Urteil vom Finanzgericht Hamburg (4. Senat) - 4 K 73/15

Tatbestand

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Die Beteiligten streiten über den Umfang der Aufzeichnungspflichten in Bezug auf Arbeitszeiten von Arbeitnehmern.

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Der Kläger zu 1. ist Landwirt und beschäftigt in seinem Betrieb ... Festangestellte in Voll- und Teilzeit, geringfügig Beschäftigte sowie Auszubildende. Die Klägerin zu 2. betreibt ... und beschäftigt Festangestellte sowie ... Saisonarbeitskräfte.

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Am 29.08.2014 wurde für den Bereich Landwirtschaft und Gartenbau ein Mindestentgelt-Tarifvertrag (TV Mindestentgelt) mit einer Laufzeit vom 01.01.2015 bis 31.12.2017 geschlossen. Der Tarifvertrag wurde nach § 7a Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG) mit Geltung bis zum 31.12.2017 für allgemein verbindlich erklärt.

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Mit Schreiben vom 13.04.2015 wandten sich die Kläger an den Beklagten. Sie wiesen darauf hin, dass umstritten sei, ob sich während der Laufzeit des TV Mindestentgelt die Aufzeichnungspflichten in Bezug auf die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer nach dem Mindestlohngesetz (MiLoG) oder dem AEntG richten. Anders als das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) seien sie der Meinung, dass das AEntG weder im Falle von § 1 Abs. 3 MiLoG noch im Falle des § 24 Abs. 1 MiLoG anzuwenden sei. Nach § 1 Abs. 3 Satz 1 MiLoG sei das AEntG nur dann vorrangig anzuwenden, soweit die auf seiner Grundlage festgesetzten Branchenmindestlöhne den Mindestlohn nach dem MiLoG nicht unterschritten. Dies sei nach dem im TV Mindestentgelt festgelegten Branchenmindestlohn nicht der Fall. § 1 Abs. 3 MiLoG sei gerade kein Alternativverhältnis in der Form zu entnehmen, dass ausschließlich das AEntG oder das MiLoG gelten sollten. Auch aus § 24 Abs. 1 MiLoG ergebe sich nicht die Anwendbarkeit des AEntG. Dort sei das AEntG nicht erwähnt, sondern die "Regelungen eines Tarifvertrages repräsentativer Tarifvertragsparteien", die "dem Mindestlohn" - und nicht dem MiLoG insgesamt - vorgingen. Auch der Gesetzesbegründung zu § 24 Abs. 1 MiLoG sei zu entnehmen, dass sich die Übergangsvorschrift lediglich auf die Höhe des zu zahlenden Mindestentgelts beziehe.

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Der Beklagte verwies in seinem Antwortschreiben vom 20.04.2015 auf das Schreiben der Bundesfinanzdirektion West (BFD) vom 18.03.2015. Hierin verwies die BFD auf ein Schreiben des BMAS vom 22.12.2014. Danach sei in § 1 Abs. 3 MiLoG die Grundregel enthalten, dass die spezielleren Branchenmindestlöhne nach dem AEntG den Vorschriften des allgemeinen Mindestlohns vorgingen. Dies gelte selbstverständlich nur unter der Voraussetzung, dass der allgemeine Mindestlohn nicht unterschritten werde. Dieser Vorrang umfasse alle im AEntG enthaltenen Aspekte eines Branchenmindestlohns, also auch die Kontrollvorschriften. Gleiches gelte während der Übergangszeit nach § 24 Abs.1 MiLoG. Der einzige Unterschied zwischen § 1 Abs. 3 MiLoG und § 24 Abs. 1 MiLoG sei, dass während der Übergangszeit ausnahmsweise der Branchenmindestlohn nach dem AEntG den allgemeinen Mindestlohn unterschreiten dürfe. Dies bedeute in der Praxis, dass jeweils nur das eine oder das andere Gesetz - MiLoG oder AEntG - zu Anwendung kommen könne. Die vom Bauernverband gewünschte Kombination eines den Mindestlohn unterschreitenden Branchenmindestlohns für die Landwirtschaft nach dem AEntG einerseits und einer Aufzeichnungspflicht nach § 17 MiLoG andererseits entbehre einer rechtlichen Grundlage. Auf den Einwand des Bauerverbandes, dass nach der dreijährigen Übergangszeit nach § 24 MiLoG ohnehin das MiLoG zur Anwendung komme und daher die Aufzeichnungspflicht nach dem AEntG auf maximal drei Jahre begrenzt sei, wies das BMAS darauf hin, dass die strengeren Aufzeichnungspflichten nach dem AEntG eine Kompensationswirkung zu Gunsten von Arbeitnehmern zukomme. Wenn Arbeitnehmer während der Übergangszeit einen geringeren als den allgemeinen Mindestlohn erhielten, würde die restriktive Aufzeichnungspflicht nach dem AEntG dazu beitragen, dass dieser Mindestlohn tatsächlich gezahlt würde.

