. bei Bareinnahmen, die ähnlich einer offenen Ladenkasse erfasst werden, seien die Einnahmen zeitnah mittels eines täglichen Kassenberichts aufzuzeichnen. Dabei sei es nicht ausreichend, lediglich die jeweiligen Tageseinnahmen in einer Summe zu erfassen, ohne die Überprüfung dieser Summe zu ermöglichen. Zu fordern sei vielmehr ein Kassenbericht, welcher jederzeit einen Kassensturz ermögliche und die systematisch richtige Ermittlung der täglichen Bareinnahmen nachvollziehbar mache. Notwendig sei dafür die tägliche Auszählung des Barbestandes. Unter Addition bzw. Subtraktion der betrieblichen Barausgaben bzw. der Barentnahmen bzw. Bareinlagen und des Kassenbestandes des Vortages sei der Barumsatz des Tages zu ermitteln. Solch qualifizierte Kassenaufzeichnungen habe der Antragsteller weder geführt noch vorgelegt.

21

Die Schätzung sei auch der Höhe nach nicht zu beanstanden. Trotz mehrfacher Aufforderung habe der Antragsteller seine Verkaufspreise, etwa durch Vorlage von Preislisten, nicht offengelegt. Die Hinzuschätzung sei daher anhand eines äußeren Betriebsvergleichs vorgenommen worden, indem Verkaufspreise anderer Händler zugrunde gelegt worden seien. Der so ermittelte RGAS habe ca. 300 % betragen. Auf die Versagung rechtlichen Gehörs könne sich der Antragsteller nicht berufen. Es habe eine Schlussbesprechung stattgefunden. Zudem sei der Antragsteller durch zahlreiche Schreiben zur Vorlage der erforderlichen Nachweise bzw. Unterlagen für eine Schätzungsgrundlage aufgefordert worden.

...

Entscheidungsgründe

II.

22

Der Antrag hat keinen Erfolg.

23

1. Der Antrag ist unzulässig, soweit die AdV der Gewerbesteuerbescheide begehrt wird. Der Antragsteller erhebt keine gegen die Gewerbesteuer als solche gerichteten Einwendungen, sondern wendet sich inhaltlich nur gegen die Hinzuschätzung von Erlösen dem Grunde und der Höhe nach. Soweit er sich jedoch gegen die Höhe der Gewerbesteuer als Folge der geänderten Grundlagenbescheide über den Gewerbesteuermessbetrag wendet, ist der Antrag auf AdV mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässig. Als Folgebescheide sind die Gewerbesteuerbescheide nicht selbständig aussetzungsfähig, vielmehr ist ihre Vollziehung gemäß § 69 Abs. 2 Satz 4 der Finanzgerichtsordnung (FGO) von Gesetzes wegen auszusetzen, soweit die Vollziehung des Grundlagenbescheids ausgesetzt wird (vgl. Seer in Tipke/Kruse FGO § 69 Rn. 27, 36; Bundesfinanzhof (BFH)-Beschluss vom 20. Mai 1998 III B 9/98, BStBl II 1998, 721).

24

2. Im Übrigen ist der Antrag unbegründet.

25

a) Nach § 69 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 FGO kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes ganz oder teilweise aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Danach soll seitens des Gerichts eine Aussetzung erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen. Solche sind gegeben, wenn bei summarischer Prüfung neben für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zu Tage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen und/oder Unklarheiten in der Beurteilung einer Tatfrage bewirken (st. Rspr., vgl. BFH-Beschlüsse vom 3. Februar 2005 I B 208/04, BStBl II 2005, 351; vom 3. Februar 1993 I B 90/92, BStBl II 1993, 426). Die Entscheidung ergeht bei der im Aussetzungsverfahren gebotenen summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der sich aus dem Vortrag der Beteiligten und der Aktenlage sowie aufgrund von präsenten Beweismitteln (§ 155 FGO i. V. m. § 294 Abs. 2 der Zivilprozessordnung) ergibt. Es ist Sache der Beteiligten, die entscheidungserheblichen Tatsachen darzulegen und glaubhaft zu machen, soweit ihre Mitwirkungspflicht reicht (BFH-Beschluss vom 20. März 2002 IX S 27/00, BFH/NV 2002, 809 m. w. N.). Die im Hauptsacheverfahren geltenden Regeln zur Feststellungslast gelten auch im Aussetzungsverfahren.

