Urteil vom Finanzgericht Hamburg (2. Senat) - 2 K 192/18

Tatbestand

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Streitig ist der vollständige Erlass von Säumniszuschlägen (SZ).

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Der Kläger ist mit Beschluss vom ... 2015 zum Insolvenzverwalter über das Vermögen der ... mbH bestellt worden. Gegenüber dem Beklagten bestanden erhebliche Steuerrückstände. Mit Schriftsatz vom 24. August 2018 bestritt der Kläger die vom Beklagten angemeldeten Forderungen zum Teil, weil keine nachvollziehbaren Belege oder Nachweise hierfür erbracht worden seien. Die Anmeldung von SZ sei im Übrigen zu bestreiten, weil dem Beklagten die Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin bekannt gewesen sei und demzufolge von der Geltendmachung von SZ abzusehen sei. Vorsorglich erbat der Kläger den Erlass der SZ.

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Per 3. September 2018 hatte der Beklagte - nach einer Minderung - noch Forderungen in Höhe von 230.679,70 € zur Tabelle angemeldet, hiervon entfielen nach Erlass der Hälfte der SZ noch 1.421,25 € auf SZ. Einen weitergehenden Erlass lehnte der Beklagte unter dem 3. September 2018 unter Hinweis auf die gängige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ab, wonach die SZ auch den Zweck verfolgten, Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern zu sein sowie Verwaltungsaufwand abzugelten. Hiergegen richtete sich der Einspruch vom 12. September 2018. Obwohl ein Erzwingungszweck nicht mehr habe erreicht werden können, habe das Finanzamt versucht, zum Nachteil aller Insolvenzgläubiger und zu Gunsten eines Gläubigers die Schuldnerin zu Zahlungen anzuhalten. Ihr sei abverlangt worden, unter Verstoß gegen § 64 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbHG) Zahlungen zu leisten. Mit Entscheidung vom 4. Oktober 2018 wies der Beklagte den Einspruch unter Hinweis auf die einschlägige höchstrichterliche Rechtsprechung zurück. Die Haftungsnorm des § 64 GmbHG sei zudem nicht berührt, da die zivilrechtliche Haftungsbetrachtung nicht auf die Billigkeitsgründe durchschlage.

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Am 5. Oktober 2018 hat der Kläger Klage erhoben. In formeller Hinsicht begehrt er eine vollständige und "ungefilterte" Vorlage der Akten ab dem Veranlagungszeitraum 2005. Ebenfalls seien möglicherweise vorhandene Betriebsprüfungsakten u.Ä. vorzulegen. In einem parallel gelagerten Fall habe das Finanzamt Hamburg-Am Tierpark u.a. einen Band Bilanz- und Bilanzberichtsakten und die Vollstreckungsakte vorgelegt, während der Beklagte nur eine Umsatzsteuer-Akte nebst einer Akte Allgemeines und Rechtsbehelfs-Akte vorgelegt habe.

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In der Sache macht der Kläger unter Hinweis auf eine Entscheidung des Finanzgerichts (FG) München verfassungsrechtliche Zweifel an der Versagung eines vollständigen Erlasses der SZ geltend. SZ seien jedenfalls potenziell in Abhängigkeit zum Marktzins verfassungswidrig.

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Die Schuldnerin sei zudem bereits seit dem 31. Dezember 2006 offenkundig überschuldet und spätestens seit Oktober 2005 zahlungsunfähig gewesen, weswegen die SZ ihren Zweck verfehlt hätten und nicht mehr vom Beklagten verfolgt werden dürften.

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Der Kläger beantragt,
den ablehnenden Bescheid vom 3. September 2018 und die Einspruchsentscheidung vom 10. Oktober 2018 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die SZ in voller Höhe zu erlassen.

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Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

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Er nimmt auf seine Einspruchsentscheidung Bezug und weist im Übrigen darauf hin, dass nicht den Streitgegenstand betreffende Akten nicht vorgelegt würden.

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Die die Schuldnerin betreffende Umsatzsteuer- und Rechtsbehelfs-Akte, ein Band Allgemeines sowie die Insolvenzakte des Amtsgerichts Hamburg haben vorgelegen.

Entscheidungsgründe

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Der zulässigen Klage bleibt der Erfolg versagt.

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1. Der Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, die SZ in voller Höhe zu erlassen.

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Der Beklagte hat ermessenfehlerfrei nur die Hälfte der verwirkten SZ gem. § 227 AO wegen Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung des Schuldners erlassen. Ein Anspruch auf den weitergehenden Erlass der SZ besteht nicht.

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a) Nach § 227 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, zu denen auch Ansprüche auf SZ gehören (§ 37 Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 3 AO), ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Die Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme ist eine Ermessensentscheidung, die gerichtlich nur in den durch § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gezogenen Grenzen nachprüfbar ist (Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BStBl II 1972, 603). Nach § 102 FGO ist die gerichtliche Prüfung des den Erlass ablehnenden Bescheides und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung darauf beschränkt, ob die Behörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem ihr eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat.