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Am 08.05.2015 haben die Kläger Feststellungsklage erhoben. Sie verweisen zunächst auf ihren vorgerichtlichen Vortrag und führen ergänzend aus: Nach einer Entscheidung des OLG Hamm sei § 19 AEntG nicht anzuwenden. Auch § 24 Abs. 1 MiLoG könne kein Vorrang des AEntG entnommen werden. Die Vorschrift nenne das AEntG nicht. Dort werde vielmehr Bezug genommen auf abweichende Regelungen eines Tarifvertrags, die "dem Mindestlohn" vorgingen. Auch aus der Gesetzbegründung zu § 24 Abs. 1 MiLoG ergebe sich nichts anderes.

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Der Wortlaut von § 1 Abs. 3 Satz 1 MiLoG sei eindeutig. Danach finde das AEntG nur Anwendung, soweit die Höhe der auf seiner Grundlage festgesetzten Branchenmindestlöhne den allgemeinen Mindestlohn nicht unterschreite. Dies sei beim TV Mindestentgelt jedoch nicht der Fall, weil dort ein Mindestlohn von 7,40 € festgelegt worden sei. Aus § 1 Abs. 3 Satz 2 MiLoG ergebe sich, dass der TV Mindestentgelt gerade nicht dem AEntG unterliege. Die Vorschrift erkläre das AEntG nämlich nur anwendbar auf Tarifverträge des Baugewerbes (§ 4 Abs. 1 Nr. 1 AEntG) sowie Tarifverträge für Betriebe mit überwiegenden Bauleistung (§ 6 Abs. 2 AEntG). Auf § 4 Abs. 2 AEntG, der alle anderen Branchentarifverträge erfasse, werde gerade nicht Bezug genommen. Dem lasse sich nicht entgegenhalten, dass § 19 Abs. 1 Satz 1 AEntG unmittelbar anwendbar sei. Wie das BMAS selbst festgestellt habe, lege § 1 Abs. 3 MiLoG nämlich fest, dass jeweils nur das eine oder das andere Gesetz Anwendung finden könne.

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Die Kläger beantragen
festzustellen, dass sie in der Zeit vom 01.01.2015 bis 31.12.2017 nicht verpflichtet sind, für die bei ihnen jeweils beschäftigten Arbeitnehmer, die nicht geringfügig Beschäftigte im Sinne von § 8 Abs. 1 SGB IV sind, Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit aufzuzeichnen.

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Der Beklagte beantragt
die Klage abzuweisen.

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Er beruft sich auf seinen vorgerichtlichen Vortrag und verweist auf die Rechtauffassung des BMAS, die für ihn verbindlich sei. Die Rechtsauffassung des OLG Hamm, auf die sich die Kläger bezogen hätten, teile er nicht.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.

I.

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Die Klage ist zulässig.

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Der Finanzrechtsweg ist gemäß § 23 Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz (SchwarzArbG), der gemäß § 17 AEntG entsprechend anzuwenden ist, eröffnet. Nach § 23 SchwarzArbG ist in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten über Verwaltungshandeln der Behörden der Zollverwaltung der Finanzrechtsweg gegeben. Vorliegend steht im Streit, ob die Kläger die Aufzeichnungspflichten nach § 19 AEntG erfüllen müssen. Da die Zollbehörden prüfen, ob die Arbeitsbedingungen sowohl nach Maßgabe des MiLoG wie auch des AEntG eingehalten werden (§ 2 Abs. 1 Nr. 5 SchwarzArbG), unterfiele auch die Prüfung der Einhaltung der Aufzeichnungspflichten nach dem AEntG dieser Vorschrift.