26

b) Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide bestehen daran gemessen nicht. Nach Würdigung der präsenten Beweismittel und der Aktenlage dürfte die Hinzuschätzung rechtmäßig sein.

27

aa) Bei summarischer Prüfung geht der Antragsgegner zutreffend davon aus, dass die Buchführung des Antragstellers in den Streitjahren derart fehlerbehaftet war, dass sie der Besteuerung nicht zugrunde gelegt werden konnte und deshalb eine Hinzuschätzung geboten war.

28

(1) Nach § 162 AO hat die Finanzbehörde die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen, soweit sie diese nicht ermitteln oder berechnen kann. Dabei sind alle Umstände zu berücksichtigen, die für die Schätzung von Bedeutung sind. Zu schätzen ist insbesondere dann, wenn der Steuerpflichtige Bücher oder Aufzeichnungen, die er nach den Steuergesetzen zu führen hat, nicht vorlegen kann, wenn die Buchführung oder die Aufzeichnungen der Besteuerung nicht nach § 158 AO zugrunde gelegt werden können oder wenn tatsächliche Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der vom Steuerpflichtigen gemachten Angaben zu steuerpflichtigen Einnahmen oder Betriebsvermögensmehrungen bestehen (§ 162 Abs. 2 AO).

29

Der Antragsteller war im Rahmen der von ihm nach § 4 Abs. 3 EStG vorgenommenen Gewinnermittlung zur Aufzeichnung der Betriebseinnahmen verpflichtet. Auch die EÜR setzt voraus, dass die Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben durch Belege nachgewiesen werden. Die allgemeinen Ordnungsvorschriften in den §§ 145 ff. AO gelten nicht nur für Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten nach §§ 140, 141 ff. AO. Insbesondere § 145 Abs. 2 AO betrifft jegliche zu Besteuerungszwecken gesetzlich geforderten Aufzeichnungen, also auch solche, zu denen der Steuerpflichtige aufgrund anderer Steuergesetze, wie z. B. § 22 des UStG i. V. m. §§ 63 bis 68 UStDV verpflichtet ist (vgl. BFH-Urteil vom 24. Juni 2009 VIII R 80/06, BStBl II 2010, 452). Diese Aufzeichnungspflicht nach dem Umsatzsteuergesetz wirkt, sofern dieses Gesetz keine Beschränkung auf seinen Geltungsbereich enthält oder sich eine Beschränkung aus der Natur der Sache nicht ergibt, unmittelbar auch für andere Steuergesetze (BFH-Urteil vom 26. Februar 2004 XI R 25/02, BStBl II 2004, 599 m. w. N.).

30

Gemäß § 145 Abs. 1 AO muss die Buchführung so beschaffen sein, dass sie einem sachverständigen Dritten innerhalb angemessener Zeit einen Überblick über die Geschäftsvorfälle und über die Lage des Unternehmens vermitteln kann; Geschäftsvorfälle müssen sich in ihrer Entstehung und Abwicklung verfolgen lassen. Daraus folgt, dass Betriebseinnahmen grundsätzlich einzeln aufzuzeichnen sind. Aus Gründen der Zumutbarkeit und Praktikabilität besteht die Pflicht zur Einzelaufzeichnung jedoch nicht für Einzelhändler (und vergleichbare Berufsgruppen), die im Allgemeinen Waren an ihnen der Person nach unbekannte Kunden über den Ladentisch gegen Barzahlung verkaufen (grundlegend BFH-Urteil vom 12. Mai 1966 IV 472/60, BStBl III 1966, 371).