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Ein Erlass von SZ aus sachlichen Billigkeitsgründen ist geboten, wenn ihre Einziehung im Einzelfall, insbesondere mit Rücksicht auf den Zweck der SZ, nicht mehr zu rechtfertigen ist, weil die Erhebung - obwohl der Sachverhalt den gesetzlichen Tatbestand erfüllt - den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderläuft. Nach ständiger Rechtsprechung sind SZ ein Druckmittel eigener Art, das den Steuerschuldner zur rechtzeitigen Zahlung anhalten soll. Darüber hinaus verfolgt § 240 AO den Zweck, vom Steuerpflichtigen eine Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern zu erhalten. Durch SZ werden schließlich auch die Verwaltungsaufwendungen abgegolten, die bei den verwaltenden Körperschaften dadurch entstehen, dass Steuerpflichtige eine fällige Steuer nicht oder nicht fristgemäß zahlen (BFH-Urteile vom 20. März 2006 V R 2/04, BStBl II 2006, 612; vom 9. Juli 2003 V R 57/02, BStBl II 2003, 901, m.w.N.).

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Sachlich unbillig ist die Erhebung von SZ jedoch dann, wenn dem Steuerpflichtigen die rechtzeitige Zahlung der Steuer wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit unmöglich ist und deshalb die Ausübung von Druck zur Zahlung ihren Sinn verliert (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteil vom 9. Juli 2003 V R 57/02, BStBl II 2003, 901, m.w.N.). Weil SZ auch als Gegenleistung für das Hinausschieben der Fälligkeit und zur Abgeltung des Verwaltungsaufwands dienen, kommt regelmäßig nur ein Teilerlass in Betracht, wenn sie ihren Zweck als Druckmittel verfehlen. Sie sind dann nur zur Hälfte zu erlassen, denn ein Säumiger soll grundsätzlich nicht besser stehen als ein Steuerpflichtiger, dem Aussetzung der Vollziehung oder Stundung gewährt wurde (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 21. April 1999 VII B 347/98, BFH/NV 1999, 1440; BFH-Urteil vom 18. Juni 1998 V R 13/98, BFH/NV 1999, 10).

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Allerdings ist auch bei Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung ein weiter gehender Erlass der SZ möglich (z.B. BFH-Urteil vom 16. Juli 1997 XI R 32/96, BStBl II 1998, 7; BFH-Beschluss vom 4. Januar 1996 VII B 209/95, BFH/NV 1996, 526). Insofern bedarf es aber zusätzlicher besonderer Gründe persönlicher oder sachlicher Billigkeit. Zwar kann die Erhebung von SZ unbillig sein, wenn im Zeitpunkt der Fälligkeit in Bezug auf die Hauptforderung ein Erlass oder ein Verzicht auf Stundungszinsen gerechtfertigt gewesen wäre; eine solche Situation kann gegeben sein, wenn durch die Erhebung die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Steuerpflichtigen vernichtet oder ernstlich gefährdet würde (BFH-Urteil vom 7. Juli 1999 X R 87/96, BFH/NV 2000, 161, m.w.N.). Ist aber bereits - wie im Streitfall - Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit eingetreten, greifen diese Gesichtspunkte nicht mehr ein, weil ein Erlass nicht mehr mit einem wirtschaftlichen Vorteil des Steuerpflichtigen verbunden wäre (BFH-Urteil vom 20. März 2006 V R 2/04, BStBl II 2006, 612; BFH-Beschluss vom 21. April 1999 VII B 347/98, BFH/NV 1999, 1440).

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b) Der erkennende Senat folgt dieser Rechtsprechung. Die abweichende Auffassung von Loose (Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 240 AO Rz. 56 Oktober 2019), wonach im Falle von Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung SZ in voller Höhe zu erlassen seien, weil sie ihren alleinigen Zweck als Druckmittel verloren hätten, während der Anfall von Zinsen allein nach §§ 233-239 AO zu beurteilen sei, ist demgegenüber abzulehnen. Insoweit wird übersehen, dass auch im Gesetzgebungsverfahren davon ausgegangen wurde, dass SZ auch "Zinsersatz" sind (BT-Drs. 7/4292, S. 15; s.a. BT-Drs. 7/79, S.17). § 240 Abs. 1 Satz 1 AO sieht ein laufzeitabhängiges Entgelt in Form der SZ dafür vor, dass der Finanzbehörde Geldkapital vorenthalten wurde, der ausdrücklichen Benennung als Zinsen bedarf es insoweit nicht (ebenso Steck, DStZ 2019, 143, 147; ebenfalls Zinscharakter bejahend z.B. Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 240 AO Rz. 13; Koenig in Koenig, § 240 AO Rz. 3 i.V.m. § 233 Rz. 4; Kögel in Gosch, AO/FGO, § 240 AO Rz. 5).