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Die Feststellungsklage gemäß § 41 Abs. 1 FGO ist die statthafte Klageart, da es den Klägern in der Sache darum geht, ob eine Aufzeichnungspflicht nach § 19 AEntG - und damit ein Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten - besteht.

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Die Kläger können ihr Begehren nicht durch Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen. Ein anfechtbarer Verwaltungsakt liegt nicht vor. Es kann den Klägern nicht zugemutet werden, zunächst gegen die nach Ansicht des Beklagten anwendbare Vorschrift zu verstoßen und damit eine Ordnungswidrigkeit gemäß § 23 Abs. 1 Nr. 8 AEntG zu begehen, um sich dann im Rahmen eines Bußgeldverfahrens zu wehren.

II.

16

Die Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Die Kläger haben keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung. Sie sind nämlich verpflichtet, für sämtliche Arbeitnehmer - also auch für solche, die nicht geringfügig Beschäftigte im Sinne von § 8 Abs. 1 SGB IV sind - Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit aufzuzeichnen. Diese Pflicht ergibt sich aus § 19 AEntG, dessen Voraussetzungen erfüllt sind (dazu 1.). Seine Anwendbarkeit ist nicht durch das MiLoG ausgeschlossen (dazu 2.).

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1. Die Voraussetzungen von § 19 Abs. 1 S. 1 AEntG in der Fassung von Art. 6 Nr. 12 a) des Tarifautonomiestärkungsgesetzes vom 11.08.2014 (BGBl. I 2014, 1348) sind erfüllt. Nach dieser Norm gilt eine Pflicht zur Aufzeichnung der Arbeitszeiten aller Arbeitnehmer, soweit entweder die Rechtsnormen eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages nach §§ 4 Abs. 1 Nr. 1, 5 S. 1 Nr. 1-3 und 6 Abs. 2 AEntG oder einer entsprechenden Rechtsverordnung nach §§ 7, 7a AEntG über die Zahlung eines Mindestentgelts oder die Einziehung von Beiträgen und die Gewährung von Leistungen im Zusammenhang mit Urlaubsansprüchen auf das Arbeitsverhältnis Anwendung finden. § 19 Abs. 1 S. 1 AEntG gilt damit nicht nur für die Rechtsnormen eines - hier offensichtlich nicht vorliegenden - für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 AEntG, sondern auch für "die Rechtsnormen [...] einer entsprechenden Rechtsverordnung nach § 7 oder § 7a AEntG". Der Verweis auf die nach diesen Rechtsverordnungen erlassenen tarifvertraglichen Vorschriften beschränkt sich nicht auf die Branchen nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 AEntG. § 7 AEntG betrifft nämlich sämtliche Tarifverträge im Sinne von § 4 Abs. 1 AEntG - also auch die in § 4 Abs. 1 Nr. 2-9 AEntG genannten Arbeitsbereiche. § 7a AEntG bezieht sich ausdrücklich auf Tarifverträge im Sinne von § 4 Abs. 2 AEntG, also solche, die sich auf alle anderen als der in § 4 Abs. 1 AEntG genannten Branchen beziehen. Ziel des durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz eingefügten § 4 Abs. 2 AEntG war es gerade, das AEntG auf sämtliche Branchen auszudehnen (BT-Drs. 18/1558, S. 51). Entsprechend wurde in § 19 Abs. 1 S. 1 AEntG auch § 7a AEntG aufgenommen (BT-Drs. 18/1558, S. 53).

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Anders als die Klägerin meint, ergibt sich aus dem Wort "entsprechend" in § 19 Abs. 1 S. 1 2. Alt. AEntG keine Beschränkung des branchenmäßigen Anwendungsbereichs der Norm. Mit diesem Wort wird nämlich nicht Bezug genommen auf § 4 Abs. 1 Nr. 1 AEntG - und damit die branchenmäßige Anwendbarkeit der Tatbestandsalternative -, sondern auf das für allgemeinverbindlich Erklären im Sinne von § 5 Tarifvertragsgesetz.

