Urteil vom Finanzgericht Hamburg (2. Senat) - 2 K 11/18

Tatbestand

1

Streitig ist die Feststellung von zur Tabelle angemeldeten Säumniszuschlägen.

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Der Kläger wurde am ... 2016 zum Insolvenzverwalter über das Vermögen von A bestellt.

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Unter dem 2. Juni 2016 meldete der Beklagte Abgabenforderungen (vornehmlich Lohnsteuer IV. Quartal 2015 und I. Quartal 2016, Einkommensteuer I. Quartal 2016, Umsatzsteuer 2012 bis 2014 sowie I. bis IV. Quartal 2015) zunächst in Höhe von 30.278,96 € gem. § 174 Abs. 1 der Insolvenzordnung (InsO) zur Tabelle an, darin enthalten waren Säumniszuschläge in Höhe von 1.152,50 € für den Zeitraum März 2015 bis April 2016. Als Anlagen beigefügt waren eine Forderungsaufstellung, Lohnsteuer-Überwachungsbögen für 2015 und 2016, der Einkommensteuerbescheid 2012 mit Festsetzung der Vorauszahlung I. Quartal 2016, Umsatzsteuerbescheide 2012 bis 2014 sowie der Umsatzsteuer-Überwachungsbogen 2015.

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Am 16. Juni 2016 wurde die Forderungsanmeldung um 2.061,42 € gemindert aufgrund der Aufrechnung des Guthabens aus der Einkommensteuerfestsetzung 2015 mit Lohnsteuer für das IV. Quartal 2015 und das I. Quartal 2016. Dieser Minderung war eine überarbeitete Forderungsaufstellung über 28.217,54 € und die Berechnung der Einkommensteuer für 2015 zur Begründung beigefügt. Eine zweite Forderungsanmeldung über 1.237,50 € erfolgte mit Schreiben vom 21. Juni 2016. Gegenstand dieser Anmeldung war die Umsatzsteuerabschlusszahlung für 2015 unter Berücksichtigung der bereits zur Tabelle angemeldeten Beträge für das I. bis IV. Quartal Umsatzsteuer 2015, deren Berechnung als Anlage beigefügt war.

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Nachdem die Einkommensteuervorauszahlung für das I. Quartal 2016 auf 0,- € herabgesetzt worden war, minderte der Beklagte seine Forderungsanmeldung nochmals am 17. Juli 2017 um 873,54 € auf 27.344,00 € und am 7. September 2017 auf 26.767,50 €. Zusammen mit der Nachmeldung von 1.237,50 € waren am 16. Oktober 2017 Forderungen von 28.005,00 € zur Tabelle angemeldet.

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Im Prüfungstermin vom 22. Juli 2016 hatte der Kläger zunächst die Forderungen bestritten, weil nicht zu erkennen sei, welche Tilgungen durch wen bzw. wann erfolgt seien. Es sei auch nicht erkennbar, ob die Tilgung durch Zahlungen des Schuldners oder Dritter bzw. durch Verrechnungen oder sonstige Vorgänge herbeigeführt worden seien. Insoweit wurde um die Übersendung eines Kontoauszuges für das Steuerkonto gebeten; letzteres lehnte der Beklagte ab. Ferner bat der Kläger um Überprüfung, inwieweit angesichts der offensichtlichen Zahlungsunfähigkeit des Schuldners Säumniszuschläge zu verhängen oder jedenfalls im Insolvenzverfahren nicht mehr geltend zu machen seien. Vorsorglich beantragte der Kläger den Erlass der Säumniszuschläge, sofern ein derartiger Antrag erforderlich sei.

7

Nachdem der Beklagte seine Forderungen und deren Reduzierungen nochmals mit Schreiben vom 7. September 2017 (Anl. K 7) erläutert und die Säumniszuschläge um die Hälfte erlassen hatte, stellte er mit Feststellungsbescheid gem. § 251 Abs. 3 der Abgabenordnung (AO) vom 13. November 2017 Insolvenzforderungen in Höhe von 28.005,00 € fest. Der hiergegen gerichtete Einspruch blieb erfolglos. Gegen die Einspruchsentscheidung vom 21. Dezember 2017 hat der Kläger am 22. Januar 2018 Klage erhoben.