31

Bei der Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG besteht zwar grundsätzlich keine Pflicht zum Führen eines Kassenbuchs, denn es gibt keine Bestandskonten und somit auch kein Kassenkonto (Finanzgericht (FG) Saarland, Urteil vom 21. Juni 2012 1 K 1124/10, EFG 2012, 1816; FG Hamburg, Urteil vom 16. November 2016, 2 K 110/15, juris). Trotzdem müssen Geschäftsvorfälle fortlaufend, vollständig und richtig verzeichnet werden. Insbesondere bei bargeldintensiven Betrieben, bei denen die Bareinnahmen mittels einer offenen Ladenkasse erfasst werden, sind dafür detaillierte Aufzeichnungen ähnlich einem Kassenkonto oder einem Kassenbericht notwendig (vgl. BFH-Beschluss vom 16. Dezember 2016 X B 41/16, BFH/NV 2017, 310; Sächsisches FG vom 4. April 2008 5 V 1035/07, juris; FG Saarland, Urteil vom 13. Januar 2010 1 K 1101/05, EFG 2010, 772). Zwar ist es nicht zu beanstanden, wenn die Kasseneinnahmen täglich nur in einer Summe in ein Kassenbuch oder Ähnliches eingetragen werden. Der Steuerpflichtige muss dann jedoch das Zustandekommen der Summe nachweisen können. Der Nachweis wiederum kann erbracht werden durch Aufbewahrung angefallener Kassenstreifen, Kassenzettel oder Bons oder durch mit einem Kassenbericht vergleichbare Aufzeichnungen (BFH-Urteile vom 20. Juni 1985 IV R 41/82, BFH/NV 1985, 12; vom 25. März 2015 X R 20/13, BStBl II 2015, 743).

32

Für die Anfertigung eines Kassenberichts ist der geschäftliche Bargeldendbestand auszuzählen, weil hier die Feststellung des Kassenbestandes eine unentbehrliche Grundlage für die Berechnung der Tageslosung bildet. Der Kassenbestand ist sodann rechnerisch um die belegmäßig festgehaltenen Entnahmen und Ausgaben zu erhöhen und um die ebenfalls dokumentierten Einlagen zu mindern, so dass sich die Einnahme ergibt (vgl. Sächsischen FG, Beschluss vom 4. April 2008 5 V 1035/07, juris; FG Saarland, Urteil vom 13. Januar 2010 1 K 1101/05, EFG 2010, 772; FG Münster, Urteil vom 23. Juni 2010 12 K 2714/06 E, U, juris). Nur mithilfe solch retrograder Kassenberichte ist sichergestellt, dass jederzeit ein Kassensturz möglich ist (vgl. FG Münster, Urteil vom 23. Juni 2010 12 K 2714/06 E, U Rn. 41, juris).

33

(2) Daran gemessen hat der Antragsteller bei summarischer Prüfung seine Bareinnahmen nicht ordnungsgemäß aufgezeichnet. Ihm ist zwar zuzugestehen, dass er als Händler auf Wochenmärkten nicht zur Aufzeichnung eines jeden einzelnen Umsatzes verpflichtet war. Auch konnte er für Umsatzsteuerzwecke seine Barumsätze täglich lediglich in einer Summe erfassen und diese in das von ihm gemäß § 22 Abs. 5 UStG geführte Umsatzsteuerheft übertragen. Diese Angaben enthalten allerdings weder eine Tageslosung hinsichtlich des täglich ausgezählten Bargeldbestandes, noch eine rechnerische bzw. belegmäßige Korrektur um die Barausgaben bzw. Bareinlagen und Barentnahmen. Eine retrograde Überprüfung des täglichen Bargeldbestandes im Sinne einer Kassensturzfähigkeit ist mithin auf Grundlage der vom Antragsteller vorgelegten Aufzeichnungen nicht möglich. Da der Antragsteller nahezu ausschließlich Bargeschäfte tätigte, nehmen diese Mängel der Kassenführung der gesamten Buchführung die Ordnungsmäßigkeit und berechtigen zur Schätzung (vgl. BFH-Urteile vom 14. Dezember 2011 XI R 5/10, BFH/NV 2012, 1921; vom 25. März 2015 X R 20/13, BStBl II 2015, 743).

34

bb) Die Schätzung ist bei summarischer Prüfung auch der Höhe nach nicht zu beanstanden. Das Gericht hat im Ergebnis keine ernsthaften Zweifel an der Rechtmäßigkeit der hinzugeschätzten Einnahmen. Es folgt im Rahmen seiner eigenen Schätzungsbefugnis (§ 96 Abs. 1 FGO i. V. m. § 162 AO) der Hinzuschätzung des Antragsgegners und sieht sie als maßvoll und sachgerecht an.