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Ein anderes Normverständnis ergibt sich nicht aus einem Vergleich mit dem Wortlaut von § 8 Abs. 2 AEntG. Der von der Klägerin vorgeschlagene Umkehrschluss aus dieser Norm ist für § 19 Abs. 1 S. 1 2. Alt. AEntG nicht zu ziehen. Die unterschiedlichen Wortlaute der Normen lassen sich vielmehr dadurch erklären, dass in § 8 Abs. 2 AEntG die Rechtsfolge einer Rechtsverordnung nach §§ 7, 7a AEntG (Die Erstreckung der Bindungswirkung eines Tarifvertrags auf alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer) ausdrücklich benannt wird, während sie in § 19 Abs. 1 S. 1 AEntG unerwähnt bleibt. Statt der ausdrücklichen Erwähnung dieser Rechtsfolge spricht § 19 Abs. 1 S. 1 AEntG von einer Rechtsverordnung nach §§ 7, 7a AEntG, die "entsprechend" eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags gilt, mit der also ein Tarifvertrag - wie es in § 8 Abs. 2 AEntG ausformuliert wird - "auf nicht an ihn gebundenen Arbeitgeber sowie Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen erstreckt wird".

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Für eine Beschränkung des sachlichen Anwendungsbereichs von § 19 Abs. 1 S. 1 AEntG auf die Baubranche finden sich auch sonst keine Hinweise. Nicht überzeugend ist, dass nur solche Rechtsverordnungen nach §§ 7, 7a AEntG von § 19 Abs. 1 S. 1 AEntG erfasst sein sollen, soweit sie sich auf den gemäß § 6 Abs. 1 AEntG an sich vom Baugewerbe ausgeschlossenen Bereich beziehen. Dies kann schon deshalb nicht zutreffen, weil durch eine Rechtsverordnung nach § 7a AEntG diese Tätigkeiten gar nicht in den Anwendungsbereich des AEntG einbezogen werden könnten. Nach § 6 Abs. 1 findet nämlich der gesamte Abschnitt 3, wozu auch § 7a AEntG gehört, keine Anwendbarkeit auf bestimmte Erstmontage- oder Einbauarbeiten.

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Die gegenteilige Auffassung des OLG Hamm (Beschl. v. 18.10.2016, III-3 RBs 277/16) teilt der Senat nicht. Es vertritt die Meinung, dass § 19 Abs. 1 AEntG hinsichtlich der Branche oder dem Geltungsbereich nur auf § 4 Abs. 1 Nr. 1 AEntG verweise (juris Rn. 22). Hierbei bezieht es sich auf den Aufsatz von Schliemann (Pflichten zur Aufzeichnung von Arbeitszeiten FA 2016, 66), der dort (S. 70, rechte Sp.) diese Position vertritt, ohne sie allerdings zu begründen. Wie dargelegt, ergibt sich aus der Bezugnahme in § 19 Abs. 1 AEntG auf die Rechtsverordnungen nach § 7a AEntG jedoch, dass die Norm auf alle Branchen anwendbar ist.

22

Die Voraussetzungen des so verstandenen § 19 Abs. 1 S. 1 AEntG sind erfüllt: Die Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen in der Land- und Forstwirtschaft sowie im Gartenbau (Landwirtschaftsarbeitsbedingungenverordnung - LandwArbbV) vom 18.12.2014 (BAnz AT v. 19.12.2014) ist eine Verordnung im Sinne von § 19 Abs. 1 S. 1 2. Alt. AEntG. Sie ordnet in ihrem § 1 an, dass die §§ 1 und 2 TV-Mindestentgelt auf alle nicht an sie gebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Anwendung findet. Diese auf § 7a Abs. 1 und Abs. 4 AEntG gestützte Allgemeinverbindlichkeitserklärung gilt vom 01.01.2015 bis 31.12.2017 (§ 2 LandwArbbV).