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Der Kläger ist der Auffassung, dass die Säumniszuschläge in voller Höhe zu erlassen seien. Anders als unter Geltung der Konkursordnung bestehe die von der Rechtsprechung anerkannte Erlassmöglichkeit schon dann, wenn nach der Insolvenzordnung Zahlungsunfähigkeit nur drohe. Im Übrigen sei auch der Rechtsgedanke von § 156 Abs. 2 AO heranzuziehen. Wenn die Festsetzung einer Steuer und steuerlicher Nebenleistungen unterbleiben könne, wenn die Erhebung keinen Erfolg haben werde, müsse dies auch für Säumniszuschläge gelten, und zwar bereits wegen voraussichtlicher Erfolglosigkeit bei drohender Zahlungsunfähigkeit.

9

Im Übrigen dienten Säumniszuschläge ausschließlich einem Erzwingungszweck, sie könnten folglich nicht zu einem Teil unbillig und zum anderen billig sein. Säumniszuschläge seien insoweit kein Zinsersatz. Wenn sie jedoch als Druckmittel erfolglos blieben und dann als Zinsersatz fungierten, müsste auch die Frage nach der angemessenen Zinshöhe gestellt werden.

10

Den Einwand, dass der Beklagte nicht hinreichend dargetan habe, in welcher Form Tilgungen, sei es durch Erstattungen des Beklagten oder Verrechnungen, erfolgt seien, hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung fallen gelassen.

11

Der Kläger beantragt,
den Feststellungsbescheid nach § 251 Abs. 3 AO vom 13. November 2017 und die Einspruchsentscheidung vom 21. Dezember 2017 insoweit zu ändern, als keine Säumniszuschläge festgestellt werden.

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Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

13

Der Kläger verlange zu Unrecht den vollständigen Erlass der Säumniszuschläge. Da Säumniszuschläge ein Druckmittel eigener Art seien, fällige Steuern durchzusetzen, verlören sie ihren Sinn nur, wenn der Steuerpflichtige seinen Verpflichtungen wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit nicht nachkommen könne. Dies gelte auch nach Inkrafttreten der Insolvenzordnung. Darüber hinaus verfolgten Säumniszuschläge auch den Zweck, Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern und damit verbundener Verwaltungsaufwendungen zu sein. Dies rechtfertige im Regelfall und auch im Streitfall, die Säumniszuschläge nur um die Hälfte zu reduzieren.

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§ 156 AO komme unter keinem möglichen Gesichtspunkt zu Anwendung. Zum einen diene die Vorschrift der Verwaltungsvereinfachung und gewähre keinen Anspruch des Steuerpflichtigen auf dessen Anwendung. Zum anderen handele es sich um eine Norm des Festsetzungsverfahrens, während es im Streitfall um die Erhebung der Steuer gehe. Darüber hinaus entstünden die Säumniszuschläge kraft Gesetzes, sodass die Anwendung von § 156 AO ohnehin ausgeschlossen sei.

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Verfassungsrechtliche Zweifel hinsichtlich der Höhe der Säumniszuschläge bestünden nicht. Die Säumniszuschläge seien ein Mittel, um den Steuerpflichtigen zur pünktlichen Zahlung anzuhalten. Ein ihnen innewohnender Zinseffekt stelle allenfalls einen Nebeneffekt dar. Die im Zusammenhang mit der Zinshöhe nach § 238 AO aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Zweifel stellten sich folglich bei den Säumniszuschlägen nicht.

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Schließlich erfasse die Finanzverwaltung auch nicht einen etwaigen Verwaltungsaufwand im Zusammenhang mit der verspäteten Zahlung und Geltendmachung von Säumniszuschlägen.

...

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage hat keinen Erfolg.

18

I. Der angegriffene Feststellungsbescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Beklagte hat die Säumniszuschläge zu Recht noch in hälftiger Höhe festgestellt.