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c) Ein vollständiger Erlass der SZ lässt sich schließlich auch nicht aus möglichen verfassungsrechtlichen Zweifeln an der Höhe der SZ herleiten. Unter Hinweis auf Heuermann (in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 240 AO Rz. 109, 19) hat das FG München (Beschluss vom 13. August 2018 14 V 736/18, EFG 2018, 487, gegenstandslos gem. BFH-Beschluss vom 2. Mai 2019 VII B 155/18; a.A. FG Münster, Beschluss vom 29. Mai 2020 12 V 9901/20 AO, EFG 2020, 1053) zwar entschieden, dass ein vollständiger Erlass der SZ "nahe liege", weil die Anwendung von § 240 AO dann schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Zweifeln unterliege, wenn die SZ wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit zum Teil zu erlassen seien und der verbleibende Zweck der Höhe nach mit einer Verzinsung vergleichbar sei. Dem kann indes nicht gefolgt werden.

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Eine Billigkeitsmaßnahme kann zwar geboten sein, wenn ein Gesetz, das in seinen generalisierenden Wirkungen verfassungsgemäß ist, bei der Steuerfestsetzung im Einzelfall zu Grundrechtsverstößen führt (Bundesverfassungsgericht (BVerfG)-Beschluss vom 28. Februar 2017 1 BvR 1103/15, HFR 2017, 544, Rz. 11, zu § 10a des Gewerbesteuergesetzes (GewStG)), eine für den Steuerpflichtigen ungünstige Rechtsfolge, die der Gesetzgeber bewusst angeordnet oder in Kauf genommen hat, rechtfertigt aber keine Billigkeitsmaßnahme (BFH-Urteile vom 20. September 2012 IV R 29/10, BStBl II 2013, 505, Rz. 21; vom 23. Juli 2013 VIII R 17/10, BStBl II 2013, 820, vom 17. Dezember 2013 VII R 8/12, BFH/NV 2014, 748; BFH-Beschluss vom 11. Juli 2018 XI R 33/16, BStBl II 2019, 258). Billigkeitsmaßnahmen dürfen nicht die einem gesetzlichen Steuertatbestand innewohnende Wertung des Gesetzgebers generell durchbrechen oder korrigieren, sondern nur einem ungewollten Überhang des gesetzlichen Steuertatbestandes abhelfen; Härten, die dem Besteuerungszweck entsprechen und die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung eines Tatbestandes bewusst in Kauf genommen hat, können Billigkeitsmaßnahmen nicht rechtfertigen, sondern sind ggf. durch Korrektur des Gesetzes zu beheben (BVerfG-Beschluss in HFR 2017, 544, Rz. 12, zu § 10a GewStG).

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Hieraus folgt für den Streitfall, dass etwaige verfassungsrechtliche Zweifel an der Höhe der SZ mit Blick auf einen darin enthaltenen Zinsanteil (vgl. zu verfassungsrechtlichen Zweifeln an der Zinshöhe gem. § 238 AO BFH-Beschlüsse vom 25. April 2018 IX B 21/18, BStBl II 2018, 415 und vom 3. September 2018 VIII B 15/18, BFH/NV 2018, 1279) nicht im Erlassverfahren zu verfolgen sind. Denn die möglicherweise verfassungswidrige Höhe der Zinsen würde nicht zu einem Grundrechtsverstoß im Einzelfall führen. Vielmehr ist die gesetzliche Höhe der SZ vom Gesetzgeber bewusst angeordnet worden und wirkt generell für alle Steuerpflichtige, die den Tatbestand des § 240 AO erfüllen. Verfassungsrechtliche Zweifel müssten deshalb im Festsetzungsverfahren verfolgt werden, ggfs. durch eine Richtervorlage an das BVerfG gem. Art. 100 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht. Da die SZ kraft Gesetzes entstehen, bedürfte es insoweit zunächst des Erlasses eines Abrechnungsbescheides oder eines Feststellungsbescheides gem. § 251 Abs. 3 AO.

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2. Die Beiziehung weiterer Akten, insbesondere der Vollstreckungsakten, war nicht geboten. Nach § 71 Abs. 2 FGO hat die Finanzbehörde die den Streitfall betreffenden Akten an das Gericht zu übermitteln. Der Beklagte hat die die Schuldnerin betreffende Akte Allgemeines, die Umsatzsteuerakte sowie die Rechtsbehelfsakte vorgelegt. Der weitergehenden Aktenvorlage bedurfte es nicht, weil sie weder unmittelbar noch mittelbar für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage erheblich sind. Im Streit steht der über den hälftigen Erlass der SZ hinausgehende vollständige Erlass. Hierbei handelt es sich vornehmlich um eine Rechtsfrage, wie der Charakter der SZ einzuordnen ist, ob er ausschließlich als Druckmittel anzusehen ist (so Loose in Tipke/Kruse a.a.O.) oder ob sie daneben auch Gegenleistung für die Überlassung der geschuldeten Mittel sind und überdies Verwaltungsaufwand entgelten. Hierfür bedarf es nicht der Einsicht in die vom Kläger begehrten Akten. Die tatsächliche Frage, ob und ab wann die Schuldnerin zahlungsunfähig und überschuldet war, bedarf ebenfalls keiner weiteren Sachaufklärung an Hand von bislang nicht vorgelegter Akten, sondern steht bereits fest, da der Beklagte gerade mit Rücksicht auf die Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung die Hälfte der SZ erlassen hat.

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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 FGO liegen nicht vor.

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