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2. Die Anwendbarkeit von § 19 AEntG ist nicht durch das MiLoG ausgeschlossen. Für die Zeit von November bis Dezember 2017 ordnet § 1 Abs. 3 S. 1 MiLoG im Gegenteil ausdrücklich an, dass das AEntG gilt (dazu 2.1). Für den davorliegenden Zeitraum, für den der für allgemein anwendbar erklärte TV Mindestentgelt einen geringeren als den gesetzlichen Mindestlohn festsetzt, lässt sich dem MiLoG ebenfalls nicht entnehmen, dass es auf Arbeitsverhältnisse, die dem TV Mindestentgelt unterliegen, anwendbar wäre (dazu 2.2).

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2.1 Für die Monate November und Dezember 2017 sind die Voraussetzungen von § 1 Abs. 3 S. 1 MiLoG erfüllt. Danach gehen insbesondere das AEntG und die auf seiner Grundlage erlassenen Rechtsverordnungen dem MiLoG vor, soweit die Höhe der auf seiner Grundlage festgesetzten Branchenmindestlöhne die Höhe des Mindestlohns nicht unterschreitet. Die LandwArbbV ist eine Rechtsverordnung auf der Grundlage von § 7a AEntG, die bestimmt, dass der im TV Mindestentgelt festgesetzte Branchenmindestlohn auf alle unter seinen Geltungsbereich fallenden Arbeitgeber und Arbeitnehmer anzuwenden ist. Ab dem 01.11.2017 unterschreitet das im TV Mindestentgelt festgesetzte Mindestentgelt nicht den allgemeinen Mindestlohn nach § 1 MiLoG; Es liegt vielmehr darüber: Während bis zum 31.10.2017 das Mindestentgelt nach § 2 Abs. 1 TV Mindestentgelt unter dem gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 € bzw. ab dem 01.01.2017 8,84 € pro Stunde liegt, beträgt es ab dem 01.11.2017 9,10 €, ohne dass der allgemeine Mindestlohn erhöht wird.

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Als Rechtsfolge ordnet § 1 Abs. 3 S. 1 MiLoG an, dass insbesondere die Regelungen des AEntG - und damit auch § 19 AEntG - dem MiLoG - und damit auch den in § 17 MiLoG genannten Aufzeichnungspflichten, die gegenüber § 19 AEntG weniger streng sind - vorgehen.

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2.2 Für den Zeitraum vom 01.01.2015 bis zum 31.10.2017 ergibt sich aus dem MiLoG ebenfalls nicht die Unanwendbarkeit von § 19 AEntG. Zwar unterschreitet in diesem Zeitraum der tarifliche Mindestlohn nach dem TV Mindestentgelt den gesetzlichen Mindestlohn, so dass der Tatbestand von § 1 Abs. 3 S. 1 MiLoG nicht erfüllt ist. § 24 Abs. 1 S. 1 MiLoG ordnet jedoch auch für diesen Fall an, dass "der Mindestlohn" - und damit auch § 17 MiLoG - nicht gelten (dazu 2.2.1). Aus § 1 Abs. 3 MiLoG kann man nichts anderes ableiten (dazu 2.2.2). Im Einzelnen:

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2.2.1 § 24 Abs. 1 S. 1 MiLoG lässt sich nicht nur nicht entnehmen, dass das AEntG in der hier in Rede stehenden Konstellation nicht anwendbar ist. Das Gegenteil ist der Fall. Die Norm ordnet gerade die Unanwendbarkeit von § 17 MiLoG an.