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1.) Die Voraussetzungen für den Erlass eines Feststellungsbescheides gem. § 185 Satz 1 InsO i. V. m. § 251 Abs. 3 AO sind erfüllt. Danach stellt die Finanzbehörde erforderlichenfalls die Insolvenzforderung durch schriftlichen Verwaltungsakt fest, wenn sie im Insolvenzverfahren einen Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis als Insolvenzforderung geltend macht und für die Feststellung der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten nicht gegeben ist. Ist eine Forderung vom Insolvenzverwalter oder einem Insolvenzgläubiger bestritten, bleibt es dem Gläubiger nach § 179 Abs. 1 InsO überlassen, die Feststellung gegen den Bestreitenden zu betreiben. Auch in den Fällen, in denen bei Insolvenzeröffnung eine bestandskräftige Steuerfestsetzung und damit ein vollstreckbarer Schuldtitel vorliegt, ist das Finanzamt im Falle des Bestreitens der Forderung durch den Insolvenzverwalter berechtigt, das Bestehen der angemeldeten Forderung durch Bescheid festzustellen (Bundesfinanzhof (BFH)-Urteil vom 23. Februar 2010, VII R 48/07, BStBl II 2010, 562). Gegenstand des Feststellungsverfahrens kann nur eine Forderung sein, die gemäß § 174 InsO angemeldet und nach § 176 InsO erörtert worden ist.

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Der Kläger hat die angemeldeten Forderungen des Beklagten im Prüfungstermin am 22. Juli 2016 bestritten, sodass der Erlass eines Feststellungsbescheids nach § 251 Abs. 3 AO geboten war.

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2.) Die Feststellung der nach dem hälftigen Erlass noch verbliebenen Säumniszuschläge ist rechtmäßig.

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a) Die Frage, ob die Säumniszuschläge in voller Höhe zu erlassen sind, stellt sich in diesem Verfahren nicht. Sie wäre einem gesonderten Streitverfahren über eine Billigkeitsmaßnahme gem. § 227 AO vorbehalten (vgl. dazu Senatsurteil vom 30. Juli 2020, 2 K 192/18, n.v.); das Billigkeitsverfahren und das Abrechnungsverfahren nach § 128 AO bzw. im Streitfall das Feststellungsverfahren nach § 251 Abs. 3 AO stehen selbständig nebeneinander (BFH-Urteil vom 10. März 2016, III R 2/[15], BStBl II 2016, 508 m.w.N.).

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b) Gem. § 240 AO entstehen Säumniszuschläge kraft Gesetzes, sofern die Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages entrichtet wird. Säumniszuschläge fallen nach dem Gesetz unabhängig davon an, ob eine Steuer zutreffend festgesetzt wird. Sie bleiben gemäß § 240 Abs. 1 Satz 4 AO von einer Korrektur der Steuerfestsetzung unberührt (BFH-Urteil vom 18. September 2018, XI R 36/16, BStBl II 2019, 87).

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Da der Schuldner die ausweislich der Forderungsaufstellung entstandenen Steuern nicht zum Fälligkeitszeitpunkt entrichtet hatte, waren die der Berechnung nach nicht streitigen und nach dem Teilerlass verbliebenen Säumniszuschläge zur Tabelle anzumelden bzw. als Insolvenzforderung festzustellen.

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Ein Verzicht auf die Anmeldung bzw. die Feststellung als Insolvenzforderung lässt sich nicht aus §156 Abs. 2 AO herleiten. Nach dieser Vorschrift kann die Festsetzung einer Steuer u.a. unterbleiben, wenn zu erwarten ist, dass die Erhebung keinen Erfolg haben wird. Abgesehen davon, dass es sich hierbei um eine verwaltungsinterne Einzelfallmaßnahme handelt, die keinen Rechtsanspruch gegen die Finanzbehörde einräumt (vgl. Seer in Tipke/Kruse, AO-FGO, § 156 AO Rz. 22 m.w.N.) betrifft sie die Festsetzung von Steuern. Im Streitfall geht es dagegen um Säumniszuschläge, die kraft Gesetzes entstehen.

26

c) Der Feststellung der Säumniszuschläge stehen auch keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Zweifel an ihrer Höhe entgegen. Das Verfahren ist daher nicht nach § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auszusetzen und das Bundesverfassungsgericht gem. Art. 100 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) i. V. m. § 80 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht anzurufen.