35

(1) Die Wahl der Schätzungsmethode steht im pflichtgemäßen Ermessen der Finanzbehörde und des Finanzgerichts, wenn es - wie hier - seine eigene Schätzungsbefugnis aus § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO i. V. m. § 162 AO ausübt. Es ist eine Schätzungsmethode zu wählen, die die größte Gewähr dafür bietet, mit einem zumutbaren Aufwand das wahrscheinlichste Ergebnis zu erzielen (vgl. Seer in Tipke/ Kruse, AO/ FGO, § 162 AO Rn. 52 m. w. N.). Die Wahl der Schätzungsmethode richtet sich nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalles (vgl. z. B. FG Bremen, Urteil vom 17. Januar 2007 2 K 229/04, EFG 2008, 8). Ziel jeder Schätzung muss es sein, Besteuerungsgrundlagen so zu ermitteln, dass sie der Wirklichkeit möglichst nahe kommen. Schätzergebnisse müssen darüber hinaus wirtschaftlich vernünftig und möglich sein (vgl. BFH-Urteil vom 18. Dezember 1984 VIII R 195/82, BStBl II 1986, 226). Es liegt in der Natur der Sache, dass das Ergebnis einer Schätzung von den tatsächlichen Verhältnissen abweichen kann. Solche Abweichungen sind notwendig mit einer Schätzung verbunden, die in Unkenntnis der wahren Gegebenheiten erfolgt. Die Schätzung muss sich allerdings in dem durch die Umstände des Falles gezogenen Schätzungsrahmen halten (vgl. BFH-Urteil vom 1. Oktober 1992 IV R 34/90, BStBl II 1993, 259).

36

(2) Auf dieser Grundlage ist die Nachkalkulation des Antragsgegners im summarischen Verfahren nicht zu beanstanden. Der Ansatz eines RGAS i. H. v. 300 % begegnet keinen Bedenken. Der Antragsgegner hat diesen Wert durch Rückgriff auf Kennzahlen des Antragstellers sowie von vergleichbaren Unternehmen plausibel und arithmetisch nachvollziehbar ermittelt. Insbesondere hat der Antragsgegner durch den Besuch eines Wochenmarktes und der Analyse der Verkaufspreise der dortigen Textilienhändler seinen Betriebsvergleich auf Kennzahlen gleichartiger und gleichwertiger und damit vergleichbarer Betriebe gestützt. Detailliert für viele einzelne Warengruppen hat der Antragsgegner dabei die möglichen Verkaufspreise für Textilien auf Wochenmärkten ermittelt und unter Berücksichtigung des Wareneinsatzes und der Einkaufspreise des Antragstellers den erzielbaren Umsatz und RGAS errechnet. Soweit sich für einzelne Textiliengruppen Preisspannen bei den Verkaufspreisen ergaben, hat er zu Gunsten des Antragstellers den Mittelwert angesetzt. Zudem hat er vom Ansatz eines Sicherheitszuschlages abgesehen. Bei summarischer Prüfung wird damit aus Sicht des Gerichts in ausreichendem Maße der Umstand berücksichtigt, dass der Antragsgegner den RGAS für 2014 anhand von Verkaufspreisen für das Jahr 2016 ermittelte, diesen zudem auf die Jahre 2012 und 2013 ohne Abzug übertrug, obwohl möglicherweise die Verkaufspreise in den Streitjahren geringer gewesen sein könnten. Die so ermittelten Gewinne aus Gewerbebetrieb in Höhe von ca. ... € (2012), ... € (2013) bzw. ... € (2014) sind darüber hinaus wirtschaftlich vernünftig und möglich.

37

Der Antragsgegner hat entgegen seiner Ansicht keinen Anspruch darauf, dass Schätzungen zwingend mittels eines äußeren Betriebsvergleichs auf Grundlage der der sogenannten Richtsatzsammlung durchgeführt und die dort angegebenen Richtsätze angewandt werden. Gegenüber der in der Richtsatzsammlung recht allgemein gehaltenen Gewerbeklasse "Textilwaren verschiedene Art und Oberbekleidung, Einzelhandel" zeichnet sich der vom Antragsgegner durchgeführte Betriebsvergleich durch eine deutlich höhere Homogenität von Vergleichsbetrieben mit dem Betrieb des Antragstellers aus. Dürften in die Gewerbeklasse der Richtsatzsammlung vor allem Kennzahlen von stationären Einzelhandelsbetrieben eingeflossen sein, berücksichtigt der Betriebsvergleich des Antragsgegners gerade die besondere Situation von Marktbeschickern. Im Übrigen hat der Antragsteller selbst vorgetragen, sich bei der Gestaltung seiner Verkaufspreise an den jeweiligen Konkurrenten auf den Märkten orientiert zu haben. Der Ansatz des Antragsgegners zur Ermittlung möglicher Verkaufspreise ist auch vor diesem Hintergrund folgerichtig.