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Nach § 24 Abs. 1 S. 1 Halbs. 1 MiLoG gehen abweichende Regelungen eines Tarifvertrags repräsentativer Tarifvertragsparteien dem Mindestlohn vor, wenn sie für alle unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitgeber und Arbeitnehmer verbindlich gemacht wurden. Dies erfasst insbesondere Branchentarifverträge nach § 7a AEntG (Pötters in Thüsing, MiLoG/AEntG, 2. Aufl. 2016, § 24 MiLoG Rn. 4). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Der TV Mindestentgelt ist ein Tarifvertrag, der gemäß § 1 Abs. 1 für die gesamte Bundesrepublik Deutschland gilt und durch die LandwArbbV - einer Verordnung nach § 7a MiLoG - für die Jahre 2015-2017 für allgemein anwendbar erklärt wurde. Als Rechtsfolge erlaubt die Norm, während des Übergangszeitraums einen tariflichen Mindestlohn zu vereinbaren, der unter dem gesetzlichen Mindestlohn liegt. Zwar normiert § 24 Abs. 1 S. 1 MiLoG, dass tarifliche Mindestlöhne "dem Mindestlohn" - und nicht dem MiLoG - vorgehen. Da die Aufzeichnungspflichten nach § 17 MiLoG einerseits und § 19 AEntG andererseits den Zweck haben, die Einhaltung des (tariflichen bzw. gesetzlichen) Mindestlohns sicherzustellen, wäre es systemwidrig, wenn trotz des Vorrangs eines tariflichen Mindestlohns vor dem gesetzlichen Mindestlohn die Aufzeichnungspflichten aus dem Gesetz gelten würden, dessen Mindestlohnvorschrift gerade nicht anwendbar ist (so auch Riechert/Nimmerjahn, MiLoG, 2015, § 24 MiLoG Rn. 24).

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Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob § 24 Abs. 1 S. 1 MiLoG tarifliche Abweichungen vom Mindestlohngesetz im Hinblick auf andere Aspekte des Mindestlohns - etwa die nach § 9 S. 3 AEntG in Tarifverträgen zulässige Festsetzung von Ausschlussfristen für die Geltendmachung des Mindestlohnanspruchs - zulässt (dagegen Schubert/Jerchel/Düwell, Das neue Mindestlohngesetz, 2015, Rn. 108; a. A. Riechert/Nimmerjahn, MiLoG, 2015, § 24 MiLoG Rn. 24). Die Aufzeichnungspflichten nach § 17 MiLoG jedenfalls stehen in einem derartig engen Zusammenhang mit der Gewährung des Mindestlohns, von dem nach § 24 Abs. 1 S. 1 MiLoG abgewichen werden kann, dass mit der Derogation von § 1 Abs. 2 MiLoG auch § 17 MiLoG für unanwendbar erklärt wird.

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Für eine Kongruenz zwischen § 1 Abs. 3 S. 1 MiLoG und § 24 Abs. 1 S. 1 MiLoG spricht auch die Gesetzesbegründung zu § 24 MiLoG. Dort (BT-Drs. 18/1558, S. 43) heißt es, dass die branchenspezifischen Regelungen dem allgemeinen Mindestlohn "auch dann vor[gehen]" (Hervorhebung hinzugefügt), wenn sie unterhalb des Mindestlohns liegen. Durch die Formulierung "auch dann" wird Bezug genommen auf den Fall, dass der tarifliche Mindestlohn oberhalb des gesetzlichen Mindestlohns liegt. Jener Fall wird in § 1 Abs. 3 MiLoG behandelt, der die Anwendbarkeit des AEntG anordnet.

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2.2.2 § 1 Abs. 3 S. 1 MiLoG kann nicht so ausgelegt werden, dass für den Fall, dass seine Voraussetzung nicht erfüllt sind, also der tarifliche Mindestlohn unter dem gesetzlichen Mindestlohn liegt, die Regelungen des AEntG und die auf ihrer Grundlage erlassenen Rechtsverordnungen - und damit auch § 19 AEntG - nicht anzuwenden wären. Gegen diesen von den Klägern favorisierten Umkehrschluss spricht zunächst der Befund, dass § 1 Abs. 3 MiLoG eine Ausprägung des Vorrangs tariflicher Mindestlohnregelungen ist (vgl. Franzen, in Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 17. Aufl. 2017, MiLoG § 1 Rn. 21). Die Norm ist damit Ausdruck des aus der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) folgenden Vorrangs tariflicher Regelungen vor gesetzlichen Vorschriften (vgl. Burghart, in Leibholz/Rinck, Grundgesetz, 73. EL März 2017, Art. 9 GG Rn. 480).