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aa) Säumniszuschläge betragen für jeden angefangenen Monat der Säumnis 1 % des abgerundeten rückständigen Steuerbetrages. Sie sind nicht mit Verzugszinsen des Bürgerlichen Gesetzbuches gleichzusetzen, sondern ein Druckmittel eigener Art, das den Steuerpflichtigen zur rechtzeitigen Zahlung anhalten soll, sie haben also eine Druckfunktion (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 9. Juli 2003, V R 57/02, BStBl II 2003, 901, und vom 13. Januar 2000, VII R 91/98, BStBl II 2000, 246). Sie dienen nach allgemeiner Ansicht außerdem dem Ausgleich für die unterbliebene oder verspätete Zahlung fälliger Steuern und für Verwaltungsaufwendungen, die bei den verwaltenden Körperschaften dadurch entstehen, dass eine fällige Steuer nicht oder nicht fristgemäß gezahlt wird. Sie haben somit auch eine Ausgleichsfunktion. In dieser zweiten Funktion sollen Säumniszuschläge den Aussetzungs- (§§ 237, 238 AO) oder Stundungszinsen (§ 234 AO) entsprechen, die unabhängig von einem Verschulden des Steuerschuldners anfallen (vgl. BFH-Beschluss vom 2. März 2017, II B 33/16, BStBl II 2017, 646; BFH-Urteile vom 30. März 2006, V R 2/04, BStBl II 2006, 612 und vom 18. April 1996, V R 55/95, BStBl II 1996, 561; a.A. Loose in Tipke/Kruse, AO-FGO, § 240 AO Rz. 4 ff., der annimmt, dass Säumniszuschläge ausschließlich Druckmittel seien).

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bb) Die Erhebung von Säumniszuschlägen wird grundsätzlich als verfassungsgemäß angesehen (BFH-Urteil vom 17. Januar 19[64], I 256/59 U, BStBl III 1964, 371; BVerfG-Beschluss vom 30. Januar 1986, 2 BvR 1336/85, n.v.; BVerwG-Beschluss vom 2. Mai 1995, 8 B 50/95, KKZ 1997, 57; Finanzgericht (FG) Münster, Beschluss vom 29. Mai 2020, 12 V 901/20 AO, EFG 2020, 1053; FG München, Beschluss vom 13. August 2018, 14 V 736/18, EFG 2018, 1608). Allerdings liegt nach überwiegender Auffassung ein Verstoß gegen das Übermaßverbot vor, wenn der Schuldner zahlungsunfähig und überschuldet ist und deshalb die Ausübung von Druck zur Zahlung ihren Sinn verliert (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 30. März 2006, V R 2/04, BStBl II 2006, 612 m.w.N.). Dem wird nach ständiger Rechtsprechung dadurch Rechnung getragen, dass die Hälfte der Säumniszuschläge zu erlassen ist (z.B. BFH-Urteile vom 30. März 2006, V R 2/04, BStBl II 2006, 612, vom 21. April 1999, VII B 347/98, BFH/NV 1999, 1440), während der verbleibende Teil als Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuerschulden und der Abgeltung von Verwaltungsaufwand dienen soll (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteil vom 16. November 2004, VII R 8/04, BFH/NV 2005, 495 m.w.N.).

29

Auch im Übrigen werden verfassungsrechtliche Zweifel von der Rechtsprechung nur im Zusammenhang mit dem Erlass von Säumniszuschlägen geäußert. Das FG München (Beschluss vom 13. August 2018, 14 V 736/18, EFG 2018, 1608, gegenstandslos gem. BFH-Beschluss vom 2. Mai 2019, VII B 155/18, n.v.) geht - jedenfalls im summarischen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes - unter Berufung auf Heuermann (in H/H/Sp, AO-FGO, § 240 AO Rz.19) davon aus, dass bei Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung der nach einem hälftigen Erlass verbleibende Teil Zinscharakter erlange und dann den selben verfassungsrechtlichen Zweifeln unterliege, die gegen die Zinsen nach § 238 AO geltend gemacht würden. Deshalb seien die Säumniszuschläge in diesen Fällen in voller Höhe zu erlassen. Dieser "Zweckabstufung", in Normalzeiten "Druckmittelfunktion" und in Zeiten der Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit auch "Zinsfunktion", wird zu Recht widersprochen (vgl. Steck, DStZ 2019, 143, 150). Denn Säumniszuschläge können nicht abhängig von der wirtschaftlichen Lage des Steuerpflichtigen der Höhe nach verfassungswidrig sein oder eben nicht. Insoweit hält Heuermann (a.a.O.) einen Erlass auch vorwiegend nur in den Fällen für geboten, in denen Säumniszuschläge (ausnahmsweise) mit Nachzahlungs- oder Stundungszinsen zusammentreffen.