38

cc) Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Schätzungsbescheide ergeben sich auch nicht aus den Grundsätzen von Treu und Glauben oder des Vertrauensschutzes.

39

Die Verdrängung gesetzten Rechts durch den Grundsatz von Treu und Glauben kann nur in besonders liegenden Fällen in Betracht kommen, in denen das Vertrauen des Steuerpflichtigen in ein bestimmtes Verhalten der Verwaltung nach allgemeinem Rechtsgefühl in einem so hohen Maß schutzwürdig ist, dass demgegenüber die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zurücktreten müssen (z. B. BFH-Urteile vom 5. Februar 1980 VII R 101/77, BFHE 130, 90, 95; vom 31. Oktober 1990 I R 3/86, BStBl II 1991, 610). Ein Vertrauenstatbestand ergibt sich dabei regelmäßig nicht bereits aus einem "Verwaltungsunterlassen". Es reicht nicht aus, dass die Finanzbehörden im Rahmen des Erlasses von Steuerbescheiden oder von Außenprüfungen bestimmte Vorgänge in der Vergangenheit nicht beanstandet haben. Denn nach den Grundsätzen der Abschnittsbesteuerung ergibt sich allein aus der früheren, auch aufgrund von Außenprüfungen vorgenommenen Beurteilung eines Sachverhalts keine Bindung für die Zukunft. Die Finanzbehörden haben vielmehr in jedem Veranlagungszeitraum die einschlägigen Besteuerungsgrundlagen erneut zu prüfen und rechtlich zu würdigen. Eine als falsch erkannte Rechtsauffassung müssen sie zum frühestmöglichen Zeitpunkt aufgeben, auch wenn der Steuerpflichtige auf diese Rechtsauffassung vertraut haben sollte (vgl. BFH-Urteile vom 13. April 1967 V 235/64, BStBl III 1967, 442, m. w. N.; vom 28. Februar 1990 I R 120/86, BStBl II 1990, 553; BFH-Beschlüsse vom 29. Mai 2007 III B 37/06, BFH/NV 2007, 1865; vom 12. Juli 2006 IV B 9/05, BFH/NV 2006, 2028, m. w. N.). Dies gilt sogar dann, wenn die Auffassung im Prüfungsbericht niedergelegt wurde (BFH-Urteil vom 16. Juli 1964 V 92/61 S, BStBl III 1964, 634) oder wenn die Finanzbehörden über eine längere Zeitspanne eine rechtsirrige, für den Steuerpflichtigen günstige Auffassung vertreten hatte (BFH-Urteil vom 22. Juni 1971 VIII 23/65, BStBl II 1971, 749).

40

Vor diesem Hintergrund kann sich der Antragsteller allein aufgrund der Tatsache, dass der Antragsgegner im Rahmen der Steuerfestsetzung seine Steuererklärungen und implizit seine Buchführung nicht beanstandet und in den gesetzlich vorgegebenen Zeitabständen dessen Umsatzsteuerheft mit einem Vorlagevermerk versehen hat, nicht auf Grundsätze des Vertrauensschutzes berufen.

41

dd) Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit ergeben sich auch nicht vor dem Hintergrund der Verweigerung rechtlichen Gehörs. Bereits im Rahmen der Außenprüfung hatte der Antragsteller zahlreiche Möglichkeiten, tatsächliche und rechtliche Gesichtspunkte vorzutragen und Einwendungen gegen die Prüfungsergebnisse zu machen. Ausweislich der Akten erörterten die Beteiligten auch spätestens in der Schlussbesprechung am 1. Dezember 2016 die Grundlagen der Hinzuschätzung.

42

3. Die angefochtenen Bescheide sind auch nicht deshalb auszusetzen, weil die Vollziehung für den Antragsteller eine unbillige Härte im Sinne des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO zur Folge hätte. Der Antragsteller hat Gründe für das Vorliegen einer unbilligen Härte nicht dargelegt. Auch aus den Akten ergeben sich hierfür keine Anhaltspunkte.

43

4. Der Antragsteller hat gemäß § 135 Abs. 1 FGO die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gründe für die Zulassung der Beschwerde nach § 128 Abs. 3 i. V. m. § 115 Abs. 2 FGO liegen nicht vor.

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