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Weiter wäre der von den Klägern postulierte Umkehrschluss aus § 1 Abs. 3 S. 1 MiLoG nur dann zulässig, wenn die Sachverhaltskonstellation, die im Wege des Umkehrschlusses geregelt werden soll - ein tariflicher Mindestlohn unterschreitet den gesetzlichen Mindestlohn - nicht an anderer Stelle normiert wäre. Genau dies ist jedoch der Fall: Nach dem hier vertretenen Verständnis von § 24 Abs. 1 S. 1 MiLoG (siehe oben 2.2.1) wird § 1 Abs. 2 MiLoG und damit auch § 17 MiLoG im Übergangszeitraum von solchen tariflichen Mindestlöhnen verdrängt, die unter dem gesetzlichen Mindestlohn liegen. Vor diesem Hintergrund wäre es systemwidrig, aus § 1 Abs. 3 S. 1 MiLoG das Gegenteil von dem abzuleiten, was sich aus § 24 Abs. 1 S. 1 MiLoG ergibt.

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Weiter stünde die von den Klägern vertretene Auffassung im Widerspruch zur Funktion des MiLoG. Bereits vor Inkrafttreten des Mindestlohngesetzes gingen die branchenspezifischen tarifgestützten Mindestlöhne den gesetzlichen Mindestlohnvorschriften vor (Greiner in Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, Beck'scher Online-Kommentar Arbeitsrecht, Stand: 01.03.2017, § 1 MiLoG Rn. 81). Für das MiLoG gilt dasselbe. Es tritt hinter andere Mindestlohnregelungen zurück (Franzen in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 17. Aufl. 2017, MiLoG § 1 Rn. 21; Bayreuther in Thüsing, MiLoG/AEntG, 2. Aufl. 2016, § 1 MiLoG Rn. 13). Die klägerische Auffassung würde dagegen dazu führen, dass die Aufzeichnungspflicht nach § 17 MiLoG die Aufzeichnungspflicht nach § 19 AEntG verdrängte, obwohl eine (auf der Grundlage des AEntG ergangene) allgemeinverbindliche tarifliche Mindestlohnregelung gilt, die gemäß § 24 Abs. 1 S. 1 MiLoG zulässigerweise unter dem gesetzlichen Mindestlohn liegen darf.

34

Darüber hinaus hätte die von den Klägern favorisierte Auslegung von § 1 Abs. 3 S. 1 MiLoG zur Konsequenz, dass durch die Schaffung des MiLoG, dessen Schutzzweck eindeutig in der Gewährung eines Mindestlohns für Arbeitnehmer und nicht in der Entbürokratisierung des Arbeitsverhältnisses liegt, Arbeitgeber weniger strengen Aufzeichnungspflichten nachkommen müssten als unter der alleinigen Geltung des AEntG, dessen § 19 es gerade ermöglichen soll, effektive Kontrollen durchzuführen (Reufels in Thüsing, MiLoG/AEntG, 2. Aufl. 2016, § 19 AEntG Rn. 2, 7).

35

Schließlich stützt auch der von den Klägern herangeführte § 3 Abs. 1 S. 2 MiLoG ihre Auffassung nicht. Danach gilt der Vorrang nach Satz 1 entsprechend für einen auf der Grundlage von § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 1 sowie §§ 5 und 6 Abs. 2 AEntG. Hieraus kann nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass für andere Tarifverträge als solche, die gemäß § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärt wurden, der Vorrang des AEntG gerade nicht gelte. Dem steht schon entgegen, dass der hier in Rede stehende Mindestlohn nach dem TV Mindestentgelt durch eine Rechtsverordnung nach dem AEntG im Sinne von § 1 Abs. 3 S. 1 MiLoG für allgemeinverbindlich erklärt worden ist und daher nicht unter S. 2 fallen kann. Die Beschränkung der Vorrangwirkung von für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen nach § 5 TVG auf solche der Baubranche lässt sich vielmehr allein europarechtlich erklären (Näheres bei Greiner in Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Du-sching, Beck'scher Online-Kommentar Arbeitsrecht, Stand: 01.03.2017, § 1 MiLoG Rn. 81) und erlaubt daher keine Rückschlüsse in dem hier in Rede stehenden Fall.

III.

36

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1, 5 S. 1 FGO. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 115 Abs. 2 FGO), sind nicht gegeben, da es sich um auslaufendes Recht handelt.

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