30

cc) Im Streitfall steht aber nicht eine Billigkeitsmaßnahme in Rede, sondern allein die Frage, ob die kraft Gesetzes verwirkten Säumniszuschläge hinsichtlich eines möglichen Zinsanteils ganz oder zum Teil gegen Verfassungsrecht verstoßen und deshalb nicht zur Tabelle angemeldet werden dürfen. Ob und in welcher Höhe Säumniszuschläge einen Zinsanteil enthalten, ist aber umstritten.

31

Die Gesetzesmaterialien lassen insoweit keinen verlässlichen Schluss auf ihren rechtlichen Charakter zu. Ausweislich des Gesetzesentwurfs zur AO 1977 (BT-Drs. 7/79, § 2 Abs. 4 des Entwurfs, S.17) sollten die Säumniszuschläge ebenso wie die Steuern selbst den steuerberechtigten Körperschaften zufließen; der Finanzausschuss unterstützte dies mit dem Argument, die Säumniszuschläge seien in erster Linie "Zinsersatz" (BT-Drs. 7/4292 zu § 3, S. 15). Demgegenüber forderte der Bundesrat, die Säumniszuschläge - wie schon nach der bisherigen Rechtslage - den verwaltenden Körperschaften zufließen zu lassen, weil mit ihnen zu einem erheblichen Teil Verwaltungsaufwendungen abgegolten würden. Die Säumniszuschläge hätten auch künftig keinen zinsähnlichen Charakter, wie sich insbesondere aus dem relativ hohen Prozentsatz (im Vergleich zu § 238 AO) und den Einzelheiten der Berechnungsweise (Behandlung angefangener Monate sowie späterer Solländerungen) ergebe (BT-Drs. 7/4495). Diese Forderung des Bundesrates wurde Gesetz. Die unterschiedlichen Auffassungen dürften ihre Ursache aber vornehmlich in kontroversen taktischen und fiskalischen Erwägungen von Bundestag und Bundesrat haben (ebenso Steck, DStZ 2019, 143, 149).

32

dd) Aber selbst wenn mit der überwiegenden Auffassung angenommen wird, dass die Säumniszuschläge nicht in toto Druckmittel sind, sondern ihnen auch ein "Zinsersatz" innewohnt oder sie auch eine "Zinsfunktion" haben, ist der erkennende Senat nicht davon überzeugt, dass die Höhe der Säumniszuschläge verfassungswidrig ist mit Blick auf die gegen die Zinshöhe in § 238 AO erhobenen verfassungsrechtlichen Zweifel.

33

Seit geraumer Zeit mehren sich verfassungsrechtliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des typisierenden Zinssatzes (z.B. Ortheil, BB 2012, 1513; Hey, FR 2016, 485; Seer, DB 2014, 1945; Seer/Klemke, ifst 490 (2013), 38 ff., Jonas, DB 2016, 3000). Die bisherige Rechtsprechung ist kontrovers. Der BFH hatte 2011 für Verzinsungszeiträume 1998 bis 2005 eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur Anpassung des AO-Zinssatzes an die Zinsentwicklung am Kapitalmarkt verneint (Urteil vom 20. April 2011, I R 80/10, BFH/NV 2011, 1654 unter Bezugnahme auf einen Nichtannahmebeschluss des BVerfG vom 3. September 2009, 1 BvR 25/07, BFH/NV 2009, 2115, betreffend 2001 bis 2006). Für die Folgejahre fehlt es bislang an einer höchstgerichtlichen Klärung. Zwei Verfassungsbeschwerden (1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17) betreffen die Frage, ob der Zinssatz gem. § 238 Abs. 1 AO für Verzinsungsräume ab 2009 bzw. ab 2012 gleichheitswidrig ist. Für Verzinsungszeiträume bis 2011 hatte der BFH ebenfalls die Verfassungswidrigkeit verneint (BFH-Urteile vom 1. Juli 2014, IX R 31/13, BStBl II 2014, 925; vom 14. April 2015, IX R 5/14, BStBl II 2015, 986), in einer weiteren Entscheidung des III. Senats auch für das Jahr 2013 (BFH-Urteil vom 9. November 2017, III R 10/16, BStBl II 2018, 255). Kurz darauf haben der IX. Senat und ihm folgend der VIII. Senat Aussetzung der Vollziehung gewährt wegen "schwerwiegender verfassungsrechtlicher Zweifel", ob die Zinshöhe von 6 % ab dem Veranlagungszeitraum 2015 bzw. 2012 mit dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz vereinbar sei (BFH-Beschlüsse vom 25. April 2018, IX B 21/18, BStBl II 2018, 415 und vom 3. September 2018, VIII B 15/18, BFH/NV 2018, 1279 zu Nachzahlungszinsen). Der gesetzlich festgelegte Zinssatz gem. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO überschreite für den Zeitraum ab 2015 (bzw. 2012) angesichts der zu dieser Zeit bereits eingetretenen strukturellen und nachhaltigen Verfestigung des niedrigen Marktzinsniveaus den angemessenen Rahmen der wirtschaftlichen Realität in erheblichem Maße. Das Niedrigzinsniveau stelle sich jedenfalls für den Streitzeitraum nicht mehr als vorübergehende, volkswirtschaftstypische Erscheinung verbunden mit den typischen zyklischen Zinsschwankungen dar, sondern sei struktureller und nachhaltiger Natur. Für die Höhe des Zinssatzes in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO fehle es überhaupt an einer nachvollziehbaren Begründung (ebenso Seer/Klemke, ifst 490 (2013), 43, 45).

34

Diese Überlegungen lassen sich jedoch nicht ohne weiteres auf Säumniszuschläge übertragen. Anders als der typisierte Zinssatz von 6% p.a. (§ 238 AO) betragen die Säumniszuschläge gem. § 240 AO 12% p.a. Dieser Prozentsatz bezieht sich - jedenfalls nach herrschender Meinung - auf eine Mischung aus Druckmittel, Abgeltung von Verwaltungsaufwand und auch auf einen "Zinsanteil". Für die Annahme eines verfassungswidrigen überhöhten und nicht mehr realitätsgerecht typisierenden Zinsanteils bedürfte es der Festlegung auf einen bestimmten prozentualen "Zinsanteil" als Maßstab.

35

Die Rechtsprechung weist dem Druckmittelcharakter der Säumniszuschläge einen Anteil von 50% zu, dies allerdings - wie vorstehend dargestellt - im Rahmen der Ermessensentscheidung über einen Billigkeitserlass von Säumniszuschlägen bei Zahlungsunfähigkeit; der verbleibende Teil soll ohne nähere Differenzierung auf die Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuerschulden und die Abgeltung von Verwaltungsaufwand entfallen (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteil vom 16. November 2004, VII R 8/04, BFH/NV 2005, 495 m.w.N.). Folgt man dieser Aufteilung, bleibt zum einen ungewiss, ob und wie eine weitere Aufteilung hinsichtlich der "restlichen" 50%, die nicht Druckmittel sein sollen, auf Verwaltungsaufwand und auf Zinsersatz erfolgen könnte. Auch wenn die Finanzverwaltung den Verwaltungsaufwand bei der Verwirkung von Säumniszuschlägen ersichtlich nicht statistisch erfasst und sich dieser auch seit Inkrafttreten der Regelung durch eine zunehmende elektronische Datenerfassung minimiert haben dürfte, ist nicht ausgeschlossen, dass rechnerisch erfassbar Verwaltungsaufwand entsteht und damit Einfluss auf die Höhe des Zinsanteils nehmen könnte. Zum anderen kann aus der Aufteilung der Säumniszuschläge im Rahmen der eigenen rechtlichen Grundsätzen folgenden Gewährung einer Billigkeitsmaßnahme nicht generell ein fester - typisierter - Zinsanteil von 6% hergeleitet werden.

36

Auch im Schrifttum wird angenommen, die Hälfte der Säumniszuschläge entfalle auf den Zinsanteil und würde damit dem Zinssatz von 6 % gem. § 238 AO entsprechen (so Steck, DStZ 2019, 143). Steck beruft sich auf eine systematische Auslegung der gesetzlichen Höhe der Säumniszuschläge von 1 % je Monat: weil die Höhe der nach der AO geforderten Zinsen, also auch der Zinsanteil in den Säumniszuschlägen nach § 238 Abs. 1 Satz 1 AO 0,5 % für jeden Monat betrage, müsse der überschießende Betrag in den Säumniszuschlägen eine andere Funktion, nämlich die des Druckmittels haben. Dies erscheint jedoch beliebig. Es ist gerade ungeklärt, inwieweit ein Zinsersatz in den Säumniszuschlägen enthalten ist; deswegen kann nicht ohne weiteres der Zinssatz in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO zugrunde gelegt werden. Es handelt sich vielmehr - wie vorstehend dargestellt - um unterschiedliche Regelungen. Wenn tatsächlich der gesetzliche AO-Zinssatz im Falle der Säumnis hätte anfallen sollen, hätte es eher nahegelegen, im Rahmen der Einführung der Vollverzinsung auch einen "Verzugszins" in Höhe von 6 % zu regeln und die Säumniszuschläge als pures Druckmittel in der Höhe zu reduzieren.

37

Ein "Zinsanteil" von exakt 6% kann auch nicht daraus hergeleitet werden, dass im Falle der Hinterziehung von Steuern Hinterziehungszinsen nach § 235 Abs. 3 Satz 2 AO nicht für Zeiträume festgesetzt werden, für die ein Säumniszuschlag verwirkt wurde. Denn dies besagt nur, dass keine doppelte Belastung einerseits mit (Hinterziehungs-)Zinsen und andererseits mit Säumniszuschlägen erfolgen soll (Belastungskumulation) und setzt nicht voraus, dass sich ein Anteil an den Säumniszuschlägen der Höhe nach exakt mit den Hinterziehungszinsen deckt. Gleiches gilt für die Gesetzesanordnung, dass festgesetzte Steuern bei Fälligkeit zu zahlen sind und bei nicht rechtzeitiger Zahlung entweder Stundungszinsen (§ 234 Abs. 1 AO), Aussetzungszinsen (§ 237 AO) oder Säumniszuschläge anfallen (vgl. dazu Heuermann in H/H/Sp, AO-FGO, § 240 AO Rz. 13). Denn insoweit können Säumniszuschläge, die gewissermaßen durch "eigenmächtiges" Verhalten ausgelöst werden, anderen Regel folgen. Dass sie auch im Übrigen anderen Regeln folgen, zeigt sich daran, dass es an der Akzessorietät zur Hauptschuld fehlt (§ 240 Abs. 1 Satz 4 AO) und Säumniszuschläge bereits für jeden angefangenen Monat berechnet werden, während Zinsen nur für volle Monate anfallen (§ 238 Abs. 1 Satz 2 AO). Darüber hinaus sind die Säumniszuschläge als eigenständiger Tatbestand und Abschnitt und gerade nicht als Zinstatbestand im Abschnitt Zinsen geregelt. Lässt sich danach ein "fester" und damit typisierter Zinssatz der Regelung in § 240 AO nicht verlässlich entnehmen, sondern deckt die Vorschrift nur neben ihren weiteren Zwecken "Druckmittel" und Abgeltung von Verwaltungsaufwand auch ein Entgelt als Gegenleistung für die Kapitalüberlassung ab, ist dieser Anteil eher diffus im Rahmen der Gesamtkonzeption der Säumniszuschläge. Damit fehlt es aber an einer festen Größe des "Zinssatzes", die am Maßstab des - in seinen Einzelheiten höchst umstrittenen - Marktzinses auf ihre Angemessenheit hin überprüft werden könnte.

38

ee) Vor diesem Hintergrund stellt sich die Verfassungsfrage erst dann, wenn die Säumniszuschläge insgesamt gegen das Übermaßverbot verstoßen würden. Angesichts der Höhe sonstiger Druckmittel in der AO, wie beispielsweise dem Steuerzuschlag gem. § 162 Abs. 4 AO, bestehen derzeit aber keine durchgreifenden Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Säumniszuschläge von 12 % p.a. (ebenso FG Münster Beschluss vom 29. Mai 2020, 12 V 901/20 AO, EFG 2020, 1053; Heuermann in H/H/Sp, AO-FGO, § 240 AO Rz.19 m.w.N.; Loose in Tipke/Kruse, AO-FGO, § 240 AO Rz. 4).

39

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Revision wird gem. § 115 Abs. 2 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